Redner(in): Roman Herzog
Datum: 13. März 1997
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1997/03/19970313_Rede.html
Der 47. Hochschulverbandstag will sich mit der Thematik "von der Wende zum Wandel" befassen.
Was ist daran so faszinierend? Alles. Der Kalte Krieg ist Geschichte geworden. Aber die Zeit des Kampfes um Ideologien schien zwar zunächst vorbei zu sein, doch standen sofort schon neue Propheten da und sprachen von einem Kampf der Kulturen oder "clash of civilizations".
Das Wesensmerkmal der Kultur ist jedoch stets gewesen, Grenzen zu überschreiten, Trennendes aufzulösen und Verbindungen zu schaffen. Statt von einem Kampf der Kulturen zu sprechen, sollten wir uns also auf einen weltweiten interkulturellen Dialog einrichten. Er ist die beste vertrauensbildende Maßnahme, die es gibt. Das gilt in besonderer Weise für das wiedervereinigte Deutschland, das im Herzen Europas liegt und damit zwangsläufig eine Brückenfunktion innehat.
Eigentlich war das - abgesehen von den Verirrungen des übersteigerten Nationalismus - in unserer Geschichte nie wesentlich anders. Aufgrund unserer geographischen Lage war unser Blick stets auf die Nachbarn, stets über die Grenze gerichtet. Sogar unter uns Deutschen selbst gibt es immer noch eine Vielfalt der Stämme, die es sich zwar nicht immer leicht machen, die im Ergebnis aber fraglos voneinander profitieren.
Es gibt keinen besseren Weg zu gegenseitigem Vertrauen als den, der über die Kultur führt. Das beweist gerade der Zusammenbruch des Kommunismus in den Staaten des östlichen Mitteleuropa. Neben dem Scheitern von Mißwirtschaft und totalitärem Zwang und dem Wunsch, das Schicksal endlich in die eigene Hand zu nehmen, war es letztlich doch das gemeinsame, jahrhundertealte Erbe, die gemeinsame europäische Kultur, die sich als stärker erwiesen hat als die politische Ideologie.
Heute nehmen die Länder des östlichen Mitteleuropa wieder am kulturellen und wissenschaftlichen Dialog Europas teil und suchen auch das Gespräch mit Deutschland. Diese Tagung ist ein sinnfälliger Teil dieses Dialogs.
Dabei kann gewiß auch die Erfahrung helfen, die wir in den vergangenen Jahren im eigenen Land gemacht haben. Wir wissen, daß bislang noch nicht in allen Lebensbereichen ein geistiges Zusammenwachsen geglückt ist. Aber wenn man auch vieles hätte besser machen können und vielleicht manche Chance nicht wahrgenommen hat: zu den erfolgreichen Feldern der Einheit gehören für mich Universitäten und Wissenschaft. Ich verkenne nicht, daß noch manche unerfüllte Erwartung der Wissenschaftler in den neuen Bundesländern bitter schmerzt. Daß wir aber dem Ziel einer homogenen Hochschullandschaft recht nahe gekommen sind, das ist zweifelsfrei, und es ist auch ein wesentliches Verdienst des Deutschen Hochschulverbandes. Hier ist schon frühzeitig und ohne Drang zur Öffentlichkeit, dafür aber mit großer Behutsamkeit, hervorragende Arbeit geleistet worden.
Das Vertrauen, das uns im Ausland, gerade auch im östlichen Mitteleuropa, entgegengebracht wird, beruht oft noch auf alten kulturellen Verbindungen. Sie müssen aber erneuert und vertieft werden. Hier liegt ein ungeheueres Potential für ganz Europa, und zwar in beiden Richtungen.
Die Kultur- und Wissenschaftsorganisationen, die in Osteuropa arbeiten, berichten von einem überwältigenden Interesse an deutscher Sprache und deutscher Literatur, an Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Der weitaus größte Teil der Deutsch Lernenden in aller Welt lebt in Osteuropa. Seltsamerweise findet das noch keinen entsprechenden Niederschlag in dem Umfang der Mittel, die dort für Kulturarbeit eingesetzt werden.
Wissenschaft ist ihrer Natur nach grenzüberschreitend und schon deshalb ein wesentlicher Teil des Kulturdialogs. Nicht selten fällt ihr sogar die Vorreiterrolle zu. Das Gespräch mit Fachkollegen, der Austausch auf wissenschaftlichen Symposien und die Betreuung von Gastwissenschaftlern, insbesondere von Nachwuchswissenschaftlern, gehört hierzu. So ist es mir eine besondere Freude, daß von dieser Tagung konkrete Taten ausgehen. Herr Schiedermair hat schon darauf hingewiesen. Durch eine Gemeinschaftsaktion hochherziger Stifter ist es möglich geworden, heute eine nennenswerte Zahl von Stipendien für Nachwuchswissenschaftler aus den Ländern des östlichen Mitteleuropa auszuloben. Ich danke den Stiftern und Förderorganisationen, die das in so kurzer Zeit möglich gemacht haben. Das Auswahlverfahren weiß ich bei der Alexander von Humboldt-Stiftung in den besten Händen.
Dem Deutschen Hochschulverband, der die Initiative zu diesem Programm ergriffen und sich dem mühsamen Geschäft der Mitteleinwerbung unterzogen hat, danke ich von Herzen. Schon heute wünsche ich allen Stipendiaten gutes Gelingen bei ihrer Arbeit, aber auch Chance und Offenheit für gegenseitiges Kennenlernen und - so hoffe ich - für einige dauerhafte Freundschaften.
Die besten Förderprogramme würden sich ihre Wirkung nehmen, wenn die deutsche Universität nicht zur zukunftsgerichteten konkreten Reform fände. Der Hochschulverband hat der naheliegenden Versuchung widerstanden, sich auf seiner Jahrestagung nur mit den Schlagwörtern der Hochschulreformdebatte ' Effizienz, Deregulierung und Management ' zu beschäftigen. Es ist gut, in diesen Zeiten deutlich zu machen, daß es auch andere Fragen gibt, die man vor lauter Konzentration auf interne Probleme nicht vergessen darf. Dennoch sind wir alle von den Schwierigkeiten in der Hochschullandschaft betroffen. Für mich steht fest: Es muß sich vieles ändern und wir müssen diese Aufgabe nun endlich auch angehen.
Wir werden auf absehbare Zeit nur über begrenzte Finanzen verfügen und müssen damit neue Ausgabenschwerpunkte setzen. Für ein Land, das Innovation braucht wie das tägliche Brot, muß Forschung und Wissenschaft dabei ein Schwerpunkt sein. Wenn das so ist, dann müssen wir aber auch die Voraussetzungen für einen sinnvollen Mitteleinsatz schaffen. Ich frage mich beispielsweise immer noch:
1. Soll wirklich in Zukunft jeder Abiturient überall jedes Fach studieren können? Oder sollen die Hochschulen nicht Auswahlrechte haben und dabei besondere Profile bilden können, die Konkurrenz und Wettbewerb stärken und Studenten und Professoren dort binden, wo sie am effektivsten arbeiten können?
2. Soll die Studiendauer wirklich ins Belieben der Studenten gestellt sein? Müssen wir nicht verstärkt Anreize finden, die einer zu langen Studiendauer gegensteuern? Hierzu gehört auch das Auskämmen unserer Lehrangebote.
3. Wieviel Gruppenuniversität brauchen wir in Zukunft, damit sie der Wissenschaft noch nützen kann? Und umgekehrt: Wie kann man bei dem zweifellos wichtigen Bemühen um Professionalisierung der Leitungsstrukturen von Universitäten verhindern, daß die Universität allzu unreflektiert mit einem Wirtschaf tsunternehmen gleichgesetzt und gleichbehandelt wird? Läßt sich Wissenschaft allein an "Kennzahlen" ausrichten, wie sie maßgeblich für die Steuerung von Unternehmen sind? Geht das zumal bei der Grundlagenforschung? Wie schaffen wir hier die notwendige Gratwanderung?
4 Sollen wir das über 600 Jahre tradierte Kollegialitätsprinzip zugunsten einer stärkeren Hierarchisierung der Universität aufgeben? Nützt das tatsächlich der Wissenschaft? Und wenn wir am Kollegialitätsprinzip festhalten wollen, muß dann nicht mehr darunter verstanden werden als eine akademische Variante des Prinzips "Keine Krähe hackt der anderen ein Auge aus" ? Das gibt es doch auch! Ober will das irgend jemand bestreiten? Wie kommen wir davon runter?
5. Und schließlich: Wieviel "Amerikanisierung" unserer Hochschulen brauchen wir wirklich, damit der wünschenswerte Wettbewerb Anreize erhält? Entspricht das oft leichthin bemühte Vorbild der Elite-Universität wirklich dem Gesamtbild der amerikanischen Wirklichkeit? Wie vereinbart man den erforderlichen Wettbewerb mit der Sicherung auch eines Freiraumes für ungebundene Forschung, die ja auch eine Voraussetzung für Innovation und Qualität ist?
Ich stelle diese Fragen an uns alle, aber eben auch an Sie, die heute hier versammelten Universitätsprofessoren. Sie sind von Berufs wegen dazu berufen, Antworten zu suchen und zu geben, und ich bin zuversichtlich, daß Sie sie auch finden. Das muß Ihr eigenes Interesse sein, damit nicht ganz andere Instanzen Ihnen wieder einmal das Heft aus der Hand nehmen. Davon ist noch nie etwas besser geworden.
Dem 47. Hochschulverbandstag in Dresden wünsche ich in diesem Sinne gutes Gelingen.