Redner(in): Horst Köhler
Datum: 27. Juni 2008
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2008/06/20080627_Rede2.html
Stiftungen gehören zu den ältesten Organisationsformen bürgerschaftlichen Engagements. Seit Jahrhunderten prägen sie in vielen Ländern das geistige, kulturelle und soziale Leben. Bei uns in Deutschland zehren noch heute viele Museen von der großen Blüte des Mäzenatentums und des Stiftungswesens im Kaiserreich. Damals waren Deutschlands Mäzene und Stifter Vorbilder auch für solche Länder, denen man heute eine besonders ausgeprägte philanthropische Tradition bescheinigt. Doch die Katastrophe zweier Weltkriege, die Weltwirtschaftskrise, die Gleichschaltung der Gesellschaft durch die Nationalsozialisten und die Vertreibung und Ermordung der jüdischen Mitbürger, denen das deutsche Stiftungswesen unendlich viel zu verdanken hat, setzten dieser herausragenden Form bürgerschaftlichen Engagements ein jähes Ende. Während die Menschen im Westen nach 1945 die Chance hatten, diese Tradition wieder aufzunehmen, war im Osten Bürgerlichkeit - und damit auch Bürgersinn und bürgerschaftliches Engagement - bis 1989 politisch unerwünscht. Die Folgen dieser Brüche wirken nach. Nehmen Sie zum Beispiel die Humboldt-Universität: In den vergangenen 150 Jahren, in denen amerikanische Stiftungs-Universitäten ihr Vermögen aufbauen konnten, war die traditionsreiche Berliner Hochschule mit fünf verschiedenen politischen Systemen - darunter zwei Diktaturen - und fünf Währungssystemen konfrontiert.
Glücklicherweise erleben wir heute eine Renaissance des Stiftungswesens in Deutschland. Das gilt auch für Ostdeutschland, wo sich seit der Vereinigung wieder viel Bürgersinn regt. Ich nenne nur die Wiederbelebung der Francke ' schen Stiftungen zu Halle, und den großen Einsatz vieler Stiftungen zugunsten ostdeutscher Baudenkmäler. Viele von Ihnen, meine Damen und Herren, waren beim Stiftungstag vor zwei Jahren in Dresden, dessen Abschlussveranstaltung in der Frauenkirche stattfand. Ihr Wiederaufbau wäre ohne das überwältigende Engagement von Stiftungen und vieler Bürgerinnen und Bürger niemals gelungen.
Im vergangenen Jahr wurden erstmals mehr als 1000 Stiftungen neu gründet, und die Gesamtzahl der Stiftungen hat sich allein seit Beginn dieses Jahrzehnts verdoppelt. Sie gedeihen dort besonders gut, wo das Bürgertum über eine lange Tradition verfügt: hier in München etwa, das zu den fünf stiftungsreichsten Städten in Deutschland zählt. Die Stadt begeht in diesem Jahr ihren 850. Geburtstag - und die älteste Münchener Stiftung ist gerade einmal 50 Jahre jünger. Oder in den alten Kaufmannsstädten wie Hamburg, der Heimatstadt unseres heutigen Preisträgers Michael Otto, oder auch Wismar, wo ich im Herbst bei der Bürgerstiftung deren zehnjähriges Bestehen feiern werde - stellvertretend auch für die vielen Bürgerstiftungen, die in den letzten Jahren in Ost und West entstanden sind.
Über diese "Stiftungen von Bürgern für Bürger" freue ich mich besonders, denn sie haben viel zur Verbreitung des Stiftergedankens beigetragen, indem sie jedem Bürger die Chance bieten, auch mit geringen Beträgen zum Stifter zu werden. Sicher, in der Summe des Stiftungskapitals sind die Bürgerstiftungen noch vergleichsweise klein, aber es ist eben nicht allein das Geld, das zählt. Im Januar hatte ich einige Bürgerstifter in Schloss Bellevue zu Gast. Sie haben mir sehr eindrücklich die ganze Spannweite ihrer Ideen und Projekte in ihrer Gemeinde oder in ihrem Stadtteil vermittelt: vom Engagement für Kunst, Kultur und Heimatpflege bis zu Initiativen zur Unterstützung von Arbeitslosen oder zur Integration von Zugewanderten. Das hat mich sehr beeindruckt und auch froh gemacht. Die Bürgerstiftungen stehen für starken Bürgersinn in Deutschland. Davon können wir nicht genug haben, denn das gute Miteinander lebt davon, dass die Bürgerinnen und Bürger am Geschehen vor Ort Anteil nehmen und vor allem auch: Mitverantwortung übernehmen.
Wer stiftet, will Bleibendes schaffen und denkt über die eigene Lebensspanne hinaus. Wer stiftet, möchte bestimmen, für welchen Zweck sein Kapital verwendet wird - das zeugt von konstruktivem Eigensinn. Und wer stiftet, fühlt Verantwortung und möchte so in Erinnerung bleiben. Alles das ist Ausdruck einer Haltung, die wir auch von Eigentümern von Unternehmen kennen oder von Familien, die es sich zur Aufgabe machen, über den eigenen Lebenskreis hinaus schöpferisch und kultivierend zu wirken.
Stiftungen nehmen sich oft gerade solcher Zukunftsfragen an, die zwar einerseits dringlich sind, die sich aber andererseits kurzfristig nicht auszahlen: Bildung und Erziehung etwa, Wissenschaft und Forschung, Integration und Stärkung des sozialen Zusammenhalts. Weil sie unabhängig von Wahlperioden und Quartalsberichten arbeiten, können Stiftungen es sich leisten, Aufgaben mit Beharrlichkeit zu verfolgen und dabei auch Neues und Ungewohntes zu wagen. So bringen sie oft zwei gegensätzliche Qualitäten zusammen: Dynamik und Entschleunigung. Sie befördern mit ihren Anstößen und Vordenken den gesellschaftlichen Wandel, und sie sorgen für Halt und Stabilität, indem sie sich kümmern, Traditionen pflegen und den Zusammenhalt stärken. Zudem können Stiftungen wegen ihrer Unabhängigkeit leichter als andere Institutionen auch einmal unbequem sein, wider den Stachel löcken und etwas wagen.
Mir hat einmal ein Stifter gesagt, dass Stiftungen geradezu verpflichtet seien, Risiken einzugehen, denn selbst wenn manches misslinge, könne man doch auch dabei etwas lernen. Mir gefällt diese positive Sichtweise gut, denn aus ihr spricht Mut - auch Mut zum Risiko - und der Wille, auch unter schwierigen Umständen vor allem das Gute zu sehen und darauf aufzubauen.
Denken wir etwa an die großen Herausforderungen im Bildungswesen und bei der Integration von Zuwanderern. Halten wir da nicht viel zu häufig allein nach den Schwächen Ausschau, anstatt auch nach den Stärken zu fahnden? Gerade junge Menschen, die aus bildungsfernen Verhältnissen kommen, werden manchmal schnell abgeschrieben. Darum freut es mich ganz besonders, wenn sich Stiftungen um diese Jugendlichen kümmern - etwa indem sie Projekte entwickeln, in denen Lehramtskandidaten Nachhilfe geben, oder indem sie ein "Lernwerk" initiieren, das die Lesekompetenz stärkt. Und solche Projekte sind desto erfolgreicher, je mehr wir dabei auch die Stärken der Teilnehmer entdecken und anerkennen und auf diese Weise Wertschätzung vermitteln.
Wir sind gut beraten, das bürgerschaftliche Engagement stärker einzubeziehen in die Debatte um die großen Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaft steht - ich nenne nur die Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit, gute Bildung für alle, den demographischen Wandel, Gesundheit und Pflege. Mit einer vitalen Bürgergesellschaft werden wir diese Herausforderungen besser meistern können.
Um nicht missverstanden zu werden: Bürgerengagement und Stiftungen dürfen nicht zum Lückenbüßer oder Ausfallbürgen werden für Leistungen, die der Staat nicht mehr erbringen kann oder will. Sie erkennen aber häufig früher als andere Institutionen, wo Handlungsbedarf besteht, und sie können schneller, unbürokratischer und flexibler reagieren. Dabei fungieren sie auch als Seismograph gesellschaftlicher Entwicklungen. Das wache Gespür für die Herausforderungen der Zeit, das gehörte schon immer zum Selbstverständnis von Stiftungen. Sie sollen - wie es in der Stiftungsurkunde des Würzburger Juliusspitals von 1579 heißt - "Mangel spüren [und] Vorsorge geschehen [...] lassen wie es die jetzige jüngste Zeit fordern will". Dieser Gedanke ist auch heute noch aktuell.
Die Novelle des Gemeinnützigkeitsrechts aus dem vergangenen Jahr ist auch dank des Einsatzes des Bundesverbandes gerade für das Stiftungswesen ein großer Schritt vorwärts - wobei unabhängig von der steuerlichen Freigrenze gilt: Es darf gern auch mehr gegeben werden...
Stiftungen leben vom Vertrauen: vom Vertrauen derer, die viel Geld in sie einbringen, und vom Vertrauen der staatlichen Gemeinschaft, die dafür steuerliche Vergünstigungen gewährt. Das gilt umso mehr, als der gemeinnützige Sektor wächst. Je einflussreicher seine Institutionen gesellschaftlich und ökonomisch werden, desto mehr ist er auch auf öffentliches Vertrauen angewiesen. Das hängt nicht allein am "guten Tun", sondern genauso am Zugang zu Informationen. Es ist schön, dass wir uns über prosperierende Zahlen bei Neugründungen, Zustiftungen und Spenden freuen können. Aber wir sollten genauso über die Verwendung der Mittel sprechen. Wer gute Arbeit leistet, braucht die Öffentlichkeit nicht zu fürchten. Angesichts der wachsenden Konkurrenz um Spenden und Zustiftungen ist es für Stiftungen auch ein Gebot der Vernunft, ihre Ziele und die Verwendung ihrer Mittel transparent zu machen. Erfolgreiche Beispiele sind die beste Werbung für neue Stiftungen. Und es muss uns nachdenklich stimmen, wenn viele Stifter beklagen, dass sie vor der Errichtung ihrer Stiftung nur unzureichende Möglichkeiten hatten, herauszufinden, ob nicht schon andere den geplanten Zweck verfolgten.
Ich begrüße daher, dass der Bundesverband in seinen "Grundsätzen guter Stiftungspraxis" das Bekenntnis zur Offenheit festgeschrieben hat. Vor vierzig Jahren war das anders: Damals wurden die Ergebnisse einer Mitgliederumfrage der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Stiftungen als "vertraulich" eingestuft - was der Autor einer Arbeit über das deutsche Stiftungswesen in dem Kommentar zusammenfasste: "Stiftungen, die im Geheimen arbeiten, sind entbehrlich".
Herr Brickwedde, die "Grundsätze guter Stiftungspraxis" sind einer der vielen Verdienste Ihrer mit dem heutigen Tag zu Ende gehenden Amtszeit als Vorsitzender des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen. Ich danke Ihnen herzlich für Ihren Einsatz, Sie haben in den vergangenen sechs Jahren viel Gutes gestiftet. Und Ihrem Nachfolger, Herrn Krull, wünsche ich eine ebenso gute Hand für die Zukunft.
Unsere freiheitliche Gesellschaft braucht ihre Stifter, nicht als Repräsentanten einer exklusiven Kultur, sondern als verantwortungsvolle und gemeinwohlorientierte Anstifter und nicht zuletzt als Vorbilder in der Öffentlichkeit.
Eines dieser Vorbilder, einen Stifter, der alle diese Eigenschaften in hervorragender Weise auf sich vereint, wollen wir heute für seine Verdienste um das Stiftungswesen ehren.
Fast jeder Deutsche und viele Menschen weltweit kennen das Unternehmen, das Michael Otto bis Herbst des vergangenen Jahres geführt hat. Und es ist sicher keine Übertreibung zu sagen, dass das stifterische Wirken von Michael Otto die konsequente Fortsetzung seines unternehmerischen Handelns ist. Früher als andere gab er dem Umweltschutz einen festen Platz in der Wertschöpfungskette seines Unternehmens und sorgte so für die gedeihliche Verbindung von Ökonomie und Ökologie. Dem Umweltschutz widmet sich auch die Stiftung, die er zu seinem 50. Geburtstag auf seinen Namen errichtete. Sie fördert Projekte, die zum Ziel haben, die Lebensgrundlage Wasser zu erhalten und von ihm geprägte Lebensräume zu schützen. Das beginnt vor der eigenen Haustür mit Projekten wie "Gesunde Gewässer für Hamburg", in dem sich die Stiftung gemeinsam mit dem Naturschutzbund für Renaturierungsmaßnahmen und für eine geschickte Stadtplanung einsetzt, um eine intelligente Verbindung von Natur und moderner Großstadt zu schaffen.
Manchmal werden die Projekte der Michael-Otto-Stiftung auch zu einer weiten Reise, nicht nur geographisch, sondern auch in seine eigene Lebensgeschichte: Vor über zehn Jahren finanzierte die Stiftung eine Konferenz mit Umweltschützern in Weißrussland, die den Startschuss für den Erhalt einer biologischen Schatzkammer, der einzigartigen Pripjet-Flusslandschaft, bildete. 42 Jahre zuvor, wie ich einmal gelesen habe, war der damals 22-jährige Michael Otto mit einem Freund in einem VW-Käfer in die damals noch ziemlich unzugängliche Sowjetunion gereist, bestens vorbereitet durch jeweils einjährige Studien der russischen Sprache und einer Reparaturanleitung für das Auto. Diese Geschichte zeigt dreierlei: Stifter wissen, worauf es ankommt. Sie bereiten sich gut vor. Und sie sind ihrer Zeit manchmal sehr weit voraus.
Lieber Michael Otto, Bildung ist die nachhaltigste Investition, die wir in Deutschland tätigen können. Ich freue mich sehr darüber, dass gerade diese Erkenntnis weite Teile Ihres Engagements prägt: Sie riefen das erfolgreiche Projekt "Berufsorientierung und Ausbildungsplatzvermittlung für Hauptschüler" ins Leben, ein Netzwerk von Unternehmen, dem sich alle Schulen mit Hauptschulzweig in Hamburg angeschlossen haben und das anderen Städten zum Vorbild dient. Sie haben zwei Stiftungsprofessuren eingerichtet - eine für Umweltethik an der Universität Greifswald, eine für "Sustainability and Global Change" in Hamburg. Und Sie haben hohe Beträge für die Errichtung der Staatlichen Jugendmusikschule Hamburg gespendet. Auch für die Stiftung Elbphilharmonie erwiesen Sie sich als außerordentlich großzügiger Mäzen.
Nachhaltigkeit zu schaffen, ist auch das Ziel Ihrer "Aid by Trade Foundation" mit ihrem Projekt "Cotton made in Africa". Dessen Ziel ist es, afrikanischer Baumwolle bessere und verlässlichere Absatzchancen auf dem europäischen Markt zu verschaffen. Gute Entwicklungshilfe ist vor allem "Hilfe zur Selbsthilfe" : Mit dem Projekt "Cotton made in Africa" geben Sie diesem Prinzip als Unternehmer Glaubwürdigkeit. Auch damit leben Sie vor, was auch heute den Ehrbaren Kaufmann ausmacht.
Der Ehrbare Kaufmann weiß: Wer gemeinsame Interessen fördert und fair bleibt, wer auch den Erfolg der andern will, der erarbeitet sich Vertrauen. Und Vertrauen ist ein wichtiger Grundstoff für dauerhaften wirtschaftlichen Erfolg - vielleicht sogar mehr als je zuvor. Ihr Engagement, Herr Otto, folgt dieser Erkenntnis.
Und noch eine Maxime prägt Ihr Wirken: Sie haben sie in einem Interview selber so ausgedrückt: "Wenn man das Glück des Erfolges hatte, sollte man etwas zurückgeben. Das hat nichts mit Almosen zu tun, sondern mit Solidargemeinschaft. Sonst funktioniert das Gemeinwesen nicht."
Das fasst die Beweggründe vieler Stifter zusammen. Mehr noch: Dazu passt, dass 80 Prozent der Stifter der Forderung unseres Grundgesetzes zustimmen: "Eigentum verpflichtet". Und ich denke in diesem Zusammenhang nicht allein an materielles Eigentum und Vermögen. Ich denke an alle die Fähigkeiten und Talente, über die jede und jeder von uns auf unterschiedlichen Gebieten verfügt. Dieses "Kapital" für die Gemeinschaft einzusetzen, ist eine große Quelle von Glück und Zufriedenheit - für die Gebenden genauso wie für die Empfangenden.
In den vergangen Jahren ist den Wirtschaftswissenschaften ein neuer Zweig erwachsen, die Ökonomie des Glücks. Sie lenkt den Blick darauf, dass Lebenszufriedenheit nicht nur mit materiellen, sondern auch sehr viel mit immateriellen Faktoren zu tun hat. Das ist eigentlich nichts Neues. Auf den gleichen Befund stößt man schon in den Sagen des klassischen Altertums, in der Bibel oder in den Märchen der Gebrüder Grimm. Trotzdem ist es gut, wenn auch die moderne Ökonomie sich mit diesem Thema beschäftigt. Eine der tiefsinnigsten Erklärungen zum Verhältnis von Erfolg, Glück und sozialer Anerkennung stammt von Max Weber, der schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts - in der ersten Blüte des deutschen Stiftungswesens - feststellte: "Das Glück will ' legitim ' sein." Und wann ist Glück "legitim" ? Wenn es auf ehrlicher Arbeit beruht; wenn es nicht auf Kosten anderer erzielt wurde; und wenn man es mit anderen teilt. Denn geteiltes Glück - das weiß jeder von uns - ist doppeltes Glück.
Meine Damen und Herren, lassen Sie weiterhin andere Menschen an Ihrem Glück und Ihrem Erfolg teilhaben - zu stiften ist ein Weg dazu.
Ich gratuliere dem Bundesverband Deutscher Stiftungen zu seinem 60. Geburtstag und freue mich, dass ich an diesem Tag Michael Otto für sein stifterisches Lebenswerk auszeichnen kann. Herzlichen Glückwunsch, Michael Otto, und Ihnen allen - meine Damen und Herren - noch einmal: Herzlichen Dank für Ihr Engagement.