Redner(in): Roman Herzog
Datum: 15. November 1997

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1997/11/19971115_Rede.html


Meine Damen und Herren, auf einem Ihrer Plakate steht: "Behindert ist man nicht, behindert wird man." Wie soll man ein solches Plakat verstehen - als Feststellung oder als Herausforderung? Soll es heißen: Unsere Gesellschaft behindert die, die ohnehin bereits benachteiligt sind, ein normales, selbstbestimmtes Leben zu führen? Der Vorwurf ist nicht von der Hand zu weisen. Und: Er ist ein beschämender Vorwurf.

Ich glaube, die Aussagen Ihrer Aktion sind aber zunächst einmal ein Aufruf gegen die Gedankenlosigkeit. Sie wollen aufrütteln, sie wollen an das Bewußtsein aller heran, sie wollen aber auch die Auseinandersetzung und den materiell-rechtlichen Anspruch.

Es darf doch nicht wahr sein, daß - um nur ein Beispiel zu nennen - auch heute noch Gebäude, Verkehrsmittel, Toiletten, Parkplätze, Gehsteige gebaut werden, die ein Rollstuhlfahrer nicht benutzen kann; dafür fehlt mir jedes Verständnis. Und ich verstehe auch nicht - ein zweites Beispiel - , warum es nicht möglich sein soll, mehr dafür zu tun, daß Sprach- , Seh- oder Hörgeschädigte besser in das Ausbildungs- und Arbeitsleben integriert werden.

Wenn Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes heute bestimmt, daß niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf, dann darf das nicht nur ein papierenes Zugeständnis bleiben. Mir ist klar, daß Sie jetzt alle an den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Oktober dieses Jahres denken, den ich hier natürlich nicht in den Mittelpunkt stellen kann. Über sein Ergebnis mag man streiten. Aber lesen Sie die Begründung genau! Sie bietet mehr Ansatzpunkte für Ihre Arbeit, als man angesichts des Ergebnisses meinen möchte.

Es ist gut, daß sich alle Behindertenverbände in der "Aktion Grundgesetz" zusammengefunden haben, um uns allen bewußt zu machen, wo Benachteiligungen fortbestehen, die verletzen, mutlos machen und oft sogar als mutwillige Diskriminierungen empfunden werden müssen. Wenn Sie gemeinsam auftreten, können Sie eine starke Lobby werden!

Aber: Verfassungen und Gesetze allein können hier keine grundlegende Veränderung bewirken - das Denken und Handeln jedes einzelnen Bürgers muß sich ändern! Das wird durch Ihre aufrüttelnden Leitsätze hoffentlich angestoßen. Gedankenlosigkeit, Gleichgültigkeit und fehlende Sensibilität müssen zurückgedrängt werden, Offenheit und Rücksichtnahme, Verständnis und Zuwendung müssen Tag für Tag größer werden! Solange Menschen die Nachbarschaft sogenannter Behinderter ablehnen, solange Eltern dafür kämpfen, daß ihre Kinder nicht mit sogenannten behinderten Kindern gemeinsam zur Schule gehen, solange in Hotels, Gaststätten, Diskotheken und anderswo Rollstuhlfahrer als unerwünscht behandelt werden, habe ich große Sorgen, daß wir noch meilenweit von der Umsetzung der Verfassungsnovelle von 1994 entfernt sind. Hier ist selbstverständlich der Staat gefordert, genausogut geht es aber auch jeden einzelnen von uns an! Eine "Normalität", die dem andern nicht zubilligt, was jeder für sich selbst beansprucht, ist gar keine Normalität!

Ich wünsche mir ein unvoreingenommenes, menschliches Miteinander - und glauben Sie mir: ich weiß, wovon ich rede, nicht zuletzt aus der Arbeit meiner Frau. Viele von uns wollen wirklich ernsthaft dazu beitragen, daß Mißstände endlich abgebaut werden; sie will ich heute besonders ermutigen. Oft sind sie aber hilflos und wissen nicht, wie sie sich richtig verhalten sollen. Ich bitte daher nicht nur die "Nichtbehinderten", sondern genauso die "Behinderten" : Helfen Sie Ihrem Gegenüber, so gut es geht! Gehen Sie ihm entgegen, tun Sie den ersten Schritt, besonders wenn Sie merken, daß Bereitschaft zum Miteinander vorhanden ist. Und: Haben Sie Geduld mit Unbeholfenheit und Verbitterung!

Ich bitte gerade die Menschen, die mit Benachteiligungen leben müssen: Lassen Sie sich nicht durch unsensible Redensarten und plumpe Bemerkungen abschrecken! Wenn sie wirklich böswillig gemeint sind, müssen Sie sich zur Wehr setzen, und sei es auch über Ihre Verbände. Oft sind solche Fehlgriffe aber nur von mangelnder Erfahrung und Unwissenheit bestimmt. Dann lohnt sich ein Gespräch, wenn es möglich ist!

Mangelnde Erfahrungen sind oft der Grund für Unwissenheit, Unsicherheit und Berührungsängste. Dagegen läßt sich etwas tun! Vor allem bitte ich alle Eltern und Lehrer, mit ihren Kindern und Schülern frühzeitig und eindringlich genug über das Zusammenleben mit Behinderten zu sprechen und dafür zu sorgen, daß Kinder mit und ohne Behinderungen zusammenkommen und miteinander zusammensein können. Kindergärten, Schulen und Universitäten müssen endlich Orte der ganz normalen Begegnung sein.

Die Kampagne der "Aktion Grundgesetz" ist ein hoffnungsvoller Ansatz für offene, klärende Gespräche und für unvoreingenommene Begegnungen. Wunden, die durch Abwendung und Gedankenlosigkeit geschlagen werden, dürfen wir uns nicht mehr leisten.