Redner(in): Horst Köhler
Datum: 31. August 2009
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2009/08/20090831_Rede.html
Wissen Sie, was "tidung" ist? - Kaiser Otto IV. , der in diesem Dom begraben ist, hat es gewusst. Der Sohn Heinrichs des Löwen verbrachte ein Gutteil seiner Jugend am englischen Königshof, und auf Angelsächsisch bedeutet "tidung" so viel wie "Botschaft","Neuigkeit" oder "Nachricht". An Nachrichten und Neuigkeiten herrschte in Ottos kurzem, bewegtem und auch tragischem Leben wahrlich kein Mangel. Sein Weg führte ihn von Braunschweig hinaus in die Welt und in höchste Ämter. Doch am Ende, nach langen Querelen mit Fürsten, Königen, Gegenkönigen und dem Papst, blieb ihm nicht viel mehr als seine angestammte Heimat um Braunschweig. Seine wechselvolle Geschichte hat schon die Zeitgenossen gefesselt. Daran hat sich bis heute wenig geändert, davon zeugt das große Interesse an der Landesausstellung über den "Traum vom welfischen Kaisertum", die hier in Braunschweig in Erinnerung an Ottos Kaiserkrönung vor 800 Jahren gezeigt wird. Ich freue mich sehr darauf, nachher einen Blick in diese Ausstellung zu werfen.
Aber zurück zu "tidung". Aus dem angelsächsischen Wort ist später das deutsche Wort "Zeitung" geworden, und damit wären wir beim Anlass meines Besuches hier in Braunschweig: der Verleihung des Deutschen Lokaljournalistenpreises der Konrad Adenauer Stiftung. Ich habe die Einladung dazu gerne angenommen. Denn dieser Wettbewerb zeigt, was Lokaljournalistinnen und -journalisten leisten und wie wichtig die Lokalpresse ist: für die Information der Bürgerinnen und Bürger, für die politische Kultur in unserem Land und für die Entwicklung einer lebendigen Bürgergesellschaft. Schon jetzt gratuliere ich allen, die mitgemacht haben - ganz besonders natürlich den Gewinnern.
Karl Kraus, der viel vom Journalismus und noch mehr von geschliffenem Spott verstand, schreibt in einem Gedicht, bei ausgiebigem Zeitungslesen sehe der Mensch am Ende "vor lauter Blättern" "den Wald" nicht mehr. Ich teile diese Sorge nicht - im Gegenteil.
In vielen Städten und Regionen ist der Lokalteil der Tageszeitung das einzige Medium, das umfassend über das Geschehen vor Ort informiert. Lokaljournalisten weisen auf Erfolge und auf Missstände hin. Sie stellen Lösungsvorschläge zur Diskussion. Sie bieten ein Forum für öffentliche Debatten. Auf diese Weise schaffen sie das, was wir die "politische Öffentlichkeit" nennen. Und die ist bekanntlich eine Grundvoraussetzung für jede wirkliche Demokratie.
In keiner anderen journalistischen Sparte ist der Austausch zwischen den Berichterstattern und den Menschen, für und über die sie schreiben, so eng und unmittelbar wie auf der Lokalebene. In keiner anderen Sparte sind die Gegenstände, über die berichtet wird, der allgemeinen Urteilsbildung so leicht zugänglich, schon weil sie ja oft vor aller Augen liegen. Und in keiner anderen Sparte fallen Fehler und mangelnde Sorgfalt so schnell auf. Das macht die Lokalberichterstattung zu einer spannenden Herausforderung und zu einer hervorragenden Schule des Journalismus. Es ist gewiss kein Zufall, dass die meisten großen journalistischen Karrieren in einer Lokalredaktion begonnen haben. Und es ist gewiss auch kein Zufall, dass Umfragen zufolge die Menschen ihrer Lokalzeitung deutlich mehr vertrauen als manchen anderen Medien.
Dabei hat guter Lokaljournalismus natürlich nicht allein die örtliche Ebene im Blick. Er stellt Bezüge und Zusammenhänge her: zur Politik auf Landes- und Bundesebene, zu vergessenen Kapiteln der Lokalgeschichte, zu aktuellen Debatten und zu Ereignissen an anderen Orten. In der lokalen Berichterstattung werden abstrakte Begriffe durchbuchstabiert, sie werden fasslich, bekommen ein Gesicht: Was bedeutet "Globalisierung" für das Arbeiten und Leben in der eigenen Stadt? Was bedeutet der "demographische Wandel" für den Bedarf an Kindergartenplätzen, an Alten- und Pflegeheimen in meiner Gemeinde und meinem Landkreis? Wo hakt es, was können Bürger für Bürger tun?
Guter Lokaljournalismus lädt die Menschen ein, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen. Das ist eine anspruchsvolle Vermittlungsaufgabe, es ist ein Bildungsangebot, und je besser es gelingt, desto mehr wachsen die Ansprüche der Leser an ihr Blatt. Ich danke allen Journalistinnen und Journalisten, die sich dieser wichtigen Herausforderung stellen.
Das Wort Politik leitet sich von Polis her; politisch ist ursprünglich, was die Stadt und ihre Bürger insgesamt angeht und ausmacht. Das zeigt schon: Die Grenzen zwischen Politik und Alltagsleben fließen. Und mehr als jedes andere Medium sind eben die Lokalzeitungen ein Spiegel unseres Alltags und vielfach ein Verzeichnis all dessen, was jede und jeder übers Private hinaus unternimmt.
Eigeninitiative fängt oft klein an. Es geht um ein überschaubares Ziel. Hier wollen Eltern und Anwohner einen Zebrastreifen vor der Grundschule, dort organisiert eine Müttergruppe Deutschunterricht für Zuwandererfamilien; hier wendet sich ein Viertel gegen eine Mülldeponie, dort fordert ein Dorf eine Ortsumgehung. Auf der kommunalen Ebene kann man erleben, was Engagement, Solidarität und Bürgersinn bewegen können; wie gute Lösungen entwickelt und manchmal auch erstritten werden. Hier kann man lernen, was demokratische Teilhabe und Selbstverantwortung bedeutet; wie sie funktioniert und wodurch sie gehemmt oder beflügelt wird. Auf der kommunalen Ebene kann man aber auch besonders hautnah erleben, was Desinteresse und Trägheit anrichten, wie gern das St. Floriansprinzip verfolgt wird und wie schwer es die Vernunft manchmal hat, sich durchzusetzen.
Sich interessieren und lernen, sich einmischen und mitmachen - das kann der am besten, der gut informiert ist. Auch deshalb ist es so wichtig, dass es Medien gibt, die über das lokale Geschehen berichten. Sie bringen Menschen mit unterschiedlichen Ideen zusammen, die ähnliche Ziele verfolgen. Sie stiften an zum Nachdenken und Nachahmen. Sie wecken Interesse und Engagement.
Erlauben Sie mir, Ihnen ein Beispiel aus meiner Heimatstadt Ludwigsburg zu nennen. Dort gibt es eine junge Frau, die jeden Tag mit einem 12-jährigen Mädchen in die Schule geht. Das Mädchen ist blind, und ohne seine Begleiterin könnte es nicht am allgemeinen Unterricht teilnehmen. Die junge Frau, die die Begleitung übernommen hat, macht ein Freiwilliges Soziales Jahr. Ich finde, sie ist ein Vorbild. Und Sie werden leicht erraten können, wie ich von diesem Vorbild erfahren habe: durch den Lokalteil der Ludwigsburger Kreiszeitung, den ich ab und zu online lese.
Die Geschichte dieser jungen Frau lesen auch viele andere Menschen - zum Beispiel junge Leute, die am Ende ihrer Schulzeit überlegen, was sie als nächstes tun sollen. Sie erfahren durch solche Berichte von einem Menschen, der vor der gleichen Frage stand wie sie und sich dann für ein gemeinnütziges Engagement entschieden hat. Vielleicht recherchieren sie dann im Internet gleich weiter, welche Art von solchen Diensten es gibt, welche Voraussetzungen man mitbringen muss, und wo man sich anmelden kann. Die Zeitung gibt so manch einem den Anstoß, etwas für andere zu tun. Ich wünsche mir, dass die Zeitungen noch mehr gute Vorbilder bekannt machen.
Am besten können sie das, wenn sie in Dialog mit ihren Lesern treten. So wie das die Braunschweiger Zeitung tut, die heute dafür ausgezeichnet wird. Auch die Braunschweiger Zeitung nutzt das Internet und bietet dort einen Leser-Blog, Leser-Fotos und Leserempfehlungen an. All das sind Möglichkeiten für den Leser, sich in seine Zeitung einzubringen und die Blätter mit zu gestalten, die ihm seine Welt zeigen.
Zum journalistischen Handwerkszeug gehören Verantwortung, Sachverstand, Sorgfalt und Fairness. Ist das alles? Ich habe einmal gelesen, dass ein leidenschaftlicher Journalist kaum einen Artikel schreiben kann, ohne im Unterbewusstsein die Wirklichkeit ändern zu wollen. Leidenschaft, Mut, Engagement für die Sache, den Leser jeden Tag neu begeistern - die Mischung aus all dem ist es, was Qualitätsjournalismus ausmacht.
Liebe Journalistinnen und Journalisten, bewahren Sie sich Ihr Berufsethos. Geben Sie es an Ihre jüngeren Kollegen weiter. Zögern Sie auch nicht,"schwarze Schafe" in den eigenen Reihen energisch zurechtzuweisen, damit durch diese schwarzen Schafe nicht die ganze Zunft in Verruf kommt.
Liebe Verleger, die Qualität, die wir heute feiern, hat ihren Preis. - Niemand weiß das besser als Sie. Geben Sie Ihren Redaktionen den Spielraum und die Unabhängigkeit, die sie brauchen, um ihre Informationsaufgabe für die Öffentlichkeit weiterhin verantwortungsvoll erfüllen zu können.
Meine Damen und Herren, eine gute Zeitung kann ihren Nutzen nur entfalten, wenn sie auch gelesen wird. Deshalb kann es uns nicht gleichgültig sein, dass die Auflagen der deutschen Zeitungen seit Jahren rückläufig sind. Im eigenen Interesse, aber auch im Interesse ihres Publikums und mit Blick auf ihre Informationsaufgabe in unserer demokratischen Ordnung dürfen die Zeitungen nicht müde werden, nach neuen Wegen zu suchen, um Leserinnen und Leser zu gewinnen und sie von ihrer Qualität zu überzeugen.
Ich begrüße es deshalb sehr, dass der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Bernd Neumann, eine Initiative gestartet hat, junge Menschen an das Zeitungslesen heranzuführen. Auch Schule, Elternhaus und alle gesellschaftlichen Kräfte sind aufgerufen, Kindern und Jugendlichen den Umgang mit gedruckten Informationsmedien zu vermitteln. Am besten funktioniert das, wenn die jungen Leute selbst aktiv werden, wie zum Beispiele beim Projekt ZISCH, Zeitung in der Schule.
Journalismus braucht gute Ideen, um Leser zu informieren, zu interessieren und möglichst sogar zu begeistern. Der Lokaljournalistenpreis der Konrad Adenauer Stiftung ist eine wichtige Börse für solche Ideen. Er stellt gute Beispiele vor und lädt zum Vergleich, zum Voneinander-Lernen und zum Besser-Machen ein. Auf diese Weise trägt er zur Qualität der journalistischen Arbeit bei. Darum herzlichen Dank an die Konrad Adenauer Stiftung. Ihr Deutscher Lokaljournalistenpreis ist im Lauf der Jahre zu einem "Ritterschlag" für gute Lokalberichterstattung geworden und hat viele Redaktionen ermutigt, den ausgezeichneten Kollegen nachzueifern.
Noch schöner freilich wäre es, wenn der Wettbewerb zwischen den Lokalzeitungen nicht nur bei solchen Wettbewerben, sondern auch wieder verstärkt im journalistischen Tagesgeschäft stattfinden würde. In mehr als der Hälfte der deutschen Städte und Landkreise erscheint nur noch eine regionale Tageszeitung. Monopole aber machen bequem - auch Verbreitungsmonopole.
Im Vergleich mit anderen Medien genießen Lokalzeitungen bei ihren Lesern ein besonders hohes Maß an Vertrauen. Das ist gut und spricht für ihre Arbeit. Nur ausruhen dürfen sie sich auf diesem Erfolg nicht. Vertrauen muss immer wieder neu bestärkt werden: durch sorgfältige journalistische Arbeit; durch überzeugende Ideen und durch die Einbeziehung der Leser.
Ich gratuliere allen Preisträgern des heutigen Tages. Und ich gratuliere Ihren Leserinnen und Lesern. Geben Sie ihnen und uns auch in Zukunft viel spannende "tidung".