Redner(in): Horst Köhler
Datum: 4. Dezember 2009

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2009/12/20091204_Rede.html


Meine Damen und Herren, liebe Gäste - herzlich willkommen in Schloss Bellevue!

Ich freue mich, dass Sie heute hier sind und möchte Ihnen von Herzen danken: danken für Ihr Engagement, danken für die Zeit, die Sie für andere und für unsere Gemeinschaft aufbringen. Sie leisten damit einen Dienst, dessen Wert in der Kategorie von Marktpreisen nicht gemessen werden kann. Die Verdienste, für die Sie heute hier geehrt werden, haben mit monetärem Einkommen nichts zu tun. Und doch bereichern sie unsere Gesellschaft ungemein.

Was macht den Reichtum einer Gesellschaft aus? Wie lässt sich Wohlstand messen, Fortschritt und Nachhaltigkeit? Seitdem die Finanz- und Wirtschaftskrise die Welt erschüttert hat, werden solche Fragen auch unter Ökonomen stärker diskutiert. Und immer fragwürdiger wird dabei das Bruttoinlandsprodukt als alleiniges Maß aller Dinge. Zu Recht, weil das, was wir mit unserem eingeübten Zahlenwerk messen, nur einen Teil unserer Fragen beantworten kann, weil es nur einen Teil unserer Wirklichkeit erfasst. Es gibt inzwischen viele interessante Ansätze, die nicht nur zu messen versuchen, was in einem Land an Käuflichem produziert oder geleistet wird, sondern auch das, was darüber hinaus die Lebensqualität und den wirklichen Reichtum einer Gesellschaft ausmacht: vom Gesundheitszustand und dem Bildungsstand der Bevölkerung über den Zustand der Umwelt bis hin zu der Zeit, die Menschen für die Familie, für die Nachbarn und für gemeinnützige Arbeit haben.

Natürlich kann man Wert und Qualität unseres Daseins und Zusammenlebens mit Zahlen allein nicht angemessen ermitteln. Aber einen Vorteil haben die Zahlen dann schon. Sie machen etwas sichtbar: Sie zeigen, wie viel Unverzichtbares unbezahlt und ehrenamtlich geleistet wird. Sie zeigen, wie gut die politisch Verantwortlichen aller Ebenen daran tun, das uneigennützige Engagement für andere nicht nur anzuerkennen und zu würdigen, sondern auch zu ermöglichen, zu erleichtern, zu ermutigen. Und sie zeigen, aus welchem Schatz an unersetzlichen Ressourcen unsere Bürgergesellschaft schöpfen kann - Ressourcen wie Nächstenliebe und Gemeinsinn, Zeit und Vielfalt, Wissen und Erfahrung.

Sie, liebe Gäste, sind heute hier, weil Sie Ihre ganz persönlichen Ressourcen in vorbildlicher Weise für andere einsetzen, ob hierzulande oder anderswo. Sie bringen Hilfslieferungen zusammen und auf den Weg. Sie unterstützen den Aufbau schulischer Bildung und die ärztliche Versorgung. Sie leisten Hilfe zur Selbsthilfe. Sie kümmern sich um ältere Menschen, gehen auf Zuwanderer oder auf Menschen am Rande unserer Gesellschaft zu. Sie setzen sich ein in Hilfsorganisationen wie dem Technischen Hilfswerk und dem Kinderhilfswerk UNICEF und gründen selbst Bürgerinitiativen und Hilfsvereine. Sie übernehmen als Unternehmer Verantwortung für die berufliche Bildung junger Menschen und treten für mehr Frauen in Naturwissenschaften und Technik und für die Gleichstellung ein. Sie engagieren sich im Sport, in der kirchlichen Gemeinde, für Ihre Region, für den Naturschutz.

Manchmal sind es einzelne, unvorhersehbare und auch dramatische Momente, in denen sich außergewöhnliche Hilfsbereitschaft zeigt. Ich denke an die Eheleute aus Prag, die heute unter uns sind: Die beiden haben im Spätsommer 1989, als Tausende vor der deutschen Botschaft in Prag ausharrten, DDR-Flüchtlingen mutig ihr Haus geöffnet und sie mit Unterkunft und Essen versorgt. Ich möchte Sie ausdrücklich herzlich begrüßen.

Wieder andere unter Ihnen engagieren sich aus eigener Betroffenheit heraus: Weil sie selbst oder in der Familie erlebt haben, was es bedeutet, eine seltene Erkrankung zu haben oder eine Behinderung, die die alltägliche Teilhabe an unserem Alltagsleben erschwert. Sie wissen, welche Sorgen und Nöte man in ähnlichen Lebenslagen hat, und können darum umso besser und verständnisvoller helfen und vor allem ermutigen.

Solches Engagement in den "kleinen Lebenskreisen", wie es in einer Studie der Robert-Bosch-Stiftung unlängst genannt wurde, hat unersetzliche Vorteile: Sie spüren Veränderungen der Bedürfnisse, der Nöte und Probleme viel schneller als große Institutionen und können deshalb oft viel schneller reagieren. Ein Vorteil ist auch, dass Sie es schaffen können, verschiedene wichtige Akteure an einen Tisch zu holen: weil Sie nicht in bürokratischen Rastern von Zuständigkeiten denken. Weil Sie vor Ort oft einen besseren Blick für die Zusammenhänge von Problemen haben. Und weil Sie mit Ihrem am Alltag geschulten Blick manchmal das Naheliegende besser sehen als die amtlich Zuständigen, die wir nicht schelten wollen -denen sind oft die Hände gebunden, ihre personellen und finanziellen Ressourcen sind begrenzt und die Dankbarkeit dementsprechend oft groß für die Vermittlungsdienste, die Sie als Ehrenamtliche zwischen den Betroffenen und den Behörden leisten. Auch da haben wir einige unter uns, die hier sehr wirkungsvoll arbeiten.

Mein Eindruck ist überhaupt, dass sich in den vergangenen Jahren manches gegenseitige Unverständnis zwischen öffentlicher Hand und privatem Engagement in gegenseitige Unterstützung gewandelt hat - das ist möglich! Und einige unter Ihnen haben die Möglichkeiten, die sich da nun vermehrt auftun, klug genutzt. Gewiss gibt es noch vieles zu verbessern. Aber wenn es gut läuft, dann greifen staatliche Programme für gute Zwecke und privates Engagement wie Zahnräder ineinander. Dann können Projekte, die klein angefangen und sich bewährt haben, in finanziell geförderter und abgesicherter Weise ihre Arbeit fortführen, dann werden Initiativen, die als staatliches Modellprojekt starten, dank der Unterstützung von Bürgerinnen und Bürger selbsttragend.

Häufig ist in diesen Tagen von den "Leistungsträgern" der Gesellschaft die Rede. Ich finde, Sie müssen sich unbedingt dazuzählen. Sie motivieren andere, verhelfen ihnen zu Erfolgen und sind sich zugleich nicht zu schade, auch all die einfachen Dinge zu erledigen, die bei allen Projekten anfallen.

Wir wissen alle: Zeit ist leider eine endliche Ressource. Wir müssen sogar um Zeit als Ressource kämpfen. Das erfahren vor allem die Menschen in Ihrer nächsten Umgebung, die Partner, die Kinder, die Freunde. Sie müssen nicht selten zurückstecken. Darum auch Ihnen ein ganz großes Dankeschön! Mit Ihrer Unterstützung und Ihrem Verständnis ermöglichen Sie das Engagement, das heute ausgezeichnet werden soll. Wir wissen aber auch: Wer sich aus freien Stücken und mit Überzeugung für andere engagiert, dessen Leben erfährt Zuwachs an Sinn und gewinnt an Freude, und das - da bin ich sicher - bereichert dann auch die Angehörigen, die manchmal verzichten müssen.

Liebe Gäste: Sie alle dienen in der einen oder anderen Weise unserer Gemeinschaft. Und darum freut es mich sehr, dass ich Ihnen heute, am Tag des Ehrenamts, den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland überreichen darf. Er soll ein sichtbares Zeichen des Dankes und der Anerkennung sein für das, was Sie zum Wohl unserer Gemeinschaft über viele Jahre leisten. Gewiss sagt der eine oder die andere unter Ihnen "Eigentlich ist doch selbstverständlich, was ich da tue". Ich habe das oft gehört. Und gewiss kennen Sie alle noch viele andere, deren Verdienste ebenso groß sind und die eine solche Ehrung ebenfalls verdient hätten. Das stimmt alles. Ich möchte Sie aber trotzdem ermutigen, Ihren Orden stolz zu tragen, wann immer es geht und angemessen ist. Seien Sie Vorbilder, ermutigen Sie andere dazu, sich einzubringen, und haben Sie weiterhin viel Freude an Ihrem eigenen Engagement! Das wäre mein größter Wunsch.