Redner(in): Horst Köhler
Datum: 9. Dezember 2009
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2009/12/20091209_Rede2.html
Liebe Festversammlung, mein Besuch bei Ihnen fällt in die Adventszeit. In diesen Wochen wird vermutlich hierzulande öfter als sonst zur Bibel gegriffen. Es wird nach der Weihnachtsgeschichte geblättert, es wird aus ihr vorgelesen, und wahrscheinlich spüren dabei viele: Hier ist ein Buch, das anders ist als alle anderen, das alle Gründe und Abgründe unserer menschlichen Existenz ausleuchtet, das Trost und Hoffnung gibt und dessen Sprache klar ist wie sein Sinn unerschöpflich. Für mich persönlich ist die Bibel das wichtigste Buch, das ich kenne.
Ihre Texte sind mehrere tausend Jahre alt, aber ihr Inhalt ist heute, denke ich, genauso aktuell wie damals. Es geht um die großen Menschheitsfragen: Woher kommen wir? Was ist der Sinn unseres Lebens? Was sind die richtigen Maßstäbe für unser Handeln? In der Bibel finden wir Antworten. Die Bibel bietet uns Orientierung. Sie kann in unserem Alltag Sinn stiften.
Das Neue Testament erzählt uns vom Leben Jesu, der uns Christen einen Auftrag gegeben hat, den Auftrag, Gott zu suchen und zu lieben, ihn im Nächsten zu erkennen und einander mit Respekt und Würde, mit Liebe und der Bereitschaft zur Vergebung zu begegnen.
Christen finden Orientierung in der ganzen Bibel, Orientierung durch das Wort im Alten und im Neuen Testament. Im Johannesevangelium heißt es: "Am Anfang war das Wort... Alles ist durch das Wort geworden und nichts, was geworden ist, ist ohne es geworden." Das Wort hilft uns, unsere Welt zu verstehen.
Es hilft nicht nur Erwachsenen, es hilft schon den Kindern. Ich kenne wunderbare Kinderbibeln, in denen die alten Texte kindgerecht erzählt und mit anschaulichen Bildern illustriert werden. Es macht Freude, diese Texte Kindern vorzulesen, ihnen auf diese Weise die Grundlagen unseres Glaubens zu vermitteln. Hier spüren Sie, dass ich Enkelkinder habe. Das Vorlesen der Bibel kann ein wertvoller Beitrag für die frühkindliche Erziehung sein und es ist auch eine gute Gelegenheit die eine oder andere Geschichte selbst noch einmal zu durchdenken und ihre Lehren zu beherzigen.
Wenn wir eine Kinderbibel lesen, ist uns bewusst, dass wir keine wortgenauen Originaltexte vor uns haben. Aber wie ist das, wenn wir Laien unsere gängigen Übersetzungen lesen? Ist uns dabei klar, dass es sich auch da eher um Annäherungen an die Ausgangstexte handelt? Ist uns bewusst, wie schwierig es ist, herauszufinden, wie die ursprünglichen Versionen lauteten?
Sie hier im Institut für Neutestamentliche Textforschung wissen das natürlich, denn Sie versuchen genau das zu erforschen - seit 50 Jahren. Ich danke Ihnen für diese wertvolle Arbeit und beglückwünsche Sie zu diesem Jubiläum. Ich bin gerne nach Münster gekommen, um es mit Ihnen zu feiern.
Ihre Arbeit ist vergleichbar mit dem Zusammensetzen eines großen Puzzles. Sie müssen obendrein erst einmal herausfinden, welches überhaupt die richtigen Puzzleteile sind. Kurt Aland, der Gründer des Instituts, hat die Suche nach den Puzzleteilen systematisiert. Er reiste von russischen bis zu den griechischen Klöstern, vom Balkan bis zum Sinai, um alte Handschriften des Neuen Testaments aufzuspüren und zu fotografieren. Er sammelte sie und machte sie hier im Institut zugänglich. Später übernahm seine Frau, Barbara Aland, die Leitung des Instituts. Ich freue mich, Sie hier zu haben.
Früher mussten Wissenschaftler durch die halbe Welt reisen, um die verstreuten Handschriften zu suchen, heute kommen sie nach Münster und können alles an einem Ort vergleichen und auswerten. Und in absehbarer Zeit werden sie nicht einmal mehr Münster, sondern nur noch die Homepage des Instituts besuchen müssen. Auf diese Weise ist der berühmte Nestle-Aland entstanden, und auf diese Weise entsteht die Editio Critica Maior. Diese Arbeit ist einzigartig auf der Welt, so wie dieses Institut einzigartig ist in seiner Exzellenz. Darauf können wir alle in Deutschland ein wenig mit stolz sein.
Deswegen bin ich, der von Amts wegen eigentlich keine Nebenämter hat, ausnahmsweise, aber sehr gerne Vorsitzender des Kuratoriums der Hermann-Kunst-Stiftung geworden, die das Institut für Neutestamentliche Textforschung fördert. Ich will damit Ihre außergewöhnliche Arbeit anerkennen und auszeichnen.
Die Bibel ist der Leitfaden für alle Christen, egal ob sie katholisch, evangelisch oder orthodox sind. Kein Wunder also, dass bei Ihnen Katholiken und Protestanten Hand in Hand arbeiten. Der von Ihnen herausgegebene Nestle-Aland ist eine Fassung des Neuen Testaments, die Christen aller Konfessionen gleichermaßen akzeptieren. Sie haben damit auch einen wichtigen Beitrag zur Ökumene geleistet.
Als Kuratoriumsvorsitzender habe ich vor zwei Jahren das Bibelmuseum besucht und war fasziniert von dem Schatz, den Sie hier in Münster bewahren. Wir alle müssen dazu beitragen, dass er gehegt und gepflegt wird. In besonderer Erinnerung habe ich die Waltonsche Polyglotte. Sie kennen sie natürlich. Und sicher sind Sie ebenso beeindruckt wie ich von dem Bibeldruck, der auf jeder Doppelseite den Bibeltext in lateinischen, syrischen, griechischen, koptischen und persischen Versionen zeigt; alle Schrifttypen im Bleisatz gesetzt und fehlerlos.
Meine Begeisterung für dieses Kunstwerk ist auch der Hermann-Kunst-Stiftung nicht entgangen. Und so hat sie mir zu meinem Geburtstag einmal eine Karte geschickt, auf deren Umschlag der Text der Waltonschen Polyglotte abgedruckt war. Auf der Innenseite las ich die Bibellosung vom Tag meiner Geburt: "Pflüget ein Neues und säet nicht unter die Hecken." Sie pflügen Neues. Auch Ihre Methoden sind neu. Und unter Hecken haben Sie nicht gesät. Im Gegenteil: Ihre Saat ist aufgegangen und von der Ernte leben Menschen in der ganzen Welt, eben weil wir nicht vom Brot allein leben. Herzlichen Dank, herzlichen Glückwunsch und alles Gute!