Redner(in): Horst Köhler
Datum: 2. Februar 2010

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2010/02/20100202_Rede.html


Es gibt keinen Gedanken, weder im Westen noch im Osten, der nicht gerade auch in einem indischen Kopf kreist." Ich teile diesen Respekt des britischen Historikers Thompson vor der kreativen Vielfalt Indiens, die es einem Redner aus dem Ausland sicherlich nicht gerade einfach macht, den indischen Zuhörern etwas Neues zu sagen. Aber ich freue mich sehr, dass ich heute in Delhi die Gelegenheit habe, einige Gedanken mit Ihnen zu teilen, die in meinem Kopf kreisen.

Ich bin weit von Deutschland weg und fühle mich in Delhi dennoch nicht fremd. Das liegt zum Einen sicherlich an der historischen Verbundenheit unserer Länder und dem Respekt deutscher Gelehrter vor der indischen Kultur, so zum Beispiel von Friedrich Schlegel und vom deutschen Begründer der Indologie, Max Müller. Zum Anderen liegt es aber auch an der immer dichter werdenden Vernetzung unserer Länder in der heutigen Zeit. Ich habe in einer Rede vor drei Jahren bewusst das Beispiel von Indien gewählt, um den Menschen in Deutschland diese Tatsache zu verdeutlichen. Damals prangte auf den Berliner Stadtbussen die Werbung "Incredible India - nur sieben Stunden entfernt". Aber Indien liegt Deutschland viel näher - oft ist es nur einen Mausklick entfernt.

Vor indischen Unternehmern brauche ich nicht viel zu dieser Vernetzung zu sagen. Seit der wirtschaftlichen Öffnung Indiens 1991 haben sich unsere Handelsbeziehungen rapide entwickelt. Denken in globalen Zusammenhängen ist für wirtschaftlichen Erfolg heute mehr denn je unverzichtbar. Das gilt nicht nur für große Firmen, sondern auch für die vielen kleineren und mittleren Unternehmen, die in Deutschland das Rückgrat der Wirtschaft bilden. Unsere Volkswirtschaften als Ganzes wären ohne die intensive Verflechtung all dieser Unternehmen insgesamt ärmer.

Gleiches gilt für das Feld der Wissenschaften, auf dem Deutschland und Indien ebenfalls eng zusammenarbeiten. Ein Leuchtturmprojekt ist das "Deutsch-Indische Wissenschafts- und Technologiezentrum". Morgen werden wir gemeinsam das "Max-Planck-Zentrum für Computer-Wissenschaften" als weiteres Beispiel für unsere Kooperation einweihen. Und die Einrichtung eines "Deutschen Innovations- und Wissenschaftshauses" in Neu Delhi, unter dessen Dach sich die deutschen Institutionen vereinen und als Partner der Zukunft in Wissenschaft und Forschung präsentieren, steht kurz bevor.

Neugier und Wissensdurst haben uns Deutschen indisches Denken über zentrale Fragen menschlichen Lebens schon lange nahegebracht. Wilhelm von Humboldt war vom jahrtausendealten Epos der Bhagavadgita so beeindruckt, dass er sie als "das schönste, ja vielleicht das einzig wahrhafte philosophische Gedicht, das alle uns bekannten Literaturen aufzuweisen haben", bezeichnete. Die traditionelle indische Medizin wird in Deutschland geschätzt und erweitert unser Konzept von Gesundheit. Ich finde, es lohnt sich, bei der Suche nach dem Sinn des Lebens ebenfalls auf indische Stimmen zu hören.

Auch für das politische Berlin ist Neu Delhi nicht weit weg. Deutschland und Indien verbindet eine enge Freundschaft und vertrauensvolle Partnerschaft. Unsere beiden Länder sind föderale, säkulare und parlamentarische Demokratien. Dabei setzt Indien mit seiner Gleichberechtigung der Religionen trotz aller Widrigkeiten Standards, die weit über die Region hinausstrahlen.

Dieses Ideal einer offenen Gesellschaft ist Extremisten aller Couleur ein Dorn im Auge. Die schrecklichen Terrorangriffe auf Mumbai im November 2008 sind ein weiteres warnendes Beispiel dafür. Die feigen Anschläge, die 166 Opfer - darunter auch drei deutsche Landsleute - mit dem Leben bezahlt haben, waren nicht nur allein gegen Indien und das indische Volk, sondern gegen die ganze freie und demokratische Welt gerichtet. In diesen schweren Stunden fühlten wir Deutsche: Wir stehen Seite an Seite mit Indien. Den Hinterbliebenen der Opfer gehört unsere Anteilnahme. Die Anschläge haben uns einmal mehr deutlich gemacht, dass wir derartigen Bedrohungen nur gemeinsam trotzen können.

Die gemeinsame Abwehr terroristischer Aktivitäten sollte uns aber nicht den Blick vor Herausforderungen ganz anderer Natur verstellen. Die Globalisierung bringt zwar Wachstumschancen und damit mehr Chancen für Prosperität. Aber was geschieht, wenn immer mehr Menschen das Gefühl haben, dass ihre Erwartungen, am Wohlstand teilzuhaben, nicht erfüllt werden? Was wir weltweit benötigen, ist ein deutlich besseres Regelwerk für mehr Gerechtigkeit.

Wir brauchen also eine wirkliche "Global Governance", die der Tatsache Rechnung trägt, dass das Schicksal aller Länder, ganz gleich ob groß oder klein, immer stärker voneinander abhängt. Gemeinsame Lösungen werden nur dann akzeptiert werden, wenn alle sie als gerecht empfinden.

In einer neuen, multipolaren Weltordnung wird es weiterhin verschiedene Formen der internationalen Zusammenarbeit geben. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat beispielsweise zu einer neuen Qualität und Dichte der Zusammenarbeit in der G-20 geführt. Ich begrüße das. Der zentrale Ort kooperativer Weltpolitik sind und bleiben die Vereinten Nationen. Indien und Deutschland haben in den vergangenen Jahren gemeinsam deutlich gemacht, dass unsere beiden Länder dazu bereit sind, in New York noch mehr Verantwortung zu tragen.

Bei der Erstellung neuer Regelwerke - sei es bei der Regulierung der Finanzmärkte, beim Welthandel oder beim Klimaschutz - werden die Nationalstaaten auf absehbare Zeit weiterhin eine zentrale Rolle spielen. Dies stellt insbesondere demokratisch gewählte Politiker vor immer größere Herausforderungen: Sie müssen einerseits immer globaler denken, andererseits werden sie weiterhin nicht global gewählt, sondern müssen sich in ihren eigenen Wahlkreisen behaupten. Die Interessen anderer Länder in einer Demokratie mitzudenken, erfordert verantwortungsvolle Politiker und informierte Wähler. Das ist für alle Beteiligten kein leichtes Unterrichtsfach.

In Europa haben wir den Weg der Integration beschritten und Souveränität an die Europäische Union übertragen. Wir Europäer haben damit unsere Lehren aus den schrecklichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gezogen und eine Friedensordnung auf unserem Kontinent begründet. Sie hat für uns Deutsche auch die Aussöhnung mit dem früheren "Erbfeind" Frankreich gebracht. Nach der Erweiterung der Europäischen Union nach Osten sind wir Deutsche heute zum ersten Mal in unserer Geschichte nur von befreundeten Nationen umgeben.

Und dennoch ist auch in Europa der Instinkt bei einigen immer noch stark, Eigennutz voranzustellen, anstatt Europa als eine Schicksalsgemeinschaft zu betrachten. Auf globaler Ebene ist diese Tendenz noch viel ausgeprägter. Wir konnten sehen, wie in vielen Ländern die protektionistischen Tendenzen als Reaktion auf die Krise eher zunahmen, obwohl dies letztlich allen schaden wird. Hier muss die Welt weiter entschieden gegensteuern.

Dass die Menschheit einen Planeten teilt, wird beim Problem des Klimawandels noch deutlicher. Kopenhagen hat gezeigt: Obwohl wir uns einig sind, dass wir den Klimawandel auf eine Erwärmung von zwei Grad begrenzen wollen, bestehen doch enorme Unterschiede in den Ansichten darüber, wie wir dieses Ziel erreichen. Das enttäuschende Ergebnis von Kopenhagen zeigt uns, dass die Staatengemeinschaft noch einen weiten Weg gehen muss, um globale Gemeingüter effektiv zu schützen.

Indiens Emissionen an Treibhausgasen liegen mit circa einer Tonne pro Einwohner noch weit unter dem Niveau der Industrieländer. Dennoch beweist die Regierung von Indien mit ihrem nationalen Aktionsplan zum Klimawandel Weitsicht. Ein Umsteuern zu einer "grünen" Volkswirtschaft ist nicht nur ökologisch sinnvoll, sondern macht auch die indischen Unternehmen wettbewerbsfähiger. Indiens Premierminister Singhs "Convergence-Prinzip" und die Gedanken der deutschen Bundeskanzlerin kreisen dabei beide um die Frage der weltweiten Pro-Kopf-Emissionen. Diese im Auge zu behalten, wird ein langfristiger Orientierungsmaßstab für Gerechtigkeit sein. Wir Industrieländer können und müssen mit den Schwellenländern zusammenarbeiten, um den Klimawandel zu begrenzen und um sich an seine jetzt schon absehbaren Folgen anzupassen. Die Kooperation bei erneuerbaren Energien und der Verbesserung der Energieeffizienz werden daher auch weiterhin Schwerpunkte der deutsch-indischen Entwicklungszusammenarbeit bleiben.

Klimaschutz kann aber nur dann funktionieren, wenn es - wie beim Cricket - verbindliche und nachprüfbare Regeln für alle gibt, die als fair und gerecht anerkannt werden. Zu dieser Anerkennung trägt die kritische und kontroverse Diskussion in einer offenen Gesellschaft entscheidend bei. Diese ist zum Glück in Indien und Deutschland möglich. Ich glaube, dass die zunehmende Vernetzung von Kommunen, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen auch ein wichtiger Faktor sein kann, um den Kampf gegen die Erderwärmung zu gewinnen.

Mahatma Gandhi hat 1921 zum kulturellen Austausch gesagt: "Ich möchte, dass die Kulturen aller Länder so frei wie möglich durch mein Haus wehen. Aber ich weigere mich, dass irgendeine Kultur mich von meinen Beinen bläst". Indien müsste mit seinem Konzept der "Einheit in Vielfalt" ( "Unity in Diversity" ) auf den kulturellen Wirbelwind der Globalisierung eigentlich bestens vorbereitet sein. Wie es der größten Demokratie der Welt unter teils schwierigsten Rahmenbedingungen gelungen ist, über eine Milliarde Menschen unterschiedlichster Herkunft, Sprache und Religion in einem Staat zu vereinigen, ist auf dieser Welt einzigartig. Ich freue mich daher darauf, in den nächsten Tagen hier mehr über die indischen Erfahrungen zu lernen, um diese in die deutschen Diskussionen mit einzubringen. Im 21. Jahrhundert müssen wir gemeinsam unter der Bewahrung kultureller Vielfalt neue Regeln des Zusammenlebens für unserenEinenPlaneten entwickeln.

Mit anderen Worten ausgedrückt: "Alle Nationen und Völker sind heute zu sehr verbunden, als das irgendeine davon sich vorstellen könnte, getrennt zu leben. Vom Frieden wird gesagt, er sei unteilbar. Ebenso ist es die Freiheit, ebenso ist es jetzt der Wohlstand, und ebenso ein Unglück in dieserEinenWelt, die nicht mehr in isolierte Fragmente geteilt werden kann". Das waren die Worte von Jawaharlal Nehru am Vorabend der indischen Unabhängigkeit. Auch dieser Gedanke kreist also bereits seit langem in Indien. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, ihn weiter in die Welt zu tragen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.