Redner(in): Christian Wulff
Datum: 6. September 2010
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Christian-Wulff/Reden/2010/09/20100906_Rede.html
Vor fast sechzig Jahren stiftete der erste Bundespräsident, Theodor Heuss, den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland - die einzige und damit die höchste Auszeichnung, die die Bundesrepublik für Verdienste um unsere Gemeinschaft vergeben kann. Damit sollen ganz besonders herausragende Verdienste einzelner Bürgerinnen und Bürger um unser Land sichtbar gemacht und gewürdigt werden.
Sie, liebe Ordensträgerinnen und Ordensträger, erfüllen diesen hohen Anspruch. Auch wenn die herausragenden Leistungen, für die Sie heute ausgezeichnet werden, in den unterschiedlichsten Gebieten liegen, so eint Sie doch vieles: Sie alle zeichnet ein Wille aus, die eigene Freiheit dafür zu nutzen, dem Gemeinwohl zu dienen und Verantwortung zu übernehmen; Sie alle geben eine überzeugende Antwort, wie unser Land zukunftsfähig bleiben kann und Sie alle haben sich in besonderer Weise in den Neuen Ländern engagiert.
Auch in der DDR gab es ein bürgerschaftliches Engagement. Abseits des erwünschten Einsatzes in den Institutionen eines allgegenwärtigen Regimes haben sich Menschen freiwillig und selbstverantwortlich für einander eingesetzt. Ein solches Engagement in Kirchen und Opposition galt oft als regimekritisch, es wurde kaum gewürdigt und meist auf das genaueste überwacht. Ihre Orden und Ehrenzeichen setzte die DDR inflationär dazu ein, Linientreue und politische Zuverlässigkeit zu belohnen und über eklatante Mängel des Regimes hinwegzutäuschen. Menschen, die sich in Kirche und Opposition engagierten, konnten nicht damit rechnen, dafür ausgezeichnet zu werden. Vor zwanzig Jahren konnten schließlich auch keine Orden mehr über Unrecht und Unfreiheit hinwegtäuschen. Die Freiheitsliebe ihrer Bürger und der Wille, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, wurden der DDR zum Verhängnis.
Auch heute bringen Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern in einem beachtlichen Umfang Zeit, Geld und Ideen für gemeinschaftliche Anliegen auf. Sie, liebe Ordensträgerinnen und Ordensträger, sind herausragende Beispiele dafür, mit welchem unglaublichen Engagement viele in den ostdeutschen Ländern die mit der Wiedervereinigung verbundenen Herausforderungen angenommen und zu ihrem Aufbau beigetragen haben. Diese Leistungen werden in der Öffentlichkeit häufig zu wenig wahrgenommen. Sie verdienen aber höchste Anerkennung und Würdigung.
Unser Land braucht Menschen, wie Sie: Menschen, die sich engagieren, die sich zu Wort melden und Verantwortung übernehmen, die nicht sagen,"Das könnte mal gemacht werden.", sondern selber anpacken. Was mich immer beeindruckt hat, Ihre Verdienste sind so vielfältig wie die Neuen Länder. Viele von Ihnen engagieren sich vorbildlich im sozialen Bereich. Sie haben Einrichtungen, Vereine und Interessenverbände gegründet, die sich den Belangen von Behinderten, Kranken und Sterbenden widmen. Andere setzen sich ein in Hilfsorganisationen wie dem Technischen Hilfswerk oder gründen selbst Bürgerinitiativen, Hilfsvereine und gemeinnützige Stiftungen. Wieder andere treten für den Erhalt bedeutender Kunstsammlungen ein und sorgen so für die Bewahrung wichtiger Zeugnisse der Kulturgeschichte in den Neuen Ländern. Mehrere unter Ihnen haben sich größte Verdienste beim Aufbau der Kommunal- und Landesverwaltung erworben. Andere haben den Aufbau berufsständischer Kammern begleitet und sich als Kammerpräsidenten in besonderer Weise für die Berufsausbildung und Ausbildungsplätze eingesetzt. Unter Ihnen sind erfolgreiche Unternehmerinnen und Unternehmer, die mit ihrer Motivation Impulsgeber und Motor für die wirtschaftliche und nachhaltige Entwicklung ihrer gesamten Region sind. Ich freue mich, dass es für immer mehr Unternehmer eine Selbstverständlichkeit geworden ist, neben ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen - als Mäzene und Stifter, durch Freistellung von Mitarbeitern für gemeinnützige Projekte oder indem sie über den eigenen Bedarf hinaus Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen und so jungen Menschen eine Perspektive geben. Zum Kreis derer, die ich heute ehren darf, gehören auch Wissenschaftler, die sich außerordentlich um Forschung, Ausbildung und die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses in den Neuen Ländern verdient gemacht haben. Sie tragen auch durch ihre engagierte Mitarbeit in Beratergremien, Netzwerken und Verbänden maßgeblich zum wachsenden wissenschaftlichen Renommee vieler ostdeutscher Universitäten und Forschungs-einrichtungen bei.
Sie alle zeigen, wie reich die neuen Bundesländer sind, reich an Menschen, die sich für das Gemeinwesen einsetzen, die ihre Begabungen nicht nur nutzen, um selbst voranzukommen - das ist normal und richtig - sondern auch, um andere voranzubringen. Die Bedeutung Ihres Engagements für den Aufbau der Neuen Länder und ihre Zukunftsfähigkeit kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Wir werden vor den Herausforderungen der Zukunft nämlich nur dann bestehen, wenn sich in wachsendem Maße Bürgerinnen und Bürger gerade auch in den neuen Bundesländern für die Gemeinschaft engagieren.
Unser Land braucht Menschen wie Sie, weil die Möglichkeiten des Staates begrenzt sind. Er ist auf die Kraft und das Engagement der Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Das wird in den kommenden Jahren in noch weitaus stärkerem Maße als bisher der Fall sein. Vielerorts schränken hohe Schulden die Handlungsfähigkeit der öffentlichen Hand zunehmend ein, und die demographische Entwicklung stellt uns insbesondere in den Neuen Ländern vor ganz neue Herausforderungen. Das Netz der hoheitlichen Daseinsvorsorge wird in weiten Teilen unseres Landes künftig nicht mehr so dicht und flächendeckend geknüpft sein können, wie wir dies bislang gewohnt waren. Es kommen große Aufgaben auf uns zu wie etwa die, für eine zunehmend ältere Bevölkerung zu sorgen.
Darum ist schon heute klar: Wir brauchen künftig noch viel mehr bürgerschaftliches Engagement für das Gemeinwesen - in der Nachbarschaft und im Stadtteil, im Verein und am Arbeitsplatz, in Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft, in Kulturangelegenheiten und im sozialen Bereich und natürlich auch in der Politik.
Die Einsicht in die Notwendigkeit dieses Engagements ist allerdings für die meisten von uns noch kein ausreichendes Motiv, um selbst aktiv zu werden. Und gerade da helfen Vorbilder wie Sie. Sie zeigen, wie viel jeder Einzelne beitragen und an Positivem erreichen kann und wie viel Freude und persönliche Genugtuung das birgt - bei aller Arbeit, die natürlich auch regelmäßig nötig ist.
Und noch etwas bewegt Menschen dazu, sich zu engagieren: Wenn nämlich gute Taten auch die gebührende öffentliche Anerkennung finden. Da haben wir in Deutschland noch Nachholbedarf. Es gibt doch so viele Möglichkeiten, den Einsatz für andere Menschen und das Gemeinwesen zu belohnen - vom Blumenstrauß in der Gemeinderatssitzung über ein lobendes Porträt in der Zeitung bis hin zur Vergabe von Preisen für besonderes bürgerschaftliches Engagement. Alle diese Gesten der Anerkennung machen den Geehrten Freude und sie stiften auch andere dazu an, sich in den Dienst einer guten Sache zu stellen.
Diesen zweifachen Sinn soll darum auch die Auszeichnung haben, die Ihnen heute zuteil wird: Wir ehren Sie im Namen Deutschlands und wir danken Ihnen für Ihren Beitrag in den Neuen Ländern zum Wohle des Ganzen. Die gesamte Republik soll wissen: "Schaut her, hier sind Frauen und Männer, die Außerordentliches geleistet haben. Lasst Euch allen dies ein Ansporn sein!"
Besonders erwähnen möchte ich aber auch noch die Menschen in Ihrer nächsten Umgebung, Ihre Ehegatten und Partner, Ihre Kinder und Freunde, von denen einige auch heute dabei sind. Sie müssen nicht selten zurückstecken. Darum auch Ihnen ein ganz großes Dankeschön! Mit Ihrer Unterstützung und Ihrem Verständnis ermöglichen Sie das Engagement, das heute ausgezeichnet werden soll. Wir wissen aber auch: Wer sich aus freien Stücken und mit Überzeugung für andere engagiert, dessen Leben erfährt Zuwachs an Sinn und gewinnt an Freude, und das - da bin ich sicher - bereichert dann auch die Angehörigen, die manchmal verzichten müssen.
Liebe Ordensträgerinnen und Ordensträger! Ich danke Ihnen nochmals von ganzem Herzen für Ihren besonderen Einsatz in den neuen Bundesländern und freue mich, Ihnen den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland aushändigen zu können.