Redner(in): Christian Wulff
Datum: 19. Januar 2011
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Christian-Wulff/Reden/2011/01/20110119_Rede.html
Der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft wirkt seit vielen Jahrzehnten segensreich. Er hat sich in den über 90 Jahren seiner Geschichte oft gewandelt und ist dabei immer Avantgarde geblieben. Erhilft in vielen Bereichen, Wirtschaft und Wissenschaftzueinander zu bringen undim Wandel zukunftsfest zu machen. Er verbessert die Rahmenbedingungen für Wissenschaft, fördert exzellente Lehre, stärkt den Austausch zwischen Wirtschaft und Wissenschaft und zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, fördert Stiftungsaktivitäten nach Kräften. Ich freue mich besonders über Projekte wie "Ungleich besser! Verschiedenheit als Chance". Denn es ist eine Tatsache, dass unsere Gesellschaft heterogener geworden ist - diese Verschiedenheit dürfen wir nicht als Hindernis sehen, sondern im Gegenteil als Quelle für Kreativität. Das gelingt aber nur, wenn Verschiedenheit bewusst mitbedacht wird und ihre Vorteile zur Entfaltung gebracht werden.
Der Stifterverband beobachtet mit Argusaugen die Anstrengungen der Wirtschaft für Forschung und Entwicklung. Da gibt es im Rückblick auf die vergangenen JahreErfreuliches zu bilanzieren. Es ist erstaunlich, wie stark die deutschen Unternehmen Kurs gehalten haben, trotz der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise seit Jahrzehnten. Wir können stolz sein: International hat "Made in Germany" oder auch "Created in Germany" hat einen sehr guten Klang.
Klar ist, Deutschlandhat dieKrisenicht nur deshalb sogut überstanden, weil es eine solide industrielle Basis hat, sondern auch, weil die deutsche Wirtschaft den Grundsatz beherzigt hat, dassInvestitionen in Forschung und Entwicklung die Grundlage für Wettbewerbsfähigkeitsind - und damit letztlich die Grundlage für unser aller Wohlstand. Wir können diesen Wohlstand nur dann halten, wenn wir weiterhin Lust auf Zukunft haben, den Mut zum Wandel und Offenheit für Innovationen. Und genau deshalb ist es so wichtig, den in Teilen der Gesellschaft wachsenden Widerstand gegenüber bestimmten Innovationen ernst zu nehmen und auch die Chancen zu sehen, die in ihm stecken.
Die Proteste gegen Großprojekte wie "Stuttgart 21", Widerstand gegen Kraftwerksneubauten und neue Stromtrassen, gegen Brücken oder Straßen und schließlich auch grundsätzliche Skepsis etwa gegenüber gentechnischer Forschung - das sind für mich keine Signale einer grundsätzlichen Verweigerungshaltung. Denn dahinter stecktzum einen ein vitales Interesse der Bürgerinnen und Bürger an ihrem, an unserem Gemeinwesen. Und zum anderen durchaus berechtigte Fragen nach dem Mehrwert von bestimmten Innovationen, nach dem Verhältnis von Kosten und Nutzen und nach den zu setzenden Prioritäten. Fangen wir mit Letzterem an.
Es ist gut und wichtig, eine Debatte darüber zu führen, wie wir unsere fantastischen wissenschaftlichen und technologischen Möglichkeiten so nutzen, dass sie dem Wohle von möglichst vielen dienen, und wie wir eine kluge Synthese aus Bewährtem und Neuem schaffen. Was brauchen wir für die Gestaltung einer besseren Zukunft? Was führt in die Sackgasse? Welche langfristigen Folgen haben bestimmte Innovationen für die Gesellschaft?
Denn es ist ja nicht zu übersehen: Ein bedeutender Teil der Forschung basiert darauf, die Folgen von Fehlern der Vergangenheit abzumildern. Denken Sie nur an den unglaublichen technischen Aufwand, mit dem das Bohrloch im Golf von Mexiko wieder verschlossen werden musste oder an die Entwicklung von Techniken für die CO2 -Abscheidung und -Speicherung.
Unseren Ideenreichtum müssen wir so nutzen, dass er unseren Kindern und Enkeln einen bewohnbaren und lebenswerten Planeten sichert. Ich bin sicher: Wir könnten so vieles besser machen - schon jetzt. Indem wirEnergien und Ideen in einen nachhaltigen Umbau der Industriegesellschaft stecken. Und damit zugleich unseren Platz in der Welt sichern. Denn Deutschland ist da gut, wo die Innovationsfreude am größten sein muss: bei erneuerbaren Energien, moderner Kraftwerkstechnik, ressourcenschonenden Produktionsverfahren und der Entwicklung von geschlossenen Produktionskreisläufen, bei rückstandsfreier Chemie, bei Verfahren zur Luftreinhaltung, Wasseraufbereitung und -klärung, bei umweltfreundlicher Verkehrstechnik, bei nachhaltiger Biotechnologie.
Die mit immer mehr Nachdruck gestellten Fragen nach dem Verhältnis von Kosten und Nutzen großer Investitionen sind urdemokratische Fragen. Es muss Raum geben, sie so zu diskutieren, dass ein für das Gemeinwohl tragfähiger Kompromiss herauskommt. Viele Bürgerinnen und Bürger sind wacher geworden, anspruchsvoller, informierter, und sie tun das, was in einer Demokratie nötig ist. Sie mischen sich ein in die öffentlichen Angelegenheiten, in die "res publica". Sie wollen nicht nur betroffen, sondern beteiligt sein - an denEntscheidungen, die ihre Zukunft mitgestalten werden. Letztlich also genau das, was in vielen Sonntagsreden über Demokratie verlangt wird.
Was nicht zugelassen werden darf, ist das "Sankt-Florian-Prinzip" - zwar prinzipiell für etwas zu sein, nicht aber, wenn es mich persönlich betrifft. Und auch alles Neue per se abzulehnen darf keine akzeptierte Haltung sein. Aber da, wo Alternativen entwickelt werden, wo Sachargumente ausgetauscht werden, da müssen die Proteste ernst genommen werden. Politikerinnen und Politiker werden sich künftig im Vorfeld von großen Projekten - nicht nur im Bereich der Infrastruktur - viel stärker als bisher um Erläuterung und öffentliche Zustimmung bemühen müssen.
Gerade auch die Parteien sollten diese Energie, dieses Engagement aufgreifen, wenn sie als Orte der politischen Willensbildung weiterhin glaubhaft und unverzichtbar bleiben wollen. Dabei gibt es viele neue Möglichkeiten, viele neue Formen von Transparenz und Öffentlichkeit, etwa via Internet. Mir persönlich liegt sehr viel daran, die Menschen wieder stärker für die Idee der politischen Mitbestimmung und des Zusammenhalts zu begeistern. Darum habe ich gemeinsam mit der Bertelsmann Stiftung und der Heinz Nixdorf Stiftung das "Bürgerforum 2011" ins Leben gerufen, bei dem 10.000 Bürgerinnen und Bürger eigene Ideen und Vorschläge für die Zukunft unseres Landes entwickeln, in virtuellen Diskussionsrunden und bei Treffen überall in Deutschland.
Wenn Politik sich wieder stärker im Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern entfaltet, wenn leidenschaftlich debattiert wird - dann wird, da bin ich sehr zuversichtlich, auch die Akzeptanz zunehmen für notwendige Sachentscheidungen und auch für die Demokratie insgesamt. Ich bin darum sehrgespanntauf Ihr Impulsreferat, HerrLeggewie. Denn Sie sagen ja: Die Demokratien des Westens stehen vor die Herausforderung, sich so zu modernisieren, dass sie zukunftsfähig werden - vor dem Hintergrund von Klimawandel, schwindenden Ressourcen, Umweltverschmutzung, Ernährungskrisen und Bevölkerungswachstum.
Fest steht: Wir sind für unsere Zukunftsgestaltung auf Innovationen angewiesen und diese wiederum auf gute politische, wissenschaftliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Darum brauchen wir Institutionen wie den Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft - meinen herzlichen Dank für Ihre Arbeit und die besten Wünsche für die Zukunft.