Redner(in): Christian Wulff
Datum: 17. März 2011

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Christian-Wulff/Reden/2011/03/110317_kongresseroeffnung-bewegte-kindheit.html


Es ist wohl ein Zeichen unserer Zeit, dass es gerade heutzutage einen Kongress zur frühkindlichen Erziehung unter dem Titel "Bewegte Kindheit" gibt. Mit diesem Titel verbindet sich der Appell "Kinder brauchen Bewegung" mit der kritischen Feststellung "Kinder haben heute weniger Bewegung als sie brauchen".

Wie alles im Leben, wie alles in der Welt, haben auch scheinbar so unveränderliche Phänomene wie Lebensalter eine Geschichte. Sie verändern sich. So wie sich das Alter verändert, so verändert sich auch die Kindheit.

Historiker belehren uns darüber, dass es bis vor wenigen Hundert Jahren so etwas wie Kindheit gar nicht gegeben habe. Kinder waren einfach da und wurden im Übrigen so behandelt wie kleine Erwachsene. Und auch seitdem es die Kindheit gibt, seitdem wir sie als eigenen Lebensabschnitt mit eigenen Gesetzen erfahren, hat sich viel verändert.

Vor 100, ja selbst vor 50 Jahren noch wären ein Kongress zur "Bewegten Kindheit" oder ein Appell für mehr Bewegung in der Kindheit auf vollkommenes Unverständnis gestoßen. Bewegung und Kindsein - das gehörte selbstverständlich zusammen. Auf dem Lande sowieso, wo Kinder in der Natur und auch in der Landwirtschaft immer Bewegung hatten, manchmal übrigens mehr als ihnen lieb war oder auch gut tat, wenn sie schon sehr früh auf dem Feld oder im Stall mitarbeiten mussten.

Aber auch in den Städten gab es Platz genug für Bewegung aller Art, es gab Stadtbrachen, es gab weniger Verkehr, aufgelassene Grundstücke, nicht eingezäunte Bahndämme und vieles mehr. Und es gab auch Eltern, die ihre Kinder ganze Nachmittage lang nach draußen schickten, um irgendwo zu spielen, auch unbeobachtet, auch ohne dass sie über Handy erreichbar waren, auch ohne Ortungsmöglichkeit mittels GPS-Armband. Kinder waren in Bewegung - und sie durften dabei für sich sein!

Das Leben, die Welt, unsere Städte und Dörfer haben sich verändert. Und auch die Kindheit.

Die Kinder von heute haben weniger Platz. Die Kindheit hat weniger Raum. Und von klein auf scheint unser Leben heute immer mehr "angeschlossen" zu sein: an die Wohnung, an Geräte, an Kommunikationstechnologien, an Institutionen. Wahrscheinlich war noch keine Kindergeneration so beobachtet, so behütet, beschützt und betreut - aber wahrscheinlich war auch keine deshalb so beengt, kontrolliert, und gegängelt. Und auch so unbeweglich.

Das tut nicht gut. Bewegungslosigkeit widerspricht wichtigen, zentralen Anlagen im Menschen. Das wissen wir ganz genau.

Bewegungslosigkeit tut zuerst unserem Körper nicht gut. An erster Stelle ist die Gesundheit gefährdet. Wir alle, und die Kinder zuerst, werden zu dick, zu ungelenkig, zu ungeschickt. Viele bekommen einfachste Tätigkeiten nicht mehr hin: geradeaus rennen, rückwärts gehen, werfen. Das gefährdet nicht nur die Gesundheit, sondern verhindert auch die Entfaltung unserer körperlichen Möglichkeiten. Zum ganzen Menschen gehören auch die körperliche Gesundheit und die körperliche Ausdrucksfähigkeit. Beides brauchen wir zum Wohlbefinden und zur Glückserfahrung.

Aber Bewegungslosigkeit gefährdet auch unseren Geist: Hirnforschung und Neurologie zeigen, dass Intelligenz und Einsichtsfähigkeit, dass Lernfähigkeit und Lernbereitschaft, dass Kreativität und Einfallsreichtum bei Kindern, die sich nicht oder kaum bewegen, viel schwächer sind. Wer wenig Raumerfahrung hat, hat auch weniger Vorstellungsvermögen. Bewegung macht klug und neugierig, macht eben auch geistig beweglich.

Unser Leib, unser ganzheitliches Wesen, besteht aus Körper und Geist. Die Beweglichkeit des einen hängt vom anderen ab - und damit Zufriedenheit und Glück. Das gilt für Kinder und für Erwachsene.

Und schließlich gefährdet Bewegungslosigkeit auch unsere Seele. Die Seele, die zu großen Gefühlen fähig sein kann - zu Liebe und Trauer, zu Wut und Leidenschaft, zu Stolz und Demut - auch die Seele muss geweckt, gerührt, bewegt werden - um nicht seelenmüde, gar lebensmüde zu werden. Eines der schönsten deutschen Worte, das Gemüt, bezeichnet den tiefen Lebensgrund, den Seelengrund, der jede einzelne Persönlichkeit prägt. Und die "Gemütsbewegung" brauchen wir alle. Als Kinder müssen wir sie schon erfahren, um nicht gefühlskalt, unberührbar, träge zu werden. Die Depression, unsere neue Volkskrankheit, ist auch ein Ausdruck einer müden Seele, die keine Trauer und kein Glück - mehr - kennt. Ohne Gemütsbewegung werden die Menschen "gemütskrank".

Unser Körper, unser Geist, unsere Seele: Der ganze Mensch braucht Bewegung, Kinder brauchen Bewegung, unsere Gesellschaft braucht Bewegung.

An vier Dimensionen des Menschseins kann man die Bedeutung von Bewegung für unsere Erfahrung besonders gut begreifen:

Erstens und vor allem anderen ist Bewegung ein Ausdruck von Freiheit."Bewegungsfreiheit" ist die elementare Freiheit des Menschen. Was Freiheit ist, was Freiheit sein kann, das erfährt der Mensch als Kind, wenn er sich bewegt. Noch vor aller politischen, gesellschaftlichen und intellektuellen Bedeutung von Freiheit erfährt man Freiheit, wenn man seine Hände und Füße gebrauchen kann wie man will, wenn man laufen, springen, schwimmen, klettern, Rad fahren, graben, bauen, tanzen kann. Die erste, ursprüngliche, ganz einfache, eben: elementare Erfahrung von Freiheit ist es, die ich mache, wenn ich mich frei bewege. Bewegte Kindheit ist Erfahrung von Freiheit.

Bewegung ist zweitens auch die erste und elementare Erfahrung von Persönlichkeit, von Subjektivität. Denn es sind seine Bewegungen, die ein bestimmtes Kind ausübt, es ist seine unverwechselbare Art zu laufen oder zu springen, zu tanzen oder zu bauen. Wie ich mich bewege, so bewegt sich kein anderer. Die Bewegungen eines Körpers sind Ausdruck einer unverwechselbaren Persönlichkeit. Bewegte Kindheit ist Erfahrung von Individualität.

Bewegung bringt zum dritten auch die Erfahrung von Grenzen. Die körperlichen Kräfte können wachsen, man kann geschickter werden, trainierter, geübter, stärker: aber man kann nicht alles. Die Kräfte eines jeden sind begrenzt, man wird erschöpft und müde - und man kann das eine: vielleicht Rad fahren, besser als das andere: vielleicht schwimmen. Zu den wichtigsten Erfahrungen, die man machen muss, um nicht ein vollkommen unverträglicher Zeitgenosse zu werden, ist die Erfahrung von Grenzen. Ich bin nicht allmächtig und ich bin kein Alleskönner. Bewegte Kindheit ist die Erfahrung von Grenzen.

Und schließlich viertens: Bewegung gehört zur Erfahrung von Gemeinschaft. Zur Gemeinschaft gehört immer beides: Konkurrenz und Solidarität, Wettkampf und Zusammengehörigkeit. Auch die elementare Erfahrung von Gemeinschaft wird durch Bewegung geschult. Vom einfachen Wettlauf über das Einfangen spielen, bis zum Räuberleiter machen und zum ersten Fußballspielen: Überall werden auf einfachste Art die Erfahrungen von Wettkampf und Zusammenspiel, von körperlicher Stärke und von Ausgewiesensein, von Mannschaftsgeist und eigenem Beitragenkönnen gemacht. Und man erfährt, dass man gemeinsam buchstäblich etwas bewegen kann. Bewegte Kindheit ist die Erfahrung von Gemeinschaft, von bewegter und bewegender Gemeinschaft.

Bewegung, so habe ich versucht zu sagen, schult die Erfahrung von Freiheit, von Persönlichkeit, von Grenzen, von Gemeinschaft. Das aber sind Lebenserfahrungen, die wir alle brauchen, um ganzheitliche, zufriedene, gemeinschaftsfähige, ja glückliche Menschen zu werden.

Nach diesen Werten sollte unsere ganze Erziehung ausgerichtet sein, ob zu Hause, ob in der frühkindlichen Phase, ob im Kinderkarten, in der Grundschule oder in der Sekundarstufe.

Wenn Bewegung - in welcher Weise auch immer - diese Erfahrungen ermöglicht, dann ist das gut und unschätzbar wichtig. Diese Ziele sind aber in allen anderen Feldern, auf denen Kinder und junge Menschen leben lernen, genauso wichtig. Und auch vieles andere dient der Erfahrung, der Einübung und der Wertschätzung von Freiheit, von Persönlichkeit, von Grenzen und von Gemeinschaft.

Dabei ist die Anerkennung jedes Menschen und jedes noch so kleinen Kindes als eine eigene unverwechselbare Persönlichkeit für alle Erzieherinnen und Erzieher wichtig. Nur wenn Kinder erfahren, dass sie wertgeschätzt werden, werden sie auch lernen, andere und anderes wertzuschätzen. Wenn wir heute von Erziehung zu Werten reden, dann ist dieser Zusammenhang, diese emotionale Erfahrung so wichtig, die vor jedem Lerninhalt steht. Es ist wichtig, dass Kinder Werte erleben, dass sie nicht nur intellektuell, sondern emotional erfahren, dass etwas wertvoll ist.

Wissen ist wertvoll, auch fremde Sprachen zu können ist wertvoll. Kunst ist wertvoll, musizieren, malen, lesen, Geschichten erfinden und erzählen ist wertvoll. Tüfteln, erfinden, Probleme lösen: all das ist wertvoll. Und all das sollten Kinder als wertvoll erleben - und deswegen aus sich selber erstreben und wollen.

Und manches ist Menschen sogar mehr als wertvoll, nämlich heilig, wie zum Beispiel ihr Glaube, ihre Religion, ihre Überzeugung. Auch das sollten Kinder früh erfahren: Dass es im Leben etwas gibt, das Menschen heilig ist. Und dass man das respektiert, auch wenn man selber anders denkt und glaubt.

Aber die wichtigste Erfahrung, die allen Werterfahrungen zugrunde liegt, ja, die jede Werterfahrung erst möglich macht, ist die, dass sie selber wertvoll sind.

Kinder sollen nicht erzogen werden, um zu funktionieren. Kinder und Kindererziehung sind nicht die Abziehbilder unserer pädagogischen Theorien und auch nicht die Experimentierfelder für die Umsetzung unserer neuesten neurologischen Erkenntnisse.

Kinder sind zuerst Kinder. Punkt. Sie haben ein Recht auf ihr Leben, ihre Freiheit, ihre Persönlichkeit, so wie sie ihre Grenzen anerkennen müssen und die Rechte der anderen. Ich weiß, dass sich das alles einfacher sagen lässt, als es in der Praxis dann umgesetzt werden kann. Aber unabhängig von den jeweiligen Gegebenheiten, unabhängig von allen familiär bedingten oder gesellschaftlich verursachten besonderen Problemen, sollte unsere Einstellung Kindern gegenüber immer klar sein: Sie sind eigene Persönlichkeiten. Die Aufgabe der Erziehung ist es, dass sie sich nach ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten entwickeln können.

Kinder sind kein Projekt. Sie sind kein gesellschaftliches Projekt, wie in Diktaturen, die, wie wir aus unserer Deutschen Geschichte allzu gut wissen, immer auch Erziehungsdiktaturen sind. Sie sind aber auch kein privates Projekt, in dem sich Eltern nach ihren Vorstellungen selbst verwirklichen wollen. Kinder sind keine Objekte im Lebensdesign noch so moderner Eltern oder Erzieher. Je mehr Kinder sich nach ihren eigenen Vorstellungen bewegen, umso deutlicher merken wir das.

Mit jedem Kind kommt ein neuer Blick auf die Welt, mit jedem Kind kommt eine neue Möglichkeit, die Welt zu sehen und die Welt zu gestalten. Kinder brauchen nicht nur Bewegung: Kinder bringen immer neu in Bewegung. Sie halten uns nicht nur auf Trab, wie wir sagen, sie sorgen dafür, dass die Welt sich weiter dreht, dass die Welt immer wieder jung wird.

Es gab vor vielen Jahren ein Lied mit dem Titel "Kinder", das anfing mit den Worten: "Sind so kleine Hände, winzge Finger dran...". Es stammt von der Liedermacherin Bettina Wegner, die 1983 aus der DDR in die BRD ausgewiesen wurde. Damals war es sehr bekannt und auch heute noch können uns manche Zeilen bewegen. Am Ende heißt es in dem Lied: Ist so ' n kleines Rückgrat, sieht man fast noch nicht.

Darf man niemals beugen, weil es sonst zerbricht.

Grade, klare Menschen wär ' n ein schönes Ziel.

Leute ohne Rückgrat hab ' n wir schon zuviel."

Das ist ein Plädoyer für den Aufrechten Gang, für den autonomen, selbstbestimmten Menschen, dessen Geschichte, wenn es gut geht, mit einer glücklichen, einer bewegten Kindheit beginnt.

Ein letzter Gedanke: Kinder brauchen Bewegung und bringen Bewegung. Aber sie brauchen auch Fixpunkte der Orientierung. Eines sollte für jedes Kind geradezu unerschütterlich feststehen, nämlich die Botschaft: Du bist nicht allein.

Sie gilt in doppelter Hinsicht. Einmal: Du bist nicht allein. Das heißt: es gibt auch noch andere, auf die Du Rücksicht nehmen musst. Du sollst Dich bewegen, so viel Du magst, aber dreh Dich nicht nur um Dich selbst! Und zum Zweiten: Du bist nicht allein. Das heißt: Was immer Du getan hast, wie immer Du Dich fühlst, wie weit weg auch immer Du Dich bewegt hast: Du kannst immer wiederkommen, wie immer Du bist oder geworden bist: Du bist nicht allein. Wir sind für Dich da.

Vielen Dank.