Redner(in): Roman Herzog
Datum: 19. Februar 1999
Anrede: Meine Damen und Herren,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1999/02/19990219_Weimar_Kulturhauptstadt.html
zwei junge Männer, der eine 18, der andere 26 Jahre alt, stehen stundenlang auf dem Marktplatz in Weimar und erschrecken die Bürger mit dem lauten Knallen von Riemenpeitschen. Anschließend geben sie sich dem Weine hin, bis zur "sinnlosen Trunkenheit". Auch sonst ist von den beiden mancher Schabernack überliefert, und halb Europa fragte sich wahrscheinlich, wohin das führen sollte. Denn die beiden waren, wie wir sagen würden, Prominente. Heute wissen wir, wohin es geführt hat: Ohne diese beiden jungen Herumtreiber gäbe es das große Zeitalter der Weimarer Klassik nicht, nicht den Mythos Weimar und sicherlich nicht den heutigen Anlaß.
Der 18jährige Herzog Carl-August und der schon europaweit bekannte, 26jährige Dichter Johann Wolfgang Goethe, waren zu Anfang mitunter durchaus ein skandalträchtiges Freundespaar. Aber durch ihre Freundschaft, ihre politische, intellektuelle und kulturpolitische Zusammenarbeit ist Weimar zu dem geworden, was es heute bedeutet.
Weimar ist Deutschland in nuce. Hier konzentriert sich vieles von dem, was unser Land, unsere Kultur und unsere Tradition ausmacht. Deswegen freue ich mich, daß Weimar in diesem Jahr Kulturhauptstadt Europas ist.
Nun ist es mit dieser Wahl so eine Sache. Eigentlich kann man ja nicht zu einer Kulturstadt gewählt werden. Entweder man ist es oder man ist es nicht. Weimar ist ganz gewiß seit langem nicht nur eine deutsche, sondern eine europäische Kulturstadt. Die Auszeichnung ist also in erster Linie eine publikumswirksame Anerkennung dessen, was seit langer Zeit der Fall ist.
Weimar, das bedeutet eine große Zahl kultureller Erinnerungen:
Neben diese kulturellen Erinnerungen tritt natürlich die Erinnerung an die Nationalversammlung vor 80 Jahren, an die erste demokratisch-republikanische Verfassung Deutschlands. Auch diese Verfassung ist nicht nur eine politische, sondern zugleich eine große kulturelle Leistung gewesen - und an ihr hat es wahrlich nicht gelegen, daß die Republik, die den Namen dieser Stadt trug, nur so kurze Zeit Bestand hatte.
In der Tat: Ohne Weimar ist die Geschichte der deutschen Kultur nicht denkbar.
Wenn wir sagen, Weimar ist Deutschland in nuce, dann sagen wir damit auch, daß es eine Stadt ist, in der nicht nur Kultur und Geist, sondern auch Unkultur und Barbarei zu Hause waren. Wer sich der lichtvollen Seiten der Geschichte erinnert, darf die dunklen und furchtbaren Seiten nicht vergessen. An diesem Ort kann man das am allerwenigsten. Das nahegelegene Buchenwald - und das wofür es, vor und nach 1945, steht - ist und bleibt eine schreckliche Erinnerung, und es ist zugleich eine Mahnung. Kultur und Zivilisation, die in Weimar so wunderbare Blüten hervorgebracht haben, sind immer bedroht, sie sind nie endgültig gesichert. Kultur und Zivilisation sind niemals ein für allemal fester Besitz. Sie müssen von jedem Einzelnen, von jeder Gemeinschaft und von jeder Generation immer wieder aufs neue angenommen und neu errungen werden.
Es gibt keine glorreiche Vergangenheit, auf der wir uns ausruhen dürften oder auf die wir nur stolz zu sein bräuchten. Kulturelle Leistungen der Vergangenheit sind nur durch eigene Arbeit, eigenes Verstehen, eigene Produktivität lebendig zu halten.
Ich wünsche mir deshalb besonders, daß in diesem Jahr, in dem Weimar im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit steht, eine lebendige Auseinandersetzung mit dem Erbe der deutschen Klassik neu beginnt, und zwar nicht nur mit dem, was in Weimar hervorgebracht wurde.
Denn nicht, daß die klassischen Texte geschrieben sind, macht sie bedeutsam, sondern daß sie gelesen und bedacht werden. Wenn Weimar Kulturstadt Europas ist, dann ist das für uns alle nicht nur eine Ehre, sondern es muß eine Herausforderung sein. Wir müssen vor allem bedenken und überlegen, welches Erbe, welche Kultur wir in das zusammenwachsende Europa einbringen können und wollen.
Jedes europäische Land, ja jede europäische Region leistet hierzu hat ihren eigenen, unverwechselbaren Beitrag, und Europa kann nur dann seine Stärke und Kraft behalten, wenn die verschiedenen Kulturen ihre jeweils eigene Stimme, ihr jeweils eigenes Profil nicht verlieren.
Dazu gehört es aber, daß man seine eigene kulturelle Tradition kennt und daß man in einer gewissen Selbstverständlichkeit mit ihr umgeht. In den vergangenen Jahrzehnten ist das klassische Erbe streckenweise vergessen, verloren oder auch als angestaubt beiseite geschoben worden. Ein literarischer Kanon galt als obsolet, der Begriff des "klassischen Werkes" wurde eher ironisiert. Die "Textsorte Goethe" und die "Textsorte Kreuzworträtsel" der ich übrigens ihren Wert gar nicht absprechen möchte wurden - ich übertreibe nur wenig - als gleichrangig angesehen. Zumindest im Westen Deutschlands war das so. In der DDR war zwar eher eine angestrengte Bemühung zu verzeichnen, das hier so genannte "nationale Kulturerbe" zu bewahren, aber das ging dafür nicht ohne Versuche der ideologischen Vereinnahmung ab.
Ich glaube ganz bestimmt nicht, daß wir eine Wiederaufnahme nationaler Goethe- oder Schiller-Feiern brauchen, wie sie bis zur Mitte dieses Jahrhundert üblich waren. Zudem hat die gute Literatur ganz gewiß nicht mit dem Tode Goethes aufgehört.
Ich bin aber fest davon überzeugt, daß es der Bildung der Schüler nicht schaden würde, wenn man neu über einen Kanon nachdächte. Ich habe bei verschiedenen Gelegenheiten schon darauf hingewiesen und freue mich, daß kürzlich auch der Bundestagspräsident dafür geworben hat.
Ich will noch einmal die Gründe nennen, die mich dazu bewegen, für so etwas wie einen literarischen Kanon zu werben.
Gerade in unserer Zeit, in der das Wissen immer größer und immer unüberschaubarer wird und in der die Spezialisierungen zwangsläufig immer mehr zunehmen, sollten wir einige, uns allen gemeinsame Bezugsgeschichten haben, über die wir uns in den Auseinandersetzungen der Gegenwart verständigen können. Wenn jeder nur noch in seinen eigenen Spartenkanal schaut und nur noch in seinem Fachgebiet zu Hause ist, wird eine gesellschaftliche Verständigung über die Grundthemen des Zusammenlebens immer schwerer.
Trotz der Zunahme visueller Kommunikation, trotz der Bilderflut, trotz der symbolischen Schnittstellenkommunikation am Bildschirm bleibt die Sprache die Grundlage unseres Denkens und unserer Rationalität. Unsere Vernunft ist grammatisch strukturiert. Deswegen tut jedem Schüler die Auseinandersetzung mit wirklichen Meistern der Sprache gut. Anspruchsvolle Sprache fördert anspruchsvolles Denken. Wer mit Meistern der Sprache einmal Umgang hatte, wird außerdem auch hellhöriger für den Mißbrauch der Sprache, für Propaganda, für hohle Phrasen, für Denkfaulheit. Wir bleiben den jungen Menschen wesentliches schuldig, wenn wir sie damit nicht mehr konfrontieren.
Mein Plädoyer für einen Kanon wäre allerdings mißverstanden, wenn man sich darunter ein rein affirmatives Verhältnis vorstellen würde. Lebendig bleiben die Autoren und Werke der Vergangenheit nur, wenn wir uns mit ihnen kritisch auseinandersetzen, wenn wir sie, wie Bert Brecht gesagt hat, auf ihre Brauchbarkeit prüfen.
Mein Plädoyer für einen Kanon würde ebenfalls mißverstanden, wenn man daraus ein auf die Vergangenheit fixiertes, ein nostalgisches Denken ableiten wollte. Wer mich kennt, der weiß, daß es mir immer darum geht, für unsere Gesellschaft eine gute Zukunft zu gewinnen und diese gemeinsam zu erarbeiten. Dazu brauchen wir mehr als politische Strategien oder technologische Großziele. Eine wahrhaft menschliche Zukunft gibt es nur, wenn auch die kulturellen Bedürfnisse, ja die Sehnsüchte der Menschen ernst genommen werden. Deswegen müssen Eltern und Erzieher auch für künstlerische Begabungen und Qualitäten sensibel sein und sie fördern. Deswegen muß es auch für anspruchsvolle und selbst für nicht sofort mehrheitsfähige Kunst ausreichende Spielräume geben. Deswegen darf die Kultur nicht automatisch das Erste sein, das einem beim Stichwort Sparen einfällt. Deswegen muß schließlich daran gearbeitet werden, daß die Kommunikationsblockaden zwischen politischer und ökonomischer Intelligenz auf der einen Seite und kultureller Intelligenz auf der anderen Seite abgebaut werden, und dafür sind Weimar und das Verhältnis zwischen Herzog Carl-August und Goethe ein bleibendes, wenn auch nicht einfach zu kopierendes Beispiel. So wie der junge Herrscher sich nicht scheute, den Sturm-und-Drang-Dichter an sich zu binden und ihm sogar exekutive Funktionen zu übertragen, so hatte der Lebenskünstler und Individualist Goethe keine Ängste, sich in Staatsdiensten zu bewähren. Beide haben davon profitiert.
Festakte wie dieser haben es an sich, daß man zurückblickt. Wichtig ist aber, die Zukunft im Blick zu halten. Ich glaube, daß wir allen Grund haben, optimistisch zu sein. Die Städte und Regionen Europas, die eine so vielfältige Kultur hervorgebracht haben, werden das auch in Zukunft tun. Wo das geschieht, kann allerdings niemand voraussehen. Man sollte da auch nicht allzuviel planen. Kultur entsteht oft überraschend und unvermutet dort, wo man es am wenigsten erwartet.
Der Stadt Weimar wünsche ich jedenfalls ein erfolgreiches Jahr als europäische Kulturstadt - nicht nur als Museum vergangenen Glanzes, sondern auch als Experimentierfeld des Neuen.