Redner(in): Roman Herzog
Datum: 17. März 1999
Anrede: Sehr geehrte Damen und Herren,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1999/03/19990317_Rede.html
daß eine Branchenmesse in kurzer Zeit zur größten Messe der Welt aufsteigt, ist sicherlich keine Selbstverständlichkeit. Die CeBIT kann diesen Superlativ für sich in Anspruch nehmen, und das wird? so meine ich? noch eine Weile so bleiben.
Für diese Entwicklung sind aus meiner Sicht vor allem drei Gründe verantwortlich: Erstens ist die Informations- und Kommunikationstechnologie-Branche, die sich hier alljährlich trifft, dieSchlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts; die Größe des Forums korrespondiert also folgerichtig mit der Bedeutung der Branche. Zweitens dürften nirgendwo sonst so schnell und so viele neue Produkte entwickelt werden, und diese Produktvielfalt braucht naturgemäß ein großes Schaufenster. Und drittens kommt dafür natürlich kein beliebiges Schaufenster infrage; man wählt sich vielmehr einen Messeplatz, der bei Ausstellern und Besuchern ausgewiesen ist, und Hannover genießt schon seit langer Zeit einen ausgezeichneten Messe-Ruf und ist längst in den Olymp der Messe-Städte aufgerückt. Wenn Hannover im nächsten Jahr die Welt zur EXPO 2000 empfängt, wird das seinen Ruf noch weiter festigen.
Daß die deutsche Industrie in der Oberliga der Informationstechnologie-Branche nicht nur kräftig mitmischt, sondern - man muß sagen: wieder - eine Hauptrolle spielt, stellt diese CeBIT-Messe nachhaltig unter Beweis. In unseren östlichen Bundesländern haben wir das modernste Telefonnetz der Welt. ISDN, das derzeit effizienteste und schnellste Daten-Netz, ist in Deutschland verbreitet wie in keinem anderen Land. Gewiß war man in Deutschland anfänglich gegenüber der Nutzung von Internet und online-Verbindungen eher etwas zögerlich, aber heute gehört die Anzahl von Internetanschlüssen je Kopf mittlerweile zu den höchsten in der Welt.
Der Übergang zur Informationsgesellschaft, den wir jetzt erleben, ist ebenso umfassend und einschneidend wie die Veränderung im 19. Jahrhundert, als sich in Europa die Industriegesellschaft herausbildete.
Von den neuen Informationstechniken geht große Faszination aus, vor allem auf die Jugend. Der Phantasie über ihre Einsatzmöglichkeiten sind kaum Grenzen gesetzt, da unterscheiden wir uns kaum von anderen Nationen. Allerdings verbinden manche damit auch Befürchtungen. Jede neue Entwicklung ist vor allem eine Herausforderung - aber die wenigsten sind eine wirkliche Bedrohung. Man muß sie wahrnehmen und zugleich an der Lösung der Probleme arbeiten. Der Kalendersprung ins nächste Jahrhundert etwa ist ein gravierendes Computer-Problem: Aber es ist lösbar; sträflich leichtsinnig und verantwortungslos wäre es nur, diesem Problem nicht die notwendige Beachtung zu widmen.
Bei den Spekulationen über faszinierende Entwicklungen oder über Gefährdungsszenarien mag im übrigen auch die von runden Kalenderzahlen ausgehende Magie eine Rolle spielen. Ein Blick in die Druckerzeugnisse des Jahres 1899 zeigt, daß es sehr viele wirtschafts- und politpsychologische Parallelen zwischen heute und der Zeit vor hundert Jahren gibt. Der damalige Rektor der Königlich Technischen Hochschule zu Berlin bezeichnete damals die Welt als "brodelnden Kessel". Der Geschichtswissenschaftler Joachim Radkau konstatierte, daß viele Arbeiter und Angestellte sich über wachsende Hetze und unerträglichen Leistungsdruck beklagten und daß eine weitere Beschleunigung des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts ihm schlicht nicht mehr vorstellbar erschien. Mit diesen Feststellungen kann man ziemlich genau auch die Befindlichkeiten mancher unserer Zeitgenossen charakterisieren. Konsens besteht nur darüber, daß das neue Jahrthundert mit epochalen Umwälzungen einhergehen wird.
Die Ökonomen haben in diesem Zusammenhang den Begriff des Kondratieff-Zyklus geprägt, wonach in langen Wellen außergewöhnliche technische Innovationen auftreten, die das gesamte gesellschaftliche Leben umwälzten und die mit beispiellosen Einkommens- und Wohlstandsschüben für die Menschheit verbunden seien. Daß mit dem Informationszeitalter ein solcher neuer Zyklus eingetreten ist, wird von niemandem ernsthaft bezweifelt; insofern wäre die Frage, ob es sich dabei um einen Jobknüller oder Jobkiller handelt, eigentlich leicht beantwortet. Aber selbst Ökonomen behaupten nicht, daß der Kondratieff-Zyklus ein ökonomisches Gesetz sei, bei dem man nur abwarten müsse, bis sich die positiven Ergebnisse von selbst einstellten. Nein: Es ist eine gigantische Gestaltungsaufgabe, das gesamte Potential der Informations- und Kommunikationstechniken zugunsten von Wohlstand und Beschäftigung zu nutzen. Hier sind Politik, Wirtschaft, aber auch jeder einzelne von uns gefordert.
Entscheidend ist dabei, daß wir die Möglichkeiten als Chancen begreifen und uns von den Befürchtungen nicht lähmen lassen. Internationalisierung und Globalisierung eröffnen ganz neue Möglichkeiten. Ich sehe sie auch nicht notwendig im Widerspruch zu unserer Sehnsucht nach Überschaubarkeit. Je stärker wir in der Tradition verwurzelt sind und unsere Stärke auch aus ihr beziehen, desto weniger müssen wir vor neuen Techniken und vor dem Fortschritt Angst haben. Genau das wollte ich zum Ausdruck bringen, als ich vor rund einem Jahr bei der Eröffnung der Neuen Messe München davon sprach, daß in Bayern Laptop und Lederhose eine Symbiose eingegangen seien. Vielleicht sind in Bayern Tradition und Modernität sichtbarer als in anderen Regionen Deutschlands vereint. In Wirklichkeit ist diese Symbiose zwischen heimatlichem Verwurzeltsein und weltoffener Aufgeschlossenheit aber überall in Deutschland anzutreffen. Unsere Kraftquelle ist die Region. Unser föderales System und unsere dezentrale Struktur sind geradezu maßgeschneidert für die globalen Anforderungen? viel stärker, als jedes zentralistische Machtgefüge es sein könnte. Wir müssen die Vorteile nur ausspielen.
Die Informationswirtschaft dürfte auf absehbare Zeit der größte Wachstumsmarkt sein; manche Experten halten ihn sogar für den einzigen. Charakteristisch für die Branche wird schneller Wandel und ein starker Wettbewerb sein, der vor allem - natürlich - auch ein Geschwindigkeitswettbewerb ist. Das kann man insbesondere an der Entwicklung des Internet ablesen. Das Netz setzte sich schneller durch als jede andere Technik zuvor. Brauchte das Radio noch 38 Jahre, um 50 Millionen Hörer zu erreichen, so benötigte das Fernsehen für die gleiche Zahl nur noch 13 Jahre. Das Internet aber schaffte es in vier Jahren!
Wenn mittlerweile von der Internet-Ökonomie die Rede ist, so unterstreicht das deren großes wirtschaftliches Potential. Hier ist ein riesiger Markt für neue Unternehmen. Gerade unbekannte Newcomer eröffnen sich oft mit atemberaubender Geschwindigkeit via Internet neue Märkte, manche entwickeln sich schnell zu ernstzunehmenden Konkurrenten etablierter Branchenriesen.
Daß wir insgesamt mehr mutige Unternehmer brauchen - und zwar nicht nur im Internet - , habe ich immer wieder betont, und das bedeutet selbstverständlich vor allem auch Neugründungen. Nun kann man zwar zur Existenzgründung ermutigen, aber man kann sie nicht herbeireden. Das hat auch etwas mit dem öffentlichen Meinungsklima zu tun. Irgendwann in den siebziger Jahren wurde das Leitbild Unternehmer und Unternehmensgründer zum Zerrbild für unsere Gesellschaft. Damals setzten viele junge Menschen vor allem auf persönliche Sicherheit. Auch deshalb entstand eine Unternehmerlücke, die wir heute schmerzlich spüren. Aber die Situation bessert sich fühlbar.
Lag die Selbständigenquote bei uns noch vor wenigen Jahren auf dem historischen Tief von rund 7 % , so hat sie mittlerweile fast wieder die 10 % -Marke erreicht. Für junge Menschen ist es wieder attraktiv, selbständig zu sein. Es entspricht ihrem Lebensgefühl, und es bietet ihnen Perspektiven. Als hilfreich empfinde ich auch die Einrichtung von Existenzgründerlehrstühlen an unseren Universitäten. Allerdings geht es nicht nur um theoretische Fundierungen, sondern darum, den jungen Studenten die Möglichkeit einer Existenzgründung als reale Alternative nahezubringen. Notwendig ist es daher auch, daß in den Schulbüchern und in den Curricula der Hochschulen das Leitbild der Selbständigkeit wieder hervorgehoben wird.
Existenzgründung geht nicht ohne das notwendige Kapital? das ist eine Binsenwahrheit. Die Finanzierungsprobleme waren in der Vergangenheit sicherlich groß, als mit Recht der Vorwurf erhoben werden konnte, daß die Banken eher zur Förderung großer Projekte bereit seien, als einen kleinen Betriebsmittelkredit für einen jungen Existenzgründer zuzusagen, der als Sicherheit nichts als eine pfiffige, aber kaum bewertbare Idee mitbrachte. Das dürfte gerade auch für Existenzgründer in der Informations- und Kommunikationsbranche zugetroffen haben.
Sich das nötige Kapital zu verschaffen, ist heute aber gottlob nicht mehr das Hauptproblem. Schwieriger ist es schon, wenn ein Existenzgründer nach einem ersten Fehlschlag einen Neuanfang wagen will. Wichtig erscheint mir daher, daß bei uns eine Wagniskultur entsteht, zu der auch die zweite Chance gehört. Tatsächlich haftet in Deutschland einem Unternehmensgründer, der sich am Markt nicht behaupten konnte, ein dauerhafter Makel des Scheiterns an. Hier ist ein Umdenken, ein Differenzieren erforderlich.
Der Wettbewerb in der Internet-Ökonomie ist - wie schon gesagt - vor allem ein Geschwindigkeitswettbewerb. Weil die Grenzkosten für Produktion und Vertrieb von digitalen Angeboten gegen Null tendieren, scheinen die Gesetze der klassischen Ökonomie dort nicht mehr zu gelten. In der Internet-Ökonomie ist es möglich, daß sich Newcomer bei entsprechend geschickter Strategie innerhalb kürzester Zeit große Marktanteile erobern und schnell die Gewinnschwelle überschreiten. Genauso schnell kann dasselbe Unternehmen aufgrund des enorm starken Ausleseprozesses aber auch wieder aus dem Markt verdrängt werden. Die Zahl der Schließungen von relativ jungen Betrieben wird daher vermutlich zunehmen.
Wir sollten jedoch diesen Prozeß als etwas ganz Natürliches ansehen: Ein existenzwilliger Jungunternehmer muß nicht immer schon beim ersten Gründungsanlauf reüssieren. Im Informationszeitalter sollte es für ihn eine Chance auf einen zweiten Anfang geben.
Die Internet-Ökonomie wird auf das Konsumentenverhalten starken Einfluß haben. Informationen sind via Internet von jedem Punkt der Welt jederzeit für jeden einzelnen abrufbar. Der Konsument kann sich weltweit über das Angebot eines bestimmten Produktes oder einer bestimmten Dienstleistung informieren. Vergleiche von Preis und Qualität sind im Handumdrehen möglich; die Auszeichnungspflicht in EURO innerhalb der Wirtschafts- und Währungsunion sorgt dabei für einen zusätzlichen Schub an Transparenz. Das führt zwangsläufig zu mehr Wettbewerb, wovon der Konsument unweigerlich profitiert. Wie sich der Wettbewerb zum Vorteil des Verbrauchers auswirken kann, hat die Liberalisierung der Telekommunikationsmärkte gezeigt. In kaum vorstellbarem Maße haben die Telefongebühren seit Beginn des vergangenen Jahres nachgegeben - und genauso rasant ist der Sektor gewachsen. Unterm Strich bedeutete das eine Realeinkommenserhöhung für die Konsumenten und - nebenbei? neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Ein weiterer Aspekt, den ich ansprechen möchte, sind die Auswirkungen des Informationszeitalters auf unser Bildungssystem. Es wird sich den neuen Herausforderungen anpassen müssen, besonders weil entsprechend den Erfordernissen der Informationsgesellschaft immer wieder neue Berufsbilder zu entwickeln sind. Auch die Mobilität der Arbeitskräfte zwischen industriellen Tätigkeiten und Dienstleistungstätigkeiten ist bisher viel zu gering. Die Schulen müssen stärker das Lernen und Umlernen lehren; der organisatorischen Fähigkeit zur Weiterbildung kommt künftig eine elementare Rolle zu. Die übliche Lebensplanung, wonach das einmal erlernte Wissen lebenslang für die Aufgabenbewältigung an einem festen Arbeitsplatz innerhalb ein- und derselben Firma ausreicht, wird der Vergangenheit angehören. Damit wird aber auch eine größere Unabhängigkeit der Arbeitnehmer einhergehen, denn die lebenslange Bindung an einen Arbeitgeber ist künftig eben nur noch die Ausnahme, nicht mehr die Regel.
Das Bildungssystem muß sich daher nachhaltig mit den neuen Medien auseinandersetzen. Der geübte Umgang mit ihnen wird zu einer elementaren Kulturtechnik wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Das ist eine Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Lebensgestaltung.
Teile des Lehrvorgangs können in Zukunft durchaus auf den Computer übertragen werden. Dementsprechend wird sich die Aufgabe des Lehrenden von der Wissensvermittlung stärker auf das Lehren des Lernens verlagern, so daß neue Formen des Selbstlernens oder auch des Fernlernens am Computer an Bedeutung gewinnen. Aber auch auf Seiten des Lernenden wird sich Grundlegendes ändern: er wird Subjekt im Prozeß seines selbstgesteuerten Lernens sein? und damit wird Bildung als lebenslanger Prozeß des Sich-selbst-Bildens gefördert.
Die Telekommunikation schafft neue Berufsbilder und öffnet neue Segmente der Beschäftigung. Bislang ist die Nachfrage nach Fachkräften schneller gewachsen als die Ausbildungskapazität von Universitäten und sonstigen Bildungseinrichtungen. Viele Spezialisten haben sich ihr Wissen durch learning by doing erworben. Das war gut so, doch dürfte es auf Dauer nicht ausreichen. Es ist daher zu begrüßen, wenn neue Berufsbilder erstellt werden und auch hierfür berufliche Bildungsangebote vorliegen.
Lassen Sie mich zum Abschluß einen Blick auf die Veränderungen werfen, die die neuen Medien und besonders das Internet im Verhältnis zwischen Bürger und Staat bewirken. Der amerikanische Vizepräsident Al Gore geht soweit, daß er von einem neuen athenischen Zeitalter der Demokratie spricht; demnach würden die Einflußmöglichkeiten jedes einzelnen in die politischen Entscheidungsprozesse auch wieder direkter und viel sichtbarer werden. Man wird abwarten müssen, wie sich das wirklich entwickelt. Ganz sicher kann durch die Anwendung der neuen Medien aber die Emanzipation des Bürgers gegenüber dem Staat fortschreiten. Der Bürger wird zum Kunden und damit zum König, der international agiert. In einer solchen selbstbewußt agierenden Gesellschaft muß der Staat stärker um seine Bürger werben, so daß Verfassungsstaatlichkeit durchaus ein positiver Standortfaktor würde.
Fest steht jedenfalls, daß der Staat und die öffentliche Verwaltung noch lange nicht alle Möglickeiten ausgenutzt haben, das Internet als Serviceleistung für den Bürger anzubieten. Viele Behördengänge, die dem Bürger bekanntlich mehr Frust als Lust bereiten, könnten durch das Internet problemlos, schnell und effizient erledigt werden. Die öffentliche Verwaltung könnte auch via Internet über die Haushaltsplanung oder Planfeststellungsverfahren informieren. Die Transparenz würde enorm steigen, und auch die Einflußmöglichkeiten des Bürgers auf die Entscheidungsprozesse innerhalb ihrer gesellschaftlichen Verbände würden zunehmen. Ich bin sicher, daß das eine gute Medizin gegen die sogenannte Politikverdrossenheit wäre. Bessere Information, stärkere Mitsprache, mehr Demokratie? so könnte ein harmonischer Dreiklang der informationstechnischen Revolution entstehen.
Die CeBIT wird in den nächsten sieben Tagen wieder als globaler Marktplatz fungieren, der Anbieter und Nachfrager auf den Gebieten der Informationstechnik, Software und Telekommunikation aus der ganzen Welt zusammenbringt. Es würde mich nicht wundern, wenn neben den schon feststehenden Rekorden, was die Anzahl der Aussteller und die Größe der Ausstellungsfläche angeht, am Ende dieser Woche wieder ein neuer Besucherrekord festgestellt würde. Das wäre nur Ausdruck der Neugier und Faszination, die man allenthalben dieser Schlüsseltechnologie des nächsten Jahrhunderts entgegenbringt. Es würde gleichzeitig unterstreichen, daß in unserer Gesellschaft Technikfeindlichkeit und Innovationsangst allmählich der Vergangenheit anzugehören beginnen. Das wäre die wichtigste Botschaft, die von dieser Messe ausgehen könnte.
Ich erkläre die CeBIT 99 für eröffnet.