Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 3. Juni 2013
Untertitel: Bundespräsident Joachim Gauck hat am 3. Juni an einer Gesprächsrunde mit Teilnehmern der XV. Potsdamer Begegnungen aus Russland und Deutschland teilgenommen und über das Thema "Die Zukunftswirkung der Vergangenheit" diskutiert.
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2013/06/130603-Potsdamer-Begegnungen.html
Ihre Potsdamer Begegnung hat sich in diesem Jahr ein schwieriges Thema gestellt: Zukunftswirkung der Vergangenheit.
Schwierig nenne ich das Thema nicht nur, weil es sich mit dem Erbe schrecklicher Diktaturen auseinanderzusetzen hat, sondern weil die Gesprächspartner aus sehr unterschiedlichen Rezeptionskulturen kommen.
In Deutschland-West hat sich einst nach einer Verweigerungs- bzw. Verzögerungsphase nach dem Krieg ein selbstkritischer Geschichtsdiskurs entwickelt. Nicht mehr das eigene Leiden und die eigenen Verluste standen im Mittelpunkt des Geschichtsbildes, sondern die eigene Schuld unserer Landsleute, ihr Versagen bei der Rettung der Demokratie, ihre Grausamkeit gegenüber denen, die als "minderwertig" eingestuft waren. Mit tiefem Erschrecken waren sich allerdings erst eine Generation später die West-Deutschen darüber klar geworden, dass Deutschland nicht nur ein Feind der Staatsform der Demokratie gewesen war, sondern dass es die Humanität verraten hatte. Das Wissen, dass es auch in bösen Zeiten immer gute Menschen gegeben hat, half nicht mehr. Nur die Anerkennung der Wahrheit, auch Scham und Trauer konnten der Weg sein, neues Vertrauen zu sich selbst und unter den Nachbarvölkern herzustellen. Das Interessante an dieser westdeutschen Entwicklung war die Tatsache, dass die grausame historische Wirklichkeit der NS-Zeit auch in der Nachkriegszeit gar nicht verborgen war. Beständig existierten Subdiskurse: Die Opfer zum Beispiel haben ja über ihre Wahrheit nicht geschwiegen, über ihr Schicksal; die Nazigegner nicht, die Emigranten, die zurückkamen, nicht weniger die Juristen, aber die anderen folgten dem Gebot der Aufklärung. Sie sprachen aber zu einer Gesellschaft, die zu sehr mit Not oder Wiederaufbau beschäftigt war, als dass innere Einkehr oder so etwas wie eine "Durchhellung", so nannte es Karl Jaspers nach dem Kriege, hätte stattfinden können jedenfalls in der Masse nicht. Dieser Prozess, dass die Masse sich diesem Thema zuwendete, setzte dann mit Verzögerung ein und er hält bis heute an. Zur kollektiven Identität der Deutschen gehört heute das Bewusstsein eigener Schuld. Solange dieses Bewusstsein nicht einen neurotischen Alleinvertretungsanspruch erhebt, ist es nützlich und aufbauend für die Nation. Und genau das haben wir erlebt: Die Deutschen haben zu sich und zu anderen gefunden, als sie die historische Wahrheit und die Anerkennung eigener Schuld nicht mehr ausgeblendet oder marginalisiert haben.
Festhalten möchte ich also: Bevor dies zum Leitdiskurs einer ganzen Gesellschaft wurde, existierten Subdiskurse von Opfern und Wissenden. Aufarbeitung der Vergangenheit war noch nicht Allgemeingut, als das Wissen schon allgemein zugänglich war. Und je stärker die Gesellschaft sich in eine Zivilgesellschaft verwandelte, desto stärker wurde der Wunsch nach wirklicher Aufarbeitung.
Ich habe bei meinen Besuchen in unterschiedlichen Transformationsgesellschaften nicht nur in Europa übrigens viele Ähnlichkeiten entdecken können. Auch zeigt der Spezialfall der ostdeutschen Geschichtsaufarbeitung keinen anderen Befund als den einer gestuften Form der Aufarbeitung. Übrigens bei Ostdeutschland besonders interessant, denn es gab eine massive staatliche und zivilgesellschaftliche Aktivität in Richtung Offenheit und Selbstkritik. Gleichwohl vermochte eine große Masse der Bevölkerung in der ehemaligen DDR diesen Diskurs der Eingeweihten nicht zu ihrer Sache zu machen.
Nun schauen wir auf das heutige Russland: Das heutige Russland trägt in vielfältiger Weise Züge einer Transformationsgesellschaft. Und auch hier gibt es seit langem eindrucksvolle Diskurse: wissenschaftliche, künstlerische oder zivilgesellschaftliche Aktivitäten, die sich dem verbrecherischen Sowjetsystem widmen. Aber in diesem Prozess muss sich erst noch zeigen, wie unsere deutschen Erfahrungen bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit für die Aufarbeitung der langen Geschichte von Entfremdung, Rechtlosigkeit und Mord im Sowjetstaat genutzt werden können. Denn, so unterschiedlich die Ideologien der Diktatoren auch sein mögen, es gibt eine allgemeingültige Regel: Die Vergangenheit ist nicht vergangen, irgendwann tritt das Verdrängte wieder zu Tage. Die postkommunistische Gesellschaft muss sich mit sich selber einigen, ob sie Schuld analysieren, bereuen, sogar eventuell wiedergutmachen will. Möglichkeiten dazu gibt es viele. Und Regierungen können diese Prozesse fördern oder sie behindern.
Eine Gefahr sehe ich in Russland darin, dass die Zeit, als die Sowjetunion Opfer war, die Erfahrungen von Terror und Verlust der Humanität in der Gesamtära des Kommunismus überdeckt. Das gigantische Leid und die unvergleichlichen Opfer der Bevölkerung in Zeiten des "Großen Vaterländischen Krieges" werden ja noch Generationen beschäftigen. Ob die Erinnerung daran aber ausreicht, um die Nation mit sich selber zu versöhnen und die Entwicklung der Zivilgesellschaft zu befördern, das darf bezweifelt werden. Und zwar nicht aus Gründen der Politik, sondern der Psychologie. Es sind nicht nur die großen Siege, die das kollektive Gedächtnis prägen, und es sind nicht nur die großen Traumata, sondern es ist eben immer auch Schuld, und es ist die perpetuierte Ohnmacht, die sich einprägen in die Seele eines Volkes.
Dieses Wissen der Opfer, der Wissenschaftler oder der Künstler will eine Zivilgesellschaft irgendwann zu ihrem Allgemeingut machen. Und es muss zu einem Allgemeingut werden.
Nur wer keine selektive Geschichtspolitik betreibt, Forschungsmittel nicht einem politischen Zweck unterordnet, wer keine Mythen restauriert oder pflegt, kann ein Geschichtsbild schaffen, indem sich die gesamte Gesellschaft wiedererkennt. Vielleicht sprechen sie ja auch darüber, dass manchmal die Regierenden und große Teile der Regierten gemeinsame Interessen haben, die historische Wahrheit zu frisieren. So habe ich es jedenfalls in Deutschland eine lange Zeit erlebt. Wer einen starken Staat und nationale Größe möchte, wer gar einem vergangenen imperialen Gestus nachtrauert, der wird aufklärerische Subdiskurse nicht unbedingt fördern.
In diesem Zusammenhang fragen sich viele in Deutschland, welche Zukunft die verdienstvolle Arbeit unserer Freunde von "Memorial" hat. Mit Sorge sehen wir, dass manche zivilgesellschaftliche Aktivität zurzeit bedrängt ist, dass kritische Medien behindert und Menschenrechtsverteidiger denunziert oder gar kriminalisiert werden. Zusammen mit deutlichen Defiziten der Rechtsstaatlichkeit entsteht so ein gesellschaftliches Klima, das auch für einen aufklärerischen Geschichtsdiskurs hinderlich sein könnte.
Ich sehe Ihr Forum als eine gute Form an, über solche Sorgen zu sprechen. Es sind wahrlich nicht nur meine und es sind wahrlich nicht nur deutsche, sondern es sind europäische.
Ich hatte eingangs von einer doppelten Schwierigkeit gesprochen und hoffe diese bei aller Verkürzung im Kern angesprochen zu haben.
Und noch etwas will ich anfügen: Mein Beitrag ist nicht als "Belehrung" im klassischen Sinne zu verstehen und schon gar nicht als eine Relativierung des Unrechts und der Morde, die Deutsche in der NS-Zeit gegenüber der Sowjetunion begangen haben. Die Deutschen wissen sehr genau, wer die Täter waren. Aber dieses tiefe Wissen hat die breiten Bevölkerungsschichten auch erst erreicht, als die beschriebene Form selbstkritischer Aufarbeitung der Geschichte Allgemeingut wurde. Erst dann kam dieses vertiefte Wissen. Das hat auch der Demokratie genützt, dass historisches Wissen nicht mehr begrenzt oder selektiert wurde. Wir wissen heute mehr über die Menschenwürde und mehr über die Menschenrechte als je zuvor!
Aus diesem Wissen über das Humanum heraus fühlen wir uns beauftragt, auch in anderen Ländern über die Geschichte, über Menschenwürde und Menschenrechte mitzureden. Wie echte Wissenschaft ihre Diskurse nicht an Grenzen enden lässt, so kann der Diskurs über Menschen- und Bürgerrechte, über zentrale Rechte des Einzelnen in der Gesellschaft nie eine Einmischung in "innere Angelegenheiten" sein.
In diesem Sinne wünsche ich dem Forum Mut und Realitätssinn für Ereignisse, Strategien, Daten und Namen seien sie nun vergangen oder gegenwärtig. Ich danke Ihnen.