Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 18. März 2013

Untertitel: Bundespräsident Joachim Gauck hat am 18. März vor dem Rat der ständigen Vertreter der Afrikanischen Union eine Rede gehalten: "Genau vor einem Jahr wurde ich zum Präsidenten meines Landes gewählt. Heute, am ersten Jahrestag meiner Präsidentschaft, ist es für mich eine große Ehre und Freude, zu Ihnen sprechen zu können. Der Anlass ist bedeutsam: Afrika feiert dieses Jahr das 50. Jubiläum der Gründung der Organisation für Afrikanische Einheit, OAU. Dazu gratuliere ich Ihnen heute im Namen Deutschlands ganz herzlich. Sie haben in 50 Jahren viel bewegt. Das gilt auch und gerade, weil in der großen Geschichte dieses Kontinents fünf Jahrzehnte nicht viel sind."
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2013/03/130318-Afrikanische-Union.html


Genau vor einem Jahr wurde ich zum Präsidenten meines Landes gewählt. Heute, am ersten Jahrestag meiner Präsidentschaft, ist es für mich eine große Ehre und Freude, zu Ihnen sprechen zu können. Der Anlass ist bedeutsam: Afrika feiert dieses Jahr das 50. Jubiläum der Gründung der Organisation für Afrikanische Einheit, OAU. Dazu gratuliere ich Ihnen heute im Namen Deutschlands ganz herzlich.

Sie haben in 50 Jahren viel bewegt. Das gilt auch und gerade, weil in der großen Geschichte dieses Kontinents fünf Jahrzehnte nicht viel sind.

Schon vor über 500 Jahren gab es politischen Austausch zwischen Afrika und Europa: Im 15. Jahrhundert waren diplomatische Missionen aus Subsahara-Afrika an europäischen Königshöfen tätig. Sie kamen aus Äthiopien, aber auch aus dem Kongo, Benin und dem Senegal, um nur einige zu nennen.

Was mir wichtig ist: Bei diesen Besuchen trafen Gleiche aufeinander, sie begegneten einander auf Augenhöhe. Die Diplomaten nahmen eine weite und beschwerliche Reise in Kauf, das Klima war kalt, die Umgebung fremd. Aber sie fanden in den europäischen Gesellschaften nicht nur Fremdes vor. Sie trafen auf gesellschaftliche Zustände, die ihnen bekannt vorkommen mussten.

Das Europa damals, vor der Epoche der Aufklärung, war ein Kontinent der festgefügten Standesordnungen. Wer arm war blieb daher arm, wer reich geboren war, blieb reich. Weltliche Autoritäten herrschten von Gottes Gnaden und in vielen Herzen herrschte die Furcht vor übernatürlichen Geistern.

Vierhundert Jahre später blicken wir auf ein von Grund auf verändertes Europa. Es hat einen langen Weg zurückgelegt von Willkür und ängstlichem Untertanentum hin zu Menschenrechten und zu selbstbewussten Bürgern. Europas Werte von heute, Freiheit und Gerechtigkeit, sie mussten gegen geltende Traditionen erkämpft werden.

Paradoxerweise wirkte sich dieser europäische Fortschritt negativ auf die Beziehung zu Afrika aus. Die Bürger erkämpften sich ihre Rechte in Europa, aber sie wollten sie den anderen Teilen der Welt nicht zugestehen. Menschenrechte wurden regionalisiert und relativiert. Darum kritisierte bereits im 18. Jahrhundert der konservative Schriftsteller, Philosoph und Politiker Edmund Burke die "geographische Moralität", die dazu führte, dass für die Bürger Europas andere Regeln gelten sollten als für die Untertanen in den Kolonien. Es kam, was kommen musste: Auch die Kolonialisierten fanden sich mit diesem eklatanten europäischen Widerspruch nicht ab. Die Sklaven in Haiti revoltierten und forderten die Ideale der französischen Revolution auch für sich ein. Die Geschichte führte von Sklaverei, die von afrikanischer Mithilfe profitierte, zu kolonialer Ausbeutung und schließlich bis hin zur Apartheid. Für die Wunden, die diese Ausbeutungsgeschichte in Afrika hinterlassen hat, wählte Nelson Mandela in seiner historischen Rede vor der OAU 1994 als symbolischen Vergleich die Zerstörung Karthagos.

In eben dieser Rede führte Nelson Mandela dann auch aus, was entscheidend für die Zukunft Afrikas ist: Dass nämlich das Wissen um diese Demütigungen verbunden wird mit der kraftvollen Zuversicht, dass Afrika aus diesem Schatten heraustreten und ein neues Kapitel in seiner Geschichte beginnen wird. Die Afrikanische Union, Sie, meine Damen und Herren, schreiben einen wichtigen Teil dieser neuen Geschichte.

Ich teile Nelson Mandelas Zuversicht und mache meine Reise in großer Vorfreude, persönlich diese Potentiale Schritt für Schritt zu erleben, die Personen kennenzulernen, die heute Verantwortung tragen für Afrikas weiteren Weg. In meine persönliche Lebensgeschichte konnte Afrika relativ spät erst treten. Umso mehr hat mich die Zuversicht, die Nelson Mandela ausstrahlt, selber erfüllt, als ich die Wahrheitsliebe, die Versöhnungsbereitschaft und die Willenskraft erleben durfte, die wir alle mit Erzbischof Desmond Tutu in Südafrika verbinden. Afrika hat unserer Welt großartige Frauen und Männer geschenkt. Dort wo Afrikanerinnen und Afrikaner immer stärker Teilhabe einfordern, sind sie auf dem Weg in die Zukunft. Der Weg vom Untertan, der zu politischer und kultureller Passivität verurteilt ist, zum selbstbewussten, eigenständig urteilenden und zur Freiheit ermächtigten Bürger, dieser Weg ist kein Spaziergang, in Europa nicht und in Afrika nicht.

So wenig mir mein Leben in einer kommunistischen Diktatur lange Jahre erlaubte, nach Afrika zu reisen, so sehr hat es dazu geführt, für Demokratie zu kämpfen. So beeindrucken mich heute die Bilder langer Schlangen sehr, in denen Afrikanerinnen und Afrikaner stunden- ja tagelang warten, um wählen zu können! Und es begeistert mich, zu sehen, dass die Demokratie vielerorts in Afrika wächst! Am Ende des kalten Krieges gab es drei demokratisch verfasste Staaten in Afrika. Heute sind es um die zwanzig. Auch hier ist für mich die Richtung der Geschichte klar: In allen Ländern des Kontinents sollten sich demokratisch gewählte Regierungen der Kontrolle durch starke Parlamente stellen. Und in allen Ländern des Kontinents sollten die Völker ihre Regierungen wählen und abwählen können!

Ich singe das Loblied der Demokratie, wohl wissend, dass mit Wahlen allein noch lange keine gelingende Demokratie etabliert ist. Niemand könnte besser als Sie aufzeigen, wie - um nur ein Beispiel zu nennen in der Folge von Wahlen sich Spannungen zwischen Volksgruppen verstärkt haben. Afrika muss besondere Herausforderungen überwinden und den afrikanischen Weg zur Demokratie finden. Im Kongo und in Nigeria gibt es mehrere hundert Volksgruppen, selbst im relativ dünn besiedelten Tschad spricht man mehr als einhundert Sprachen. Der Nationalstaat europäischer Prägung dagegen basiert auf der Idee eines Staatsvolkes. Aber auch in Europa hat es mehrere Generationen gedauert, bis die Idee der Staatsbürgerschaft und der verbindenden Nationalität in den Gefühlen und Herzen der Bürger Wurzeln schlagen konnte. Welchen Weg wird Afrika gehen? Klar ist: Wenn jedes afrikanische Volk seinen eigenen Staat aufbauen wollte, dann würde das zu tausenden solcher Staaten führen. Wer kann das wollen? Und wie gehen Staaten in Afrika mit ihrer ethnischen Vielfalt um? In Afrika werden diese Fragen intensiv diskutiert. Nur so kann man voran kommen. Ob die Dezentralisierung der Schlüssel für mehr Zugehörigkeitsgefühl und bessere Regierungsführung ist? So sieht es Ousmane Sy, der malische Entwicklungsökonom und Politiker, in seinem Werk "Vorwärts Afrika". Oder ob nationale Identität entsteht, indem einer afrikanischen Sprache Vorrang vor anderen gegeben wird, wie es in Tansania geschieht? Die Antworten darauf werden kommen, und zwar von Afrikanern. Afrika wird die Geschichte der Demokratie mit seinen Elementen bereichern. Dass ein neues afrikanisches Nationalgefühl in den Herzen der Menschen ankommt, das zeigt jeder Africa Cup of Nations, der auch bei uns mit Spannung verfolgt wird und bei dem sich die Fans in den Ländern Afrikas für ihre jeweilige Fußball-Nationalmannschaft begeistern.

Wenn ich über die Bedeutung von Nationen spreche, will ich eine kritische Frage nicht aussparen: Wann verdient der Staat das Vertrauen seiner Bürger? Wann steht er für ihre Interessen? Wann spricht er ihre Sprache? Machen wir uns nichts vor: Oft gilt die entscheidende Loyalität der Menschen nicht ihrer Nation und ihrem Staat, sondern der Familie, der Volksgruppe.

Misstrauen oder Vertrauen entscheidet sich dann zum Beispiel an der Frage, wie der Staat mit den ihm anvertrauten Steuer- und Entwicklungsgeldern umgeht. Investieren die politisch Verantwortlichen in das Allgemeinwohl oder verteilen sie Staatsgelder an ihre Begünstigten? Ich weiß, welche Spannungen hier auf Politiker zukommen, wenn von ihnen erwartet wird, dass sie ihre Ethnien bevorzugen, so wie vormals andere Politiker ihre Gruppen bevorzugt haben. Das ist kein auf Afrika beschränktes Spiel.

Umso klarer will ich sagen: Wer auf Dauer ethnische Spannungen abbauen will, der kommt um einen transparenten und rechtsstaatlichen Umgang gerade mit den Staatsfinanzen nicht herum.

Es dient der langfristigen Entwicklung nicht, kurzfristigem Druck nachzugeben. Und wieder schöpfe ich auch in diesem, jeden Fortschritt erstickenden Geflecht Zuversicht aus den kritischen Debatten in der afrikanischen Zivilgesellschaft.

Ahmadou Kouruma, der bekannte ivorische Schriftsteller, beschreibt in seinem Roman "Die Nächte des großen Jägers" wie ein neuer Staatschef nach der Unabhängigkeit seines Landes von seinen erfahrenen Kollegen das Handwerk lernt. Und ein alter Kollege rät ihm wie ein afrikanischer Finanz-Machiavelli: "Das erste große Unheil, das einem Mann an der Spitze eines Staates und einer Einheitspartei droht, entsteht aus der bedauerlichen Neigung, bei Karrierebeginn die Staatskasse von der persönlichen Kasse zu trennen. … Für den, der die höchste Macht ausübt, gibt es im unabhängigen Afrika weder Zukunft noch Autorität, wenn er nicht deutlich zeigt dass er der reichste und der großzügigste Mann in seinem Land ist. Ein wahrer, ein großer afrikanischer Herrscher gibt, tagtäglich und unablässig." Soweit die erfahrungsgesättigten Ratschläge, deren beißende Ironie Ahmadou Kouruma meisterhaft vermittelt. Wer das liest, muss sich mit dem Autor fragen: Soll Klientilismus weiterhin der Ausweis großer afrikanischer Herrscher sein? Natürlich nicht! Und Sie arbeiten alle daran, dass es nicht so ist.

Und so ist es eine gute Nachricht für die Demokratie in Afrika, dass immer mehr Afrikaner wissen wollen, was mit ihrem Geld passiert, auch wissen wollen, ob private Interessen und Staatskasse sauber getrennt werden. Das gilt nicht zuletzt auch für die Gelder aus der Entwicklungszusammenarbeit. Es ist ein Gewinn für die Demokratie, wenn die Presse- und Versammlungsfreiheit auf dem Kontinent immer mehr zunimmt. Kritik kann so schwerer mundtot gemacht werden. Wahre Partner Afrikas unterstützen diese Veränderungen.

Ich selber bin zutiefst davon überzeugt, dass überall auf der Welt zuerst einzelne Demokraten da waren und erst lange danach manchmal die Demokratie als Staatsform. Ich bin gespannt, auf den Weg, den die Demokratien in Afrika gehen werden. Und ich freue mich über die selbstbewussten und starken Demokraten und Demokratien, die ich in Afrika sehe.

Afrika hat längst begonnen, in unübersehbarer Weise Demokratie-Geschichte zu schreiben! Namibia und Südafrika haben sich in den 90er Jahren neue Verfassungen gegeben. 2010 folgte Kenia. Die kenianische Verfassung trat an die Stelle eines Dokuments, das noch aus der Kolonialzeit stammte. Über 20 Jahre lang wurde um die Reform gerungen, dann gab es eine Volksabstimmung. Die neue Verfassung führte zu einer Aufbruchstimmung, einige sprachen sogar von einer nationalen Wiedergeburt. Die neu gewichteten Institutionen haben bereits im Vorfeld der Wahlen in diesem Jahr versucht, mäßigend einzuwirken. Es ist jetzt wichtig, dass sie Erfolg haben.

Demokratie ist immer auch eine Baustelle. Das gilt auch für Deutschland. So hat die deutsche Demokratie erst nach dem Scheitern ihres ersten demokratischen Staates, der Weimarer Republik einen Gerichtshof als Hüter der Verfassung eingerichtet. Das nationalsozialistische Deutschland und danach das kommunistische Ostdeutschland hatten kein Verfassungsgericht. Heute spielt das Bundesverfassungsgericht eine wichtige, konstitutive Rolle in der deutschen Demokratie.

Auch an afrikanischen Demokratien kann, wird noch viel gebaut werden. Das gilt für die Stärkung der politischen Institutionen. Wenn ich mir zum Beispiel die personelle und materielle Ausstattung vieler afrikanischer Parlamente ansehe, gibt es sicherlich noch erheblichen Verbesserungsbedarf. Das Gleiche gilt auch, wenn Menschen ihr Recht suchen: Für viele Afrikaner liegen die nächste Polizeistation oder das nächste Gericht so weit entfernt, dass sie es sich zwei Mal überlegen, ob sie sich überhaupt auf diesen Weg machen. Eine Entwicklungszusammenarbeit, die rechtsstaatliche Institutionen stärkt, ist daher ein wichtiger Beitrag zur Demokratie in Afrika. Wo immer meine Heimat Deutschland dabei beratend zur Seite stehen kann, werden wir dies gerne tun.

Hand in Hand mit der Demokratie hat sich in Afrika die Wirtschaft hoffnungsvoll entwickelt. Besonders in den letzten zehn Jahren hat der Kontinent eine Wachstumsphase hinter sich, die in der jüngeren Geschichte ihresgleichen sucht. Sechs der zehn am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt liegen in Afrika. Die Armut sinkt in manchen Regionen drastisch."The Economist", hatte noch im Jahre 2000 Afrika als hoffnungslos abgeschrieben. Heute revidiert die Zeitschrift ihr Urteil um 180 Grad und zollt Afrika Respekt als dem am schnellsten wachsenden Kontinent."Lions on the move", so beschrieb eine Unternehmensberatung Afrikas kraftvollen Aufbruch.

Die Chancen stehen also gut, das alte afrikanische Paradoxon von "Armut inmitten des Überflusses und Mangel inmitten der Fülle", wie es der frühere ghanaische Präsident und Mitbegründer der OAU, Kwame Nkruma, nannte, endlich zu überwinden. Regionale Integration wird dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Die neuen afrikanischen Löwen werden so noch kraftvoller springen. In einigen Regionen ist hier schon viel erreicht bis hin zu Währungsunionen. Und gerade, wo diese Integration gelingt, merken alle Beteiligten, welch ungehobenes Potential im innerafrikanischen Handel noch ruht.

Was die regionale Integration noch mehr braucht, ist sicherlich auch eine bessere Infrastruktur und die Modernisierung der Landwirtschaft. Dies sind wichtige Bereiche der deutschen und multilateralen Entwicklungszusammenarbeit. Doch: Strassen und Strom allein machen noch kein Wirtschaftswunder. Bodenschätze machen noch keine wohlhabenden Regionen. Und auch der Reichtum an Jugend allein macht kein reiches Land.

Nur einer gut ausgebildeten Jugend wird es gelingen, die Reichtümer des Kontinents in den Ländern Afrikas selber verarbeiten zu können und so zu einer Wertschöpfung vor Ort beizutragen. Es ist verlockend, Großprojekte schlüsselfertig aufgestellt zu bekommen. Aber der Aufbau einer nachhaltigen afrikanischen Industriekultur gelingt nur mit gut ausgebildeten Afrikanern. Hier geht es um beides: Um theoretisches Wissen und seine praktische Anwendung in den Betrieben. Deutschland stellt seine guten Erfahrungen in der Berufsbildung gerne zur Verfügung. Das gilt für Projekte in einzelnen Ländern, aber auch für Vorhaben, die den ganzen Kontinent betreffen, so wie zum Beispiel für den Aufbau der Pan-Afrikanischen Universität in Zusammenarbeit mit der Afrikanischen Union.

Die Rendite guter Ausbildung geht weit über den engen wirtschaftlichen Bereich hinaus.

Ich denke an den äußeren Frieden: Wo Jugendliche Chancen auf einen Arbeitsplatz haben, der ihre Familien versorgt und ihnen ein Leben in Respekt und mit Perspektiven ermöglicht was sollte für sie attraktiv sein, von dem, was die Werber für Gewalt und Terror predigen?

Ich denke ebenso an den inneren Frieden, an die Überwindung von Magie und Zauber, die Menschen ängstigen und klein machen. Der Begründer der modernen Soziologie, Max Weber, prägte für die in Europa notwendigen Veränderungen hin zur Industriegesellschaft den Ausdruck "Entzauberung der Welt". Auch in Afrika gehen viele der alten

Gewissheiten verloren. Bildung aber hilft, darin nicht nur einen Verlust zu sehen oder sich in das Konstrukt einer heilen Vormoderne zu flüchten. Ich beobachte mit Neugier und Spannung die Debatten um eine afrikanische Renaissance, um ein "Renascent Africa", wie es bereits 1937 der spätere erste Präsident des unabhängigen Nigerias, Nnamdi Azikiwe, nannte.

Renaissance heißt aber zugleich: Es kann nicht darum gehen, alles Überkommene zu verwerfen. Was verdient, zum Nutzen des gesamten Volkes in die Zukunft mitgenommen zu werden? Afrikas Gesellschaften werden Antworten auf diese Fragen geben. Es geht heute um auch um die Deutungshoheit über die afrikanische Vergangenheit. An welche Traditionen will Afrika anknüpfen, welche verwerfen? Gibt es spezifisch afrikanische Formen von Eigentums- und Nutzungsrechten? Gibt es Leitlinien aus vorkolonialer Zeit für das Verhältnis zwischen Frauen und Männern, zwischen Alt und Jung, zwischen Wissenschaft und Glauben? Nichts ist nützlicher auf diesem afrikanischen Weg, als Bildung. Wie sagte doch der senegalesische Historiker und Ägyptologe Cheikh Anta Diop: "Bilden Sie sich. Bewaffnen Sie sich bis zu den Zähnen mit Wissen … und erobern Sie ihr kulturelles Erbe zurück".

Dies geschieht. Bildung boomt. Die Einschulungsraten auf dem Kontinent haben sich von 2000 bis 2008 um fast 50 % erhöht. Bildung stärkt Menschen und ermächtigt sie, aus ihrem Leben etwas zu machen. Sie verhilft uns zu Willen zum Engagement und Selbstbewusstsein. Bildung stärkt Bürgerinnen und Bürger, die auf dem gesamten Kontinent mit Mut gegen Folter und Gewalt eintreten. Bildung stärkt Bürger, die in Frage stellen, dass Frauen in einigen Ländern des Kontinents mit Verweis auf kulturelle Traditionen an ihren Geschlechtsorganen verstümmelt werden oder dass Albinos oder auch gleichgeschlechtlich orientierte Menschen verfolgt werden. Sie haben mich auf ihrer Seite. Menschenrechtsverletzungen sind für mich nicht mit dem Verweis auf kulturelle Traditionen zu rechtfertigen.

Immer mehr Afrikanerinnen fordern einen angemessenen Platz in der Gesellschaft ein. In der Politik gibt es dafür immer mehr Vorbilder: Nicht nur Sie, sehr geehrte Frau Vorsitzende, sondern auch zwei Staatspräsidentinnen und immer mehr Parlamentarierinnen. Übrigens: In acht Ländern Afrikas ist der Anteil weiblicher Parlamentsabgeordneter höher als in Deutschland. Und, die Hälfte der AU-Kommissare sind Frauen.

Doch, neben diesem Licht gibt es noch manche Schatten: Wie stehen die Chancen für Frauen in Wirtschaft und Verwaltung? Wie steht es um die Chancen von Mädchen bei der Bildung? Noch viel zu oft werden Frauen Opfer von Gewalt. Meine Damen und Herren, nutzen Sie Ihren Einfluss, damit Frauen die gleichen Möglichkeiten offen stehen wie Männern!

Die Herausforderungen und die Veränderungen sind groß. Die Afrikanische Union und das sind Sie spielt eine zentrale Rolle dafür, diese Aufgaben zu meistern. Ich habe großen Respekt vor ihren Leistungen, vor Ihren Anstrengungen, für den gesamten Kontinent Standards von Demokratie, Marktwirtschaft und Menschenrechten zu setzen. Gewiss, wird es wohl noch eine Zeit dauern, bis sich diese Standards von Kapstadt bis Kairo flächendeckend durchsetzen. Aber jeder Präsident, der sein Mandat entgegen der eigenen Verfassung verlängert, jeder Putschist, der mit Gewalt an die Macht kommt, weiß: Er macht sich die Afrikanische Union zum Gegner.

Ich freue mich, dass diese Standards nicht nur von außen, sondern aus Afrika selber kommen. Im "African Peer Review Mechanism" nehmen sich nicht nur Regierungsvertreter, sondern auch die Zivilgesellschaften des Kontinents gegenseitig unter die Lupe. Die Kampala Konvention verschafft Binnenflüchtlingen einen Anspruch für eine menschenwürdige Behandlung. Und der Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte und die Rechte der Völker soll Klägern eine afrikanische Plattform für ihre Beschwerden bieten.

Afrikanische Gerichtshöfe werden sich mit dem Zusammenhang von Gerechtigkeit, Straflosigkeit und Sicherheit beschäftigen müssen, die auch in den Diskussionen um die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag eine Rolle spielen. Es wird in jedem einzelnen Fall eine schwierige Entscheidung bleiben, ob und wann Verfahren eröffnet werden insbesondere wenn es Staatsoberhäupter betrifft. Hilfreich ist es dabei sicher, wenn Afrikaner nicht das Gefühl haben, dass ihnen dabei die Entscheidungen von außen aufgezwungen werden. Die neue Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs, Frau Bensouda, wird viel zu diesen Diskussionen beitragen können.

Ein besonderes Anliegen der Afrikanischen Union sind Frieden und Sicherheit auf dem Kontinent. In Europa haben die Stimmen des Ausgleichs erst nach dem zweiten Weltkrieg den Weg zu einer europäischen Integration einleiten können. Afrika ist ein den ganzen Kontinent zerstörender Weltkrieg erspart geblieben. Aber es leidet bis jetzt unter schrecklichen Kriegen und Bürgerkriegen. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen findet man in Afrika über die Hälfte aller Kindersoldaten der Welt. Kinder bewusst zum Töten zu missbrauchen, ist eine besonders grausame Menschenrechtsverletzung. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, dagegen vorzugehen.

Die Afrikanische Union hat sich auf die Fahnen geschrieben, bei Krieg und Gewalt nicht wegzusehen. Sie hat sich damit bewusst vom Nichtinterventionsgebot ihrer Vorgängerorganisation abgewandt. Ein mutiger Schritt, er hat Respekt verdient.

Deutschland wird die Afrikanische Union bei ihren Bemühungen um Frieden und Sicherheit weiterhin unterstützen. In unserem Engagement sind wir der zweitgrößte bilaterale Partner der Afrikanischen Union. Das neue Gebäude für das Peace & Security-Department ist ein wichtiges Symbol dieser Partnerschaft. Aber mit Leben und Inhalt füllen Sie es, meine Damen und Herren, die Vertreter der Afrikanischen Union.

Die Instrumente der afrikanischen Sicherheitsarchitektur stehen nicht nur auf dem Papier: die Menschen in Somalia, im Sudan oder auf den Komoren können von bewaffneten Missionen der Afrikanischen Union erzählen. Aber nicht nur sie: Die Afrikanische Union engagiert sich, damit es erst gar nicht zu Gewalt kommt. Und sie kapituliert auch nicht vor bisweilen unlösbar scheinenden Aufgaben, wenn ich an das jüngste Abkommen von Addis Abeba zum Kongo denke.

Dabei bedarf es vor allen auch eines langen Atems. Denn: Der Weg zur Verständigung nach oft jahrzehntelangen Konflikten ist mühevoll und lang. Das gilt im Übrigen nicht nur für Afrika: Auch in Europa, in Teilen des ehemaligen Jugoslawien stehen heute, über zwanzig Jahre nach Ausbruch der ersten Feindseligkeiten, immer noch internationale Friedenstruppen bereit.

Jüngstes Beispiel für die Bedrohung des Friedens ist die Lage in Mali. Eine Mischung aus internen und externen Faktoren hat zu der jetzigen dort Krise geführt. Bei der Bewältigung sehen wir Akteure aus der Region, dem ganzen Kontinent und aus Europa insbesondere Frankreich. Ich habe mich in Berlin mit mehreren Staatspräsidenten aus Westafrika über den französischen Einsatz unterhalten. Alle haben sich positiv über das schnelle Eingreifen geäußert. Ich sehe in dieser Kongruenz einen Beleg für eine stärkere Wahrnehmung gemeinsamer Interessen aus Afrika und Europa. Wenn Terror global gesteuert wird, reicht eine regionale Antwort oft nicht aus. Daher unterstützt Deutschland auch militärisch den Kampf gegen Terroristen. Deutschland wird auch hier als Partner der Afrikanischen Union zur Seite stehen.

Neben dem immer stärkeren Engagements der Afrikanischen Union sehe ich die Weltgemeinschaft, sehe ich die Vereinten Nationen ebenfalls in der Verantwortung für Frieden und Sicherheit auf dem afrikanischen Kontinent. Der Sicherheitsrat in New York befasst sich regelmäßig und intensiv mit Konflikten in Afrika. Im Sudan und Kongo sind die größten Peace-Keeping Missionen der Vereinten Nationen tätig. Ich bin der Auffassung, dass der Kontinent im Sicherheitsrat, wo über seine Belange gesprochen und entschieden wird, auch angemessen vertreten sein und Verantwortung übernehmen sollte.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich habe viel von der staatlichen Kooperation mit der Afrikanischen Union gesprochen. Jetzt will ich schließen. Und ich tue das mit dem Lob der erstarkenden afrikanischen Zivilgesellschaften. Viele wehren sich mit großem Mut gegen Bevormundung und Unterdrückung in ihren Ländern. Und sie gehen immer häufiger Bündnisse mit Nichtregierungsorganisationen aus anderen Ländern und Erdteilen ein. Die oft beklagte Ohnmacht gegenüber scheinbar übermächtigen Kräften der Globalisierung sehe ich nicht. Das ist gut. Denn, die globalen Zukunftsprobleme wie Armutsbekämpfung, Migration und Klimawandel brauchen beides: Starke Nationen und starke Zivilgesellschaften. Engagierte Bürger, die sich austauschen, haben auch global eine Stimme. Vor und parallel zu staatlichen Klimaschutzverhandlungen gibt es inzwischen breite Koalitionen aus verschiedenen Ländern. Oder Menschenrechtsverteidiger schauen genau hin, welche Firmen in afrikanischen Ländern Kinder beschäftigen oder illegal Wald roden lassen. Transparenz schafft Veränderung. Das gleiche gilt für Entwicklungspartnerschaften zwischen Kommunen, Schulen oder Krankenhäusern.

Befeuert durch diese zivilgesellschaftlichen Kräfte in Verbindung mit der politischen Arbeit der Afrikanischen Union entsteht in diesen Jahren am Anfang des 21. Jahrhunderts ein neues Afrika-Bild in Europa und weltweit. Je mehr Partner und je mehr persönlichen Austausch es gibt, desto differenzierter wird die immer noch viel zu einseitige Berichterstattung über Afrika in Deutschland werden. Stereotype von unveränderbaren archaischen und gewalttätigen Stammesgesellschaften werden aussterben. Denn: Es gibt eben, wie die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie treffend sagt, niemals nur die "eine Geschichte".

Stereotype sind schlecht, für Europa und für Afrika. Wir brauchen eine Partnerschaft von gleich zu gleich, um gemeinsam die globalen Herausforderungen zu bewältigen. In diesem Sinne: Es lebe diese Zusammenarbeit! Es lebe Afrika, die Wiege der Menschheit, der große Kontinent mit seiner so jungen Bevölkerung! Es lebe die tiefe menschliche Erfahrung, dass nichts so verbindet, wie Menschlichkeit!