Redner(in): Johannes Rau
Datum: 1. Oktober 1999

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/1999/10/19991001_Rede.html


I. Über weniges wird so viel geredet wie über Zukunft und Veränderung.

Das ist gut. Das führt manchmal aber dazu, daß wir zu wenig wahrnehmen, wieviel Veränderung längst im Gange ist. Hier im Ruhrgebiet hat sich in den vergangenen Jahren etwa Revolutionäres getan. Hier ist Zukunft gebaut worden.

Die Internationale Bauausstellung Emscher Park, die in diesen Wochen ihr Finale feiert, kann von sich sagen - und viele haben es schon bestätigt - , daß sie das Gesicht einer Region verändert hat. Ja, nicht nur das Gesicht: das Selbstverständnis, das Selbstbewußtsein ist hier im Ruhrgebiet ein anderes geworden. Natürlich war es nicht die IBA allein - aber sie hat gefördert und in ihren Projekten zum Ausdruck gebracht, daß hier eine Region mutig, visionär und planvoll neue Wege geht und sich so auf die Zukunft vorbereitet.

Das geschieht auf eine andere Weise, als man das aus der Vergangenheit oft gewohnt war:

Nicht auftrumpfend, sondern gedankenvoll und mit Mut zur Langsamkeit.

Nicht zentral angeordnet, sondern dezentral und unter Einbeziehung der Betroffenen und Beteiligten.

Nicht auf schnelle Effizienz bedacht, sondern mit dem Willen zur Nachhaltigkeit.

Nicht mit der Abrißbirne das Alte und scheinbar Unbrauchbare beseitigen, sondern mit Phantasie das industrielle Erbe neu nutzen.

II. Wie keine andere Region in Europa verkörpert das Ruhrgebiet das Zeitalter der Industrialisierung, die Herrschaft der Schwerindustrie, die Wertschöpfung durch Kohleförderung und Stahlverarbeitung. Und wie kaum eine andere Region in Europa hatte das Ruhrgebiet unter dem historischen Ende dieser Epoche zu leiden.

Es war für die Menschen hier nicht nur schmerzlich, wenn ihre Arbeitsplätze in der Großindustrie nach und nach vernichtet wurden. Sie haben es auch als eine große Ungerechtigkeit empfunden, als eine unverdiente Strafe: ausgerechnet ihre Industrie und ihre Arbeit hatten doch nach dem Krieg den Reichtum und den Wohlstand Deutschlands in erster Linie geschaffen - auch in den Regionen und Ländern Deutschlands, die davon heute nicht mehr viel wissen wollen. Und nun sollte das alles nichts mehr wert sein? Diese Erkenntnis war hart und schmerzhaft. Die Einsicht in die Unumkehrbarkeit hat lange gedauert.

Aber es ist inzwischen allen klar: Der Prozeß ist in ganz Europa längst nicht mehr aufzuhalten. Die Art von Industriegesellschaft, wie wir sie bis weit in die siebziger Jahre kannten, wird nicht wiederkommen. Sie hat keine Zukunft mehr. Ihr Erbe kann sogar, wenn man nicht richtig damit umgeht, zu einer großen Belastung für die Zukunft werden.

Diese Erkenntnis stand am Anfang der Planungen für die internationale Bauausstellung Emscher Park. Durch diese Bauausstellung, durch die hinter ihr steckenden Konzepte und Ideen, ist das Ruhrgebiet für die Zukunft inzwischen gut vorbereitet. Der Umgestaltungsprozeß wird für ähnliche Regionen in Deutschland und in Europa beispielhaft sein.

Es hat sich unendlich viel getan. Das ist nicht alles auf den ersten Blick zu erkennen. Vieles hat sich, und das gehört zum Konzept, an vielen unterschiedlichen, manchmal auch unscheinbaren Orten getan.

III. Ich bin fest davon überzeugt: Spätestens mit der IBA hat das Ruhrgebiet mehr als nur einen Schritt in die Zukunft gemacht. Wieviel sich getan hat, kann man vielleicht mit einem kleinen Gedankenspiel deutlich machen:

Stellen wir uns vor: Vor zehn Jahren ist jemand aus Herne oder Gelsenkirchen oder Essen "ausgewandert". Seitdem ist er nie mehr hier gewesen. Heute aber ist er zurückgekommen. Nun fährt er durch die Gegend - von Duisburg bis Kamen, von Bochum bis Herten, kreuz und quer durch das nördliche Ruhrgebiet. Ich glaube, er würde seinen Augen nicht trauen:

Da werden in einer alten Kokerei Ausstellungen veranstaltet;

in Europas größten Gasometer hat einer der großen Künstler der Gegenwart eine einmalige Installation gebaut;

kanalisierte und betonierte Abwasseranlagen werden wieder zu naturnahen Bächen; Wohnsiedlungen, die dem Verfall preisgegeben schienen, sind nicht nur herausgeputzt; aus Bahnhöfen, die man kaum mehr zu betreten wagte, sind Schmuckstücke geworden; in alten Zechengebäuden kann man in vorzüglichen Restaurants essen; auf Abraumhalden geht man spazieren; an der Emscher entlang fährt man Fahrrad; weit über Bottrop hinaus sieht man nachts ein seltsames Kunstwerk, den Tetraeder, leuchten; leuchten sieht man auch Kamine, Hochöfen und Rohrleitungen im alten Hüttenwerk in Duisburg Nord; und hier schließlich, auf dem Gelände der alten Zeche Mont-Cenis, entsteht nicht nur ein Stadtteilzentrum neu, mit ihm ist eines der schönsten architektonischen Projekte in unserem Land verwirklicht worden.

Ich brauche gar nicht noch mehr aufzählen, man brauchte unserem Auswanderer gar nicht noch mehr zu zeigen: schon diese wenigen Projekte, die im Rahmen der IBA gebaut wurden, reichen aus, um ihn zum Staunen, wohl auch zum ungläubigen Staunen zu bringen.

Aber wir brauchen uns gar nicht unbedingt einen zurückkehrenden Auswanderer vorzustellen. Viele Menschen im Ruhrgebiet selber, die doch die ganze Zeit dabei waren, fangen erst in letzter Zeit an, wirklich zu begreifen, was in ihrer Gegend geschieht. Dabei sehen sie nicht nur das Neue, das allerorten entsteht. Das wirkliche Neue ist, daß viele zum ersten Mal die Gestalt ihrer Gegend, ihrer Region richtig sehen, daß sie Augen bekommen für das, was um sie herum existiert.

Das aufregend Neue ist ja: Es gibt hier im Ruhrgebiet etwas zum Anschauen. Viele waren ja wie innerlich ausgewandert, nahmen ihre Heimat gar nicht richtig wahr.

Das hatte viele Gründe:

Die Region war durch harte Arbeit geprägt. Da schaut man nicht auf Schönheit. Da geht es darum, ob etwas funktioniert. Wenn es nicht mehr gebraucht wird, wird es abgerissen und dem Erdboden gleichgemacht. So entsteht wenig Beziehung zur Heimat.

In vielen Jahrzehnten ist das Bild vom dreckigen, rauhen, lauten Ruhrgebiet entstanden. Viele haben auch das Bild übernommen, das man sich außerhalb machte und schauten gar nicht mehr richtig hin - auch als der Himmel allmählich blauer wurde.

Dazu kam mit dem radikalen Abbau der Schwerindustrie die Strukturkrise der Region. Das bedeutete nicht nur Arbeitslosigkeit und Zukunftsangst - das ist schon schlimm genug. Es bedeutete vor allem den Verlust von Identität, von Selbstbewußtsein, das man aus der Maloche und der Leistung gewinnen konnte.

IV. Was wir nun erleben, ist das eigentliche Wunder, das mit der IBA zusammenhängt: die Menschen schauen wieder hin. Sie entdecken ihre Heimat, sie entdecken das Ruhrgebiet als Landschaft, ja, als Kulturlandschaft. Sie entdecken vor allem ihren Stolz und sie entwickeln so etwas wie ein neues Heimatgefühl.

Strukturwandel bedeutet auch, dass sich die Einstellung der Bürgerinnen und Bürger verändert, ihr Bewußtsein und ihre Mentalität. Es ändert sich das Selbstgefühl.

Für die hier lebenden und arbeitenden Menschen ist die wohl einschneidendste neue Erfahrung, daß das Ruhrgebiet zu einer Tourismusregion wird. Es kommen Menschen freiwillig von woanders her, um sich anzuschauen, was hier gemacht wird und was hier entsteht.

Und wofür interessieren sie sich? Gewiß auch für die Goldene Madonna, für das Folkwangmuseum oder die Abtei in Werden, aber neu und neugierig für umgebaute Zechen, für Hochöfen, Wohnsiedlungen oder Kläranlagen.

Ich habe gehört, daß 2000 Gastgeberinnen und Gastgeber 40.000 Menschen in kleinen Gruppen nach eigenem Programm durch das Revier geführt haben. Das ist eine ganz neue Perspektive, eine Veränderung in den Köpfen. Sie braucht sicher noch Zeit, aber ein Anfang ist gemacht.

Um zu einem solchen Ergebnis zu kommen, braucht man Menschen mit Visionen, mit Mut und mit fast unerschütterlicher Zuversicht. Und da muß ich eben doch, auch wenn er es mir quasi untersagt hat, Karl Ganser nennen.

Ohne seine Ideen, seine Tatkraft, ohne seinen Spürsinn für Nebenwege und Umwege wäre wohl ganz vieles nicht so gekommen, wie es gekommen ist.

Als alles anfing, als er seine ersten Pläne entwickelte und vorstellte, erregte er genau jenes ungläubige Staunen, das unseren ausgedachten Auswanderer befiel. Weil er und seine Mitarbeiter aber so ungemein überzeugen können, weil er an seiner Vision festgehalten hat, können wir uns heute über das freuen, was alle zusammen erreicht haben.

Lieber Herr Professor Ganser, Sie sind eine Art Vater des Neuen Ruhrgebietes, Sie haben sich um diese Region verdient gemacht.

Einen Namen möchte ich heute Abend noch nennen, ohne den es die IBA nicht gäbe: Christoph Zöpel. Auch ihm haben wir sehr viel zu verdanken.

Es geht aber heute Abend nicht um einzelne Namen oder Institutionen. Das großartige war ja die Zusammenarbeit der Städte, Gemeinden, von Genossenschaften und Gemeinschaften, der privaten Initiativen, des Landes und der zuständigen europäischen Stellen. Mit der Zusammenarbeit ist nicht nur die finanzielle Beteiligung an den Kosten gemeint. Die Idee ist übergesprungen - und alle haben sich mit eigener Kreativität und mit eigenen Ideen am Gesamtprojekt IBA mit ihren knapp 120 Einzelprojekten beteiligt. Auch das war beispielhaft.

Es zeigt sich jetzt, wie richtig es war, die internationale Bauausstellung in einer ganzen Region stattfinden zu lassen - in einer Region, die sich eben so erst wieder als eine solche entdecken konnte.

Natürlich hat der Strukturwandel schon früher begonnen - ich denke nur an die vielen Universitätsgründungen in den zurückliegenden zwanzig Jahren. Aber es wäre doch wohl früher kaum vorgekommen, daß im Parkstadion oder im Westfalenstadion die Fans ihre Mannschaft mit dem Schlachtruf "Ruhrpott" angefeuert hätten.

Hier ist in den letzten Jahren, und zwar von unten her, offenbar etwas Neues in Bewegung gekommen, die Menschen sind "Feuer und Flamme" für das Revier. Die Ausstellung über die Geschichte des Reviers, die diesen Titel trug, hat über vierhunderttausend Besucher angezogen.

Was wir neu erleben, ist also die Identifizierung der Menschen mit ihrer Region, mit ihrer Geschichte.

Dazu hat die IBA Emscher Park wesentlich beigetragen: nicht in erster Linie durch die einzelnen Projekte auch nicht durch deren Summe sondern mit ihrem Konzept, durch die allen konkreten Realisierungen vorausliegende Idee. Von allem, was hier angepackt wurde, kann man sagen: "Da ist Verstand dran!".

V. Das zugrundeliegende Konzept, die Hauptidee sozusagen, ist ein entscheidender Wechsel im Verständnis von Innovation oder von Modernisierung.

Man hat nicht zuerst gefragt: Was können wir eigentlich machen? oder: Was bringt den schnellsten wirtschaftlichen Effekt? sondern: Was wollen wir eigentlich? Was wollen wir, hier, in dieser Region? Wie wollen wir in Zukunft leben? Wie wollen wir mit dem umgehen, was wir haben - und zu was könnte es in Zukunft gut sein?

Die wichtigste Innovation ist für mich dieser Denkansatz. Hier hat beispielhaft eine Umkehr im Denken begonnen. Wir fragen zuerst nach dem, was wir wollen und dann nach den Möglichkeiten der Umsetzung.

Nicht die Menschen sollen den Innovationen hinterherhinken und sich ihnen anpassen - die Innovationen dienen den Menschen, ihrem besseren Zusammenleben, ihrer Arbeit, ihrem Wirtschaften und ihrer Entspannung.

Hier steht im Anfang nicht die Tat, sondern der Gedanke, die ruhige Überlegung, aber auch die mutige Vision.

VI. Die IBA steht als ganze und mit ihren einzelnen Projekten für ein zeitgemäßes Verständnis von Innovation. Hier hat die Zukunft wirklich begonnen.

Das betrifft zum ersten den klugen Umgang mit dem schwierigen Erbe der über hundertjährigen Landschaftsausbeutung, ja -zerstörung.

Schon der Name "Emscher-Landschaftspark" klang vor zehn Jahren für viele ja wie eine Provokation - und zwar eine, die eher zum Lachen reizte.

Ausgerechnet die Emscher, mit deren Namen sich für den Ruhrgebietler alle denkbaren Umweltsünden verbanden, sollte die Namensgeberin für einen Landschaftspark sein?

Die Natur war mehr als ein Jahrhundert so geschunden worden, daß man im Ruhrgebiet von Landschaft nicht mehr sprechen konnte:

Wenn jetzt, in den verschiedenartigen Projekten, der Natur Teile der Industrielandschaft überlassen werden, wenn jetzt als offene Kanalisation mißbrauchte Bachläufe renaturiert werden, wenn jetzt ehemals bebautes oder industriell genutztes Land als Parkerwartungsland " ausgewiesen wird, dann ist das Zeugnis eines radikalen Umdenkens.

Jeder weiß, daß das alles Zeit brauchen wird. Veränderungen brauchen Zeit. Noch mehr Zeit ist nötig, bis Veränderungen neue Bilder von einer Region schaffen.

Aber schon jetzt kann man erleben, daß viele das Ruhrgebiet spazierend oder radfahrend neu entdecken, daß sie die Reize der Versöhnung von Natur, von Kultur- und Industrielandschaft wahrnehmen:

Schon jetzt sind die Anfänge für eine gezielte Regenwasserbewirtschaftung gemacht, schon jetzt regenerieren sich Böden, schon jetzt wird immer mehr auf Kreislaufwirtschaft geachtet.

Das alles wird zukunftsweisend sein, weil es über den Tag hinaus gedacht und gemacht ist.

Dazu gehört auch der Grundsatz, keine neuen Flächen zu bebauen, sondern die von der Schwerindustrie freigelassenen Flächen soweit es geht, neu zu nutzen oder der Natur zurückzugeben.

VII. Bei der neuen Nutzung alter Industriebauten lernen wir sie in ihrer eigenen Ästhetik plötzlich ganz neu schätzen:

Ob die Zeche Zollverein, in der das Design-Zentrum NRW untergebracht ist, ob die Mühlen- oder Speichergebäude am Duisburger Innenhafen, ob die Zeche Waltrop mit ihrem Gewerbepark: überall entfaltet sich ein eigenartiger Reiz, überall offenbart sich eine lange verborgene Schönheit.

Dazu kommt, daß sich mit der Öffnung alter Industrieanlagen gleichsam verbotene Städte öffnen. Das Herz des Reviers, seine Hochöfen, Zechen, Hüttenanlagen, seine Gasometer - all das war ja, aus guten Gründen, für die Öffentlichkeit nie zugänglich. Jetzt kann man, wie etwa im Landschaftspark Duisburg-Nord, an alles ganz nah heran, alles betreten oder erklettern. Die Kinder entdecken die fremde Welt der Väter und Großväter.

Ich weiß, daß es manchem alten Bergmann und Hütten- oder Kokereiarbeiter komisch vorkommt, wenn jetzt auf einmal Familienausflüge dorthin gehen, wo er in Dreck, Qualm und Gestank Schwerstarbeit geleistet hat. Manchem kommt es sogar wie eine unzulässige Entweihung vor. An solchen Orten hatten Frauen und Kinder nichts verloren, vor allem nicht ohne Helm und Schutzanzüge.

Viele ehemalige Arbeiter haben aber den Wandel auch akzeptiert und führen die Neugierigen durch ihre alten Arbeitsstätten. Ihre Erzählungen helfen den Besuchern, wenigstens ein bißchen nachzuvollziehen, was und wie hier einmal gearbeitet worden ist.

Es hat sich auf jeden Fall inzwischen der Gedanke allgemein durchgesetzt, daß die kluge und behutsame Umwidmung besser ist als Abriß und Kahlschlag. Dieser im wörtlichen und im besten Sinne konservative, erhaltende Ansatz braucht allerdings - wenn er gelingen soll - mehr Kreativität und Einfallsreichtum als Abriß und Neubau.

Aber auch da, wo neu gebaut wird, stelle ich erstaunlich viel Ideenreichtum fest:

Ob es um die Wiederbelebung der Idee der Gartenstadt geht, um die Idee "Arbeiten im Park", ob es die Siedlungsprojekte "Einfach und selber bauen" sind - überall sind Kreativität, Eigeninitiative, aber auch soziales Handeln gefragt.

VIII. Besonders wichtig finde ich, daß bei den Neubauten darauf geachtet wird, daß sie nicht nur funktional und praktisch sind, sondern auch ästhetischen Ansprüchen genügen.

Die Menschen haben - darauf weisen die IBA-Planer zu recht immer wieder hin - auch ein Recht auf Schönheit - auf schöne Umgebung und auf schöne Architektur.

Schon jetzt ist es so, daß viele IBA-Projekte auch international Standards für Baukultur und Gestaltqualität setzen.

Ich finde es richtig, dass künstlerische Akzente gesetzt werden, jenseits von Nützlichkeit und Brauchbarkeit. Gerade diese Region, die so sehr von reinem Zweckmäßigkeitsdenken beherrscht war, ist der richtige Ort, um gegen die totale Herrschaft ökonomischen Denkens Zeichen zu setzen. Der Chef der Gerüstbaufirma hat in gewissem Sinne recht, der nach vollbrachter Installation des Christo-Projektes im Gasometer festgestellt haben soll: "Ist zwar sinnlos, aber schön."

Die Menschen brauchen Kunstwerke, nicht nur im Museum, sondern im Alltag. Sie geben der zersiedelten Landschaft Orientierungspunkte. Sie geben dem oft gleichförmigen Stadtbild eine Individualität zurück.

Das sind Dinge, die vielleicht nicht auf den ersten Blick verständlich oder "sinnvoll" sind, die aber einfach durch Schönheit oder durch den Aufriß einer anderen Perspektive die Augen öffnen - auch für die Umgebung, in der sie stehen.

Das kann dann auch ökonomische Konsequenzen haben. Die Investoren der neuen Dienstleistungsunternehmen, die hier im Ruhrgebiet investieren sollen, schauen auch die Umgebung, auf den kulturellen Wert einer Landschaft. Die kulturelle Durchformung einer Stadtlandschaft ist dann letztlich nicht nur eine Frage der Lebensqualität, sondern kann auch zu einem wichtigen Standortfaktor werden.

IX. Diese doppelten Effekte, dieses Denken in Verkopplungen oder Impulsen in verschiedene Richtungen als Prinzip der IBA, kann man nun schließlich hier, am Ort, an dem wir sind, sehr gut wahrnehmen.

Zunächst ist hier ein neues Zentrum für einen Stadtteil entstanden, von dem auch eine neue Dynamik ausgehen wird. Dann haben wir es mit einer beispielhaften Architektur zu tun, die sicher Maßstäbe setzen wird. Dann gefällt mir die Integration von Akademie, Bibliothek, Verwaltung und Begegnungsstätte. Die Krönung im buchstäblichen Sinne bedeutet aber die Photovoltaik-Anlage auf dem Dach, in dieser Form die größte der Welt.

Hier werden in und durch hervorragende architektonische und städtebauliche Umgebung auch starke industriepolitische Impulse gesetzt.

Mir scheint, daß das Ganze hier auf Mont-Cenis ein Exempel für die Zukunft des Ruhrgebietes ist und für kluge Innovationen überhaupt.

Daß auch die einzelnen Bürgerinnen und Bürger für kluge Innovationen zu gewinnen sind, erkennt man u. a. daran, daß 50.000 Menschen ein "Watt von der Sonne" für 15,- Mark gekauft und so am Solarkraftwerk der Kokerei Zollverein in Essen mitgebaut haben.

X. Was brauchen wir für eine gute Zukunft und was können wir aus den Erfahrungen der IBA lernen?

Wir brauchen einen breiten öffentlichen Diskurs über die Ziele unseres Zusammenlebens, unseres Wirtschaftens, unseres Wohnens und unseres Arbeitens. Diese Diskussionen werden auf allen Ebenen geführt werden müssen.

Wir brauchen mehr Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger bei der Gestaltung ihres Lebensumfeldes.

Wir brauchen gute Ideen, ruhiges Überlegen und den Mut, wirklich ganz neue Wege einzuschlagen.

Wir müssen die Frage "Wozu?" wieder entdecken. Wir müssen sie an den Anfang des politischen Streitens und Entscheidens stellen.

Das wird die entscheidende Innovation sein. Dann können wir an die Arbeit gehen, dann können wir so handeln, daß die Zukunft tatsächlich ein menschliches Gesicht bekommt.

Daß ein solches Denken und Vorgehen langfristig Erfolg hat, davon bin ich überzeugt. Die Internationale Bauaustellung Emscher-Park bietet dafür viele Beispiele.

Heute feiern wir ihr Finale. Aber die guten Ideen werden weiterwirken. Hier im Revier und an vielen anderen Orten.