Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 15. Mai 2014

Untertitel: Der Bundespräsident hat am 15. Mai beim "Zukunftsforum 2014 für die Mittlere Ebene" der EKD eine Rede gehalten: "Dass die Evangelische Kirche in Deutschland diesen großen Kongress zur Selbstverständigung über ihre Wege in die Zukunft veranstaltet, verdient auch die Aufmerksamkeit von Staat und Gesellschaft. Ich wünsche mir, dass die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes aufmerken, wenn die Kirche sich neu orientiert."
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2014/05/140515-Zukunftsforum-Kirche.html


Ich freue mich, hier zu sein, unter Ihnen, also unter Menschen, die der Glaube antreibt zu praktischem Handeln, denen der Glaube keine Ruhe lässt. Die genau wissen, unser Glaube ist kein Ruhekissen, schon gar nicht für bürgerliche Gemütlichkeit. Er fordert uns dazu heraus, uns immer wieder selber in Frage zu stellen, unser Tun immer wieder zu reflektieren und unsere Lebenspraxis zu verändern. Kurz, das zu tun, wozu wir als einziges Lebewesen auf dieser Erde fähig und beauftragt sind: Verantwortung zu übernehmen.

Es ist nicht nur der Glaube selbst, der uns unruhig macht und geistig beweglich hält. Es ist unser Leben, es ist unsere Welt und darin die Strukturen unserer Kirche, die geradezu radikalen Veränderungen ausgesetzt sind.

Das erfahren alle, die sich in ihrer Kirche engagieren. Und auch wenn hier überwiegend evangelische Christen versammelt sind, so gilt das genauso für unsere Schwestern und Brüder in der Katholischen Kirche in Deutschland.

Wir spüren vielleicht noch mehr als wir wissen, dass sich große Veränderungen vollziehen und dass wir an diesen Veränderungen mitarbeiten müssen, wenn wir nicht nur blinde Passagiere auf einem fremdgesteuerten Schiff sein wollen.

Dass die Evangelische Kirche in Deutschland diesen großen Kongress zur Selbstverständigung über ihre Wege in die Zukunft veranstaltet, verdient auch die Aufmerksamkeit von Staat und Gesellschaft. Ich wünsche mir, dass die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes aufmerken, wenn die Kirche sich neu orientiert. Und ich möchte mich einbringen als evangelischer Christ, als Bürger dieses Landes und als Bundespräsident, wenn Sie darüber beraten, ob und wie eine Neuorientierung erforderlich ist. Deshalb bin ich gerne hierhergekommen.

Es ist für unser Land nicht unwichtig, welchen Weg die großen Glaubensgemeinschaften einschlagen, es ist nicht gleichgültig, welchem Bild vom Menschen und vom menschlichen Zusammenleben, welchen Werten und Zielen ihr Handeln entsprechen soll.

Es ist im Übrigen für diese Gesellschaft und für dieses Land auch nicht gleichgültig, wie in der Kirche von Gott gesprochen wird ja, ob überhaupt vernehmbar und verstehbar von Gott gesprochen wird.

Darf ich das eigentlich als Bundespräsident sagen? Ich glaube, das darf ich. Ich bin nämlich zutiefst davon überzeugt, dass der Mensch und damit auch die Politik auf eine gute Art entlastet wird, wenn wir zwischen den letzten und den vorletzten Fragen unterscheiden. Es entlastet uns und schenkt uns Freiheit, wenn wir wissen, dass demokratisches politisches Handeln zwar vollkommen zu Recht mit Mehrheit über den einzuschlagenden Weg entscheidet, dass damit über die Wahrheit aber keineswegs entschieden ist. Es macht die Befragung unseres Gewissens zugleich freier und ernster, wenn wir uns im Letzten vor einer Instanz verantwortlich wissen, die wir nicht selbst gemacht und die wir nicht mehrheitlich bestimmt haben.

Nicht zuletzt um diese Unterscheidung von Letztem und Vorletztem lebendig zu erhalten, indem sie "das unsterbliche Gerücht von Gott" wie Robert Spaemann es nannte weitererzählen, nicht zuletzt deshalb tun die Kirchen der Gesellschaft einen guten Dienst. Oft werden sie von Außenstehenden, die es aber gut mit den Kirchen meinen, eher als eine Art Refugium des Bewahrenswerten, als liebenswertes Museum altehrwürdiger Traditionen angesehen, eine mehr oder weniger konservative Moralagentur.

Aber Glaube an Gott ist doch immer auch eine Zumutung für die Glaubenden. Und die Existenz von Glaubensgemeinschaften ist entsprechend eine Zumutung für die Gesellschaft. Es ist die Zumutung, uns mit Maßstäben zu konfrontieren, die oft querstehen zu dem, was wir uns selber so schön ausgedacht oder zusammengebastelt haben.

Dass der Schwache geschützt wird, dass Teilen richtiger ist als Behalten, dass der geschlagene Nächste am Wegesrand, in welcher Gestalt er aktuell auch immer auftreten mag, Herausforderung für unsere Nächstenliebe ist, dass Friedfertigkeit so weit gehen kann, dem Angreifer auch die andere Wange hinzuhalten, dass Gerechtigkeit wirkliches Teilen meint und nicht gelegentliche Almosen, dass die Würde des Menschen nicht von seiner Herkunft, nicht von seinem Glauben, schon gar nicht von seinem Gesundheitszustand abhängt, und dass diese Würde zu achten ist von der Zeugung bis zum letzten Atemzug, dass man nicht alles darf, was man kann:

Das alles wird wohl nie Mainstream einer Gesellschaft, das alles wird wohl nie von der Mehrheit verabschiedet, das alles gehört zur Botschaft des Evangeliums, die wir nicht neu zu erfinden brauchen, sondern die wir gesagt bekommen haben und die wir weiter bezeugen können und dürfen und müssen.

Ja, unsere Kirchen können manchmal selbstgenügsam, bequem, wehleidig oder dem Zeitgeist verfallen sein. Als ich noch Pastor war, musste ich mir gelegentlich klar machen, dass auch die Kirche zur gefallenen Welt gehört. Ihnen allen ist das gelegentlich sicher auch schon einmal schmerzhaft bewusst geworden. Das kann natürlich auch tröstlich sein.

Wir müssen uns neu darauf besinnen, wie die junge Kirche einst in der alt gewordenen römischen Welt wuchs und gedieh und überzeugte: als moralische und spirituelle Avantgarde, als eine frische, eigensinnige, vor allem aber als eine von ihrer Aufgabe zutiefst überzeugte Gemeinschaft.

Solchen Geist wünsche ich mir von Ihnen, von uns, von den Kirchen in diesem Land.

Wir sind in Wuppertal beisammen, schon mehrfach gehört und gesehen. Das lenkt unseren Blick auf die Barmer Theologische Erklärung, mit der mutige Frauen und Männer der Kirche im sogenannten "Dritten Reich" so eindeutig Farbe bekannt haben. In wie viel leichteren äußeren Umständen leben wir heute! Und wie viel leichter wird es uns doch eigentlich gemacht, christlichen Glauben zu bekennen und zu leben. Zu leicht vielleicht?

So fragt sich der Zeitzeuge, der so andere bedrückende, beengte und auch antichristliche Lebenswelten erlebt hat. Zu leicht vielleicht? Ohne dass ich mit dieser Frage irgendeine Art von Bedrückung zurückholen möchte.

Wuppertal erinnert mich auch an einen meiner Vorgänger, Johannes Rau, an sein Wirken als evangelischer Christ und als Bundespräsident, an seine ständige Ermahnung: "Tun, was man sagt, und sagen, was man tut!" Das ist immer noch gültig, wie ich denke, für Politiker wie für engagierte Christen. Der von ihm für seinen Grabstein ausgewählte Bibelvers, ursprünglich eine Denunziation, in Wahrheit aber eine Auszeichnung, sollte für uns alle, für jeden, dem die Zukunft der Kirche in diesem Land am Herzen liegt, eine fröhliche Verpflichtung sein: Dieser war auch mit dem Jesus von Nazareth."