Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 16. Oktober 2014

Untertitel: Bundespräsident Joachim Gauck hat am 16. Oktober bei der Konferenz "Zeit der Bürger" anlässlich des 50. Jubiläums der Robert Bosch Stiftung eine Rede gehalten: "Wo Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenwürde noch kein Zuhause haben, wo Menschen aufgrund ihrer Lebensumstände noch nicht zu ihren Möglichkeiten kommen können, dort ist bürgerschaftliches Engagement Hoffnung und Motor für ein besseres Morgen."
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2014/10/141016-50-Jahre-Robert-Bosch-Stiftung.html


Der erste Gedanke, der mir anlässlich des 50. Jubiläums der Robert Bosch Stiftung in den Sinn kam, hing mit Robert Bosch selber zusammen:

Unglaublich, was eine Motorzündung alles auslösen kann!

Denn am Beginn dieser erfolgreichen unternehmerischen Laufbahn stand eine technologische Innovation, die zum Vermögen und zu der Bedeutung des Unternehmens Bosch geführt hat. Und wenn wir uns einmal vor Augen führen, was diese Zündung ausgelöst hat, dann tauchen einige Beispiele vor unseren Augen auf.

Seit Jahren zum Beispiel tauchen zehntausende deutsche, polnische und türkische Schülerinnen und Schüler tief in das Land des jeweils anderen ein. Oder Studierende aus den Balkanländern reisen einen Monat lang kreuz und quer durch Europa. Oder junge Leute aus bildungsfernen Elternhäusern bekommen mit kleinen Stipendien große Möglichkeiten. Oder deutsche und chinesische Medienleute erhalten eine Chance, frei und offen miteinander zu reden. Oder am neuen United World College in Freiburg lernen junge Menschen aus über 70 Nationen für eine gemeinsame Zukunft.

Das alles und noch viel mehr ist möglich geworden, weil Robert Bosch einst auf eben jenem Zünder ein weltumspannendes Unternehmen aufbaute und dabei das Gemeinwohl niemals aus den Augen ließ. Er setzte große Teile seines Vermögens "für die Volkswohlfahrt" ein, wie er es nannte, und folgte damit seinem Motto: "Alle Errungenschaften des menschlichen Geistes sollen allen unseren Mitmenschen in möglichst großem Ausmaß zur Verfügung stehen."

Und heute? Heute feiern wir nun das 50. Jubiläum der Robert Bosch Stiftung und können nur staunen, wo überall man Menschen trifft, die durch diese Stiftung in ihrem Denken und Tun gestärkt wurden oder eben gerade jetzt gestärkt werden: im Planungsstab des amerikanischen Außenministeriums oder in einer Bibliothek im Nildelta, bei der Londoner Denkfabrik Chatham House oder in einer Bürgerinitiative in Novosibirsk und auch im Bundespräsidialamt übrigens!

Wie viele Projekte und Menschen gefördert werden und wurden, wie viel Geld aufgewendet wurde das alles lässt sich beziffern. Aber viel schwerer zu messen ist das ungeheure Ausmaß der Veränderungen, die Robert Bosch angestoßen hat mit seinem Vermögen, aber auch mit seinen Vorstellungen von einem erfolgreichen und gleichzeitig sozialen Wirtschaften. Er war einer, der seinen Mitarbeitern vertraute und in sie investierte und der das Investierte dann vielfältig zurückbekam. Legendär sein Ausspruch: "Ich zahle nicht gute Löhne, weil ich viel Geld habe, sondern ich habe viel Geld, weil ich gute Löhne bezahle." übrigens ein Motto, das man heute gelegentlich noch weitertragen sollte, nicht? Er führte ein weltumspannendes Unternehmen, lange bevor es den Begriff für "Globalisierung" gab, und er warb für Völkerverständigung, damals vor allem mit Frankreich und Polen, als Nationalismus und Misstrauen noch die öffentliche Meinung in Deutschland bestimmten.

Viel mehr wäre noch zu loben, sein Engagement für Bildung und für Gesundheit etwa. Nicht zu vergessen: das Engagement seiner Nachlassverwalter, die das, was Bosch zeitlebens umtrieb, nach seinem Tod weitsichtig in der Stiftung verankerten. Aber die Robert Bosch Stiftung feiert heute ihr erstes halbes Jahrhundert nicht mit dem Blick zurück, sondern mit einem internationalen Kongress zur Zukunft von Stiftungen und Zivilgesellschaft also mit einem frischen Blick nach vorn und in die Welt hinaus. Das passt zu ihr. Und mir gefällt das so. Ich will die thematische Anregung also gern aufnehmen und mir ein wenig darüber Gedanken machen, was auch Sie in den Mittelpunkt Ihrer Überlegungen hier stellen.

Ganz allgemein genießen Stifter und Stiftungen in der Öffentlichkeit Respekt und Anerkennung für das, was sie tun, und zwar ganz unabhängig von ihren Motiven. Die können ja sehr unterschiedlich sein: Der eine Stifter reitet sein ganz persönliches Steckenpferd, er soll es tun, er darf es tun. Der andere aber will gesellschaftliche Verbesserungen anstoßen, Not lindern oder die Kunst fördern. Manch einer will sicherstellen, dass über den eigenen Tod hinaus etwas bleibt von ihm selber. Und dann soll es als Motiv auch noch das vereinzelte Misstrauen gegen die eigenen Erben geben ich sage nur: Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.

Aber natürlich gibt es auch kritische Stimmen gegenüber dem Stiftungswesen und einige davon lauten so: Schließlich dürfen da Einzelne entscheiden, zu welchen Zwecken sie steuerbegünstigt Vermögen stiften. Und der Staat legt dann zwar Kriterien für das Siegel "gemeinnützig" fest, lässt Stiftungen aber wenn es einmal vergeben ist in großer Freiheit schalten und walten.

Solche Kritik übersieht nicht nur, dass es günstigere Methoden der Steuervermeidung gibt. Sie übersieht vor allem, dass der Stifter nicht in erster Linie Steuern spart, sondern vor allem auf sein Vermögen verzichtet, und dass dieses Vermögen nun anderen Menschen oder anderen Zwecken zugute kommt. Und warum sollte der, der mehr gibt als er müsste, nicht auch innerhalb des rechtlich geltenden Rahmens selbst bestimmen dürfen, wie und wo seine Gabe Wirkung entfaltet?

Es bleibt die Freiheit des Stifters, mit seiner Gabe auch die eigenen Vorstellungen vom Gemeinwohl in die Gesellschaft einzubringen. In einer pluralistischen Gesellschaft tun wir gut daran, den Akt des Stiftens als solchen zu begrüßen, als einen Akt des Eigensinns durchaus, der Möglichkeiten eröffnet und Sinn stiftet im besten Falle Gemeinsinn.

Natürlich sollte die Öffentlichkeit sich dafür interessieren, wie und wofür Stiftungen ihr Geld verwenden. Denn mittelbar geben Stiftungen, weil steuerbegünstigt, immer auch Geld aus, das sonst teilweise in öffentliche Kassen geflossen wäre. Sich mit den Motiven, den Zielen und Methoden auseinanderzusetzen, ist darum das gute Recht von Staat und Gesellschaft. Modern geführte Stiftungen wird der interessierte Blick der Öffentlichkeit willkommen sein. Denn ein guter Ruf ist ein wichtiger Teil des Kapitals, von dem Stiftungen zehren. Die Zahl jener Stiftungen wächst, die Einblicke in ihre Bücher gewähren. Ich finde das gut, denn ohne Kenntnis der Fakten ist eine fundierte Bewertung nur schwer möglich.

Jene, die Stiftungshandeln bewerten, mögen dabei aber auch bedenken: Stiftungen sollen nicht nur das allseits Erwartbare tun, das rundum und immer Akzeptierte, das vollkommen Gefahrlose. Sie sollten nicht bloß dort einspringen, wo der Staat Lücken lässt. Dazu wären übrigens die deutschen Stiftungen überhaupt nicht in der Lage, dazu sind sie viel zu klein. Im Bildungsbereich etwa geben sie Schätzungen zufolge in einem Jahr ungefähr das aus, was der Staat an weniger als einem Tag investiert.

Gewiss ist es wertvoll, wenn Stiftungen kontinuierlich und verlässlich in bestimmten Bereichen Nützliches tun. Aber Stiftungskapital, das kann eben manchmal auch Risikokapital sein. Stiftungen dürfen mit ihren Mitteln nicht nur experimentieren, eigentlich sollen sie es sogar. Sie sollen probieren, was geht in unserer Gesellschaft, was sich anstoßen und bewegen lässt. Inkubatoren für das Neue, Innovationsmotoren für den Wandel in Staat, in Zivilgesellschaft und Wirtschaft das sollen Stiftungen im besten Sinne sein. Das dürfen sie sich zutrauen und das dürfen wir, die Öffentlichkeit, ihnen zutrauen.

Die Robert Bosch Stiftung hat 1974 begonnen, übrigens auf Anraten ihres damaligen Kuratoriumsmitglieds Richard von Weizsäcker, Kontakte zwischen Menschen in der Bundesrepublik und Polen zu fördern eine Pioniertat, wenn man bedenkt, das damals "Wandel durch Annäherung" zwar politisches Programm war, die Begegnung zwischen den einfachen Bürgern aber doch eher noch eher selten. Ebenso eine Großtat ist es, wenn heute acht Stiftungen sich zusammentun, um Integrations- und Migrationspolitik neu zu durchdenken. Genau das ist die Zukunftsweisung, die ich mir von Stiftungen wünsche. Ich bin dankbar dafür.

Zukunftsfähige Stiftungen brauchen einen zukunftsfähigen Rahmen. Ich will mich nicht in die Diskussion um neuerliche Reformvorschläge des Stiftungsrechts einschalten. Aber es ist mir einfach wichtig, dass hier weitergehende Überlegungen angestellt werden, etwa die Frage: Ist unser Stiftungsrecht schon bereit für Stiftungen, die europaweit agieren wollen? Oder: Wie können Stiften und Zustiften selbstverständlicher werden?

Wir wissen doch: Die fleißige und sparsame Nachkriegsgeneration hinterlässt gerade sehr große Vermögen. Noch heißt es zwar, die Deutschen hätten ein ganz anderes Verhältnis zur Philanthropie als die Amerikaner. Aber wäre es nicht denkbar, dass auch hierzulande Vermögende tun, was in Amerika Bill Gates und Warren Buffett taten, nämlich andere Vermögende zu überzeugen, ihren Reichtum zu stiften, um jene Gesellschaft zu unterstützen, der sie doch selbst so viel zu verdanken haben?

Es ist ein gutes Zeichen, dass so vieles in Bewegung geraten ist im Stiftungssektor. Großartig, dass wir sagen können: Im vergangenen Jahrzehnt sind mehr Stiftungen gegründet worden als während des gesamten 20. Jahrhunderts, im Schnitt zwei neue Stiftungen pro Tag. Allerdings können viele kleine Stiftungen mit wenig Kapital eben auch nur wenig bewegen. Manches ist durch die Reformen der vergangenen Jahre möglich oder leichter geworden: etwa "Verbrauchs-Stiftungen", die ihr Kapital verzehren können. Sie bieten die Chance, eine Idee auf eine begrenzte Zeit zu verfolgen oder mit einem kleinen Vermögen zeitweilig etwas sehr Gutes zu tun.

Gut auch, dass die Gemeinschaftsstiftungen immer beliebter werden. Viele von ihnen sind Bürgerstiftungen: Eine gab es vor rund 20 Jahren, heute sind es 275. Ich freue mich darüber, dass diese Idee auch im Osten, wo das bürgerschaftliche Engagement immer ein bisschen langsamer vorangeht, viele Anhänger gefunden hat. Das Kapital der Bürgerstiftungen hat sich in den vergangenen zehn Jahren übrigens verzehnfacht.

Besonders ermutigend finde ich bei diesen Stiftungen von Bürgern für Bürger: Ihr Vermögen kommt nicht allein in harter Währung daher, sondern auch in Form von Zeit, Zuwendung, von Ideenreichtum. Diese Art von gesellschaftlichem Reichtum können Bürgerstiftungen in ganz besonderer Weise aktivieren.

Nicht nur der deutsche Stiftungssektor erscheint höchst lebendig, auch insgesamt gedeiht die Bürgergesellschaft in unserem Land deren Teil und Förderer Stifter und Stiftungen ja sind. Immer mehr Menschen sagen, sie wollten sich gern engagieren, auch wenn noch nicht alle ihre guten Vorsätze tatsächlich schon umsetzen. Aber es gibt doch eine große Vielfalt von Vereinen, Bürgerinitiativen und anderen Non-Profit-Organisationen. Und ihre Zahl wächst stetig.

Sie meinen vielleicht, dass das Lob der Zivilgesellschaft zu einem solchen Festvortrag gehört. Aber durch meinen jetzigen Beruf habe ich deutlicher als zuvor sehen können, dass das ganze Land durchzogen ist von einem Netzwerk engagierter Menschen. Die mediale Wahrnehmung unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit konzentriert sich oft auf die Dinge, die zu kritisieren sind. Es ist das Prinzip unserer Medien, das aufzugreifen, was nicht funktioniert und das in den Mittelpunkt zu stellen. So entsteht doch oft ein mangelhaftes Bild unserer Wirklichkeit. Ich will ja nicht, dass die Medien jeden Tag schreiben, wie vollkommen alles ist. Aber es ist doch nützlich, sich bewusst zu machen, dass wir mit unseren Stiftern, Stiftungen, mit den Vereinen und den vielfältigen Formen von bürgerschaftlichem Engagement ein Netzwerk in unserem Land haben, das zusätzlich zu unseren demokratischen Institutionen dieses Land stark und, lassen Sie es mich ruhig einmal sagen, schön macht.

Und Sie, die Sie hier und in unseren befreundeten Ländern arbeiten, sind Teil dieses Netzwerkes. Das soll Sie stolz machen und dankbar, auch die eigenen Möglichkeiten zu sehen. Wir sprechen von Möglichkeiten der Ermächtigung. Und wir spüren, ermächtigte Bürgerinnen und Bürger können unendlich viel bewegen. Sie stehen in der offenen Gesellschaft in einem produktiven Wechselverhältnis zum Staat, zu seinen Institutionen, zur Wirtschaft, zu den Unternehmungen der Wirtschaft. Und sie sind vielfach aufeinander angewiesen. Sie ergänzen einander. Und sie sollten noch gezielter als bisher ihre gegenseitige Rollenverteilung schärfen.

Bürgergesellschaft ist dabei nicht immer nur das Gute, auch wenn es manchmal so klingt. Sie kann es auch gar nicht sein. Sie ist ebenso vielgestaltig und heterogen wie unsere Gesellschaft insgesamt. Das gehört auch mit zu dem Lob der Bürgergesellschaft. Wir sehen eben auch dort manchmal Aktionen, die getrieben sind von Eigensinn und von Partikularinteresse.

Auch in der Bürgergesellschaft geht es, das wissen wir doch alle, mitunter um Einfluss, um Gruppen- und Partikularinteressen, um Ansehen, manchmal auch gar um Pfründen. Und wenn wir beobachten, dass Angehörige der Mittelschicht sich weit häufiger und mit größeren Ressourcen engagieren, dann stellt sich auch die Frage, wann Engagement gesellschaftlichen Zusammenhalt fördert und wann es Gräben ungewollt sogar vertieft.

Wir werden also nicht mit jeder Position einverstanden sein, nur weil sie aus der Mitte der Gesellschaft,"jenseits von Staat und Markt", wie man so sagt, formuliert wurde. Aber wir werden immer begrüßen, dass es Eigensinn und Engagement von Bürgerinnen und Bürgern gibt. Denn auch wenn Parlamente das Rückgrat unserer Demokratie sind, weil sie in einzigartiger Weise demokratisch legitimiert sind eine wache und lebendige Bürgergesellschaft ist ein unverzichtbares Korrektiv für Missstände und ein ganz wichtiger Katalysator für Veränderungen, in der Wirtschaft wie in der Politik.

Vieles von dem, was wir heute als selbstverständlich erachten, ist aus der Gesellschaft heraus und oft gegen massive Widerstände erkämpft worden: Ich meine Fortschritte bei der Verankerung der Menschenrechte, beim Umweltschutz oder bei der Gleichstellung der Geschlechter.

Viele Ideen, die zunächst als naiv verspottet wurden, Themen, die als Randmeinung abgetan wurden, und Innovationen, die als unrealisierbar erscheinen mussten, sind heute im Zentrum der Debatte oder sind sogar Wirklichkeit geworden. Europaweit wird inzwischen zum Beispiel über die Einführung einer Transaktionssteuer verhandelt einst war das nur die Gründungsforderung von Attac. Oder vergangenes Jahr habe ich Ursula Sladek den Deutschen Umweltpreis überreicht. Früher nannte man sie "Stromrebellin", heute würde man "Sozialunternehmerin" sagen, schließlich hat sie in jahrzehntelangem Engagement den ersten Ökostromanbieter Deutschlands gegründet. Bürgerschaftliches Engagement machte den Wiederaufbau der Dresdener Frauenkirche möglich die Institutionen hatten gedacht, geht nicht, ist zu teuer. Und bürgerschaftliches Engagement hat den Gedanken der Hospizbewegung aus dem Spezialistendiskurs in die Mitte unserer Gesellschaft getragen. Das sind nur einige Beispiele.

Solche Erfolge bürgerschaftlicher Initiativen sind uns oft kaum bewusst. Sichtbarer ist ihr Wirken, wenn es als wütender Protest gegen etwas erscheint. In der Rückschau kann er uns manchmal als Glück erscheinen. Beispiel: Größere Teile der Altstadt von Lüneburg etwa wären ohne wütende und aufgebrachte Denkmalschützer wohl dem Abriss zum Opfer gefallen. Ich weiß nicht, wer von Ihnen schon einmal in dieser schönen norddeutschen Stadt war, aber das wäre nun wirklich ein kultureller Verlust gewesen.

Heute müssen wir uns fragen: Bei welchem verhinderten Großprojekt werden wir in ein oder zwei Jahrzehnten vielleicht froh sein, dass es scheiterte? Aber von welchem würden wir uns auch fragen und wünschen, es sei durchgesetzt worden, obwohl Proteste es verhindert haben? Wir können es noch nicht wissen.

Wir wissen nur: Unsere Urteile über das, was uns heute sinnvoll oder unsinnig, undenkbar oder utopisch, absurd oder überzogen erscheint, wir sollten sie mit Vorsicht fällen.

Und wir sehen, weltweit: Wo Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenwürde noch kein Zuhause haben, wo Menschen aufgrund ihrer Lebensumstände noch nicht zu ihren Möglichkeiten kommen können, dort ist bürgerschaftliches Engagement Hoffnung und Motor für ein besseres Morgen.

Wo immer ich im Inland oder im Ausland unterwegs bin, treffe ich auf selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger ob in der Türkei, in Myanmar oder in Indien. In so verschiedenen Ländern wie Tunesien oder der Ukraine zeigt sich, wie durch Proteste der Zivilgesellschaft zu neuem Selbstbewusstsein gefunden werden kann. Autoritäre Herrscher und Diktatoren fürchten sie, unsere Zivilgesellschaft, die uns so wichtig und lieb ist. Sie fürchten sie als Raum des freien Denkens, und sie fürchten ermächtigte Bürgerinnen und Bürger. Offene Gesellschaften hingegen brauchen solche Bürgerinnen und Bürger.

Und deshalb ist es so erfreulich, dass in diesem Jahr wieder zwei Persönlichkeiten, eine Bürgerin und ein Bürger aus Asien, für ihren Einsatz und ihr Engagement mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurden. Ihnen, sehr geehrter Herr Satyarthi, haben wir schon gratuliert, noch einmal herzlichen Glückwunsch. Und auch Ihnen Glückwunsch, der Stiftung: zwei Friedensnobelpreisträger auf dem Podium, das kann nicht jeder!

Das Beispiel unserer Ausgezeichneten und das der anderen Diskussionsteilnehmer, es zeigt uns, was Menschen zu bewegen vermögen besondere Menschen, ohne jeden Zweifel, aber es sind eben auch keine Übermenschen, sondern es sind welche von uns, Menschen aus Fleisch und Blut.

Zivilgesellschaft wächst aus solchem Engagement heraus. Ihre Strukturen sind zerbrechlich und offen. Und es ist wichtig, das Streben aus der Mitte dieser Gesellschaften durch staatliche wie stifterische Initiativen zu begleiten so wie es die Robert Bosch Stiftung und viele, viele andere Stiftungen tun. Ich bin deshalb sehr gespannt auf die folgende Diskussion. Ich will gerne hören, was Ihnen durch den Kopf geht und in welche Richtungen sich Ihre Initiativen entwickeln werden.

Manchmal brechen sich Veränderungen in einer Weise Bahn, die niemand vorhersehen kann. Für mich, das ist klar, gerade in diesen Wochen, sind es die großen Veränderungen in Mittelosteuropa vor 25 Jahren. An einem Montag gingen in Leipzig und vielen anderen Orten der DDR Menschen auf die Straße, viel mehr als noch vor einer Woche. Ich habe vor einer Woche zusammen mit den Präsidenten aus Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn in Leipzig an diese große Weichenstellung gedacht. Und uns allen ist bewusst geworden: Wohin die friedlichen Demonstrationen führen können, das konnte damals noch keiner so genau wissen. Aber nachdem die Menschen sich ermächtigt hatten und aufgestanden waren, gab es ein halbes Jahr später eine Demokratie in der DDR. Ein weiteres halbes Jahr später gab es die Wiedervereinigung Deutschlands.

Geschichte ist offen, so erkennen wir nicht immer, aber in solchen Situationen sehr deutlich. Und die Zukunft, sie ist gestaltbar.

Es ist an uns, das Privileg der Freiheit verantwortlich zu nutzen eigensinnig und doch mit dem Ziel des Gemeinsinns.

Es ist an uns, unser Vermögen auch für andere einzusetzen. Und das kann nicht nur der, der über materielle Reichtümer verfügt.

Wer aber das Glück hat, mit dem Vermögen anderer arbeiten zu dürfen, der stifte an, was er für wichtig und richtig erkannt hat.

Und wer reich ist, dem rufe ich den schönen Satz von Robert Bosch zu: "Ein Idealist ist ein Materialist, klug genug einzusehen, dass es nicht ihm allein gut gehen kann."

Ich danke Ihnen.