Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 16. Mai 2015

Untertitel: Bundespräsident Joachim Gauck hat am 16. Mai bei der Verleihung des 50. Theodor Heuss Preises in Stuttgart eine Rede gehalten: "Für mich haben die Arbeit der Theodor Heuss Stiftung und dieser Preis vor allem deshalb eine besondere Bedeutung, weil beide würdigen, was mich mein Leben lang bewegt hat und was essenziell ist für die Menschen, unsere Gemeinschaft und unser Zusammenleben in einem Gemeinwesen: Freiheit und Demokratie!"
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/05/150516-Theodor-Heuss-Preis.html


Ich bin gerne zu Ihnen nach Stuttgart gekommen. Nicht nur, weil ich, wie Sie gehört haben, einmal zu den Ausgezeichneten gehörte, als "die friedlichen Demonstranten des Herbstes 1989 in der DDR" den Preis erhielten. Und auch nicht, weil ich früher Mitglied im Vorstand der Theodor Heuss Stiftung war. Nein, wichtig ist mir: Theodor Heuss war ein Mensch, der durch seine Person schon früh, und dann vor allem als es notwendig war, unzählig viele vorher verirrte und verwirrte Bürger wieder mit der Demokratie befreundet hat. Das war eine seiner größten Leistungen.

Und es ist dieser Geist von dem der Vorsitzende eben gesprochen hat, dessen Fortführung sich die Stiftung auf die Fahnen geschrieben hat. Und das war und ist fruchtbar. Es gibt viele Gruppen, Institutionen, Initiativen und Vereinigungen, die sich von diesem Ansatz her haben leiten lassen und selber in die Bildungsarbeit, in die Aufklärungsarbeit, in das beständige Werben für eine lebendige Demokratie haben einladen lassen. Und so etwas verbindet Menschen auch intensiver als nur das Zusammenarbeiten in einer bestimmten Aktion für eine ganz bestimmte Zeit.

Nein, hier haben Menschen zusammengefunden, die das Werk von Theodor Heuss fortgesetzt haben, diejenigen, die sich von der Demokratie entfremdet hatten, wieder mit der Demokratie zu befreunden. Wir erleben das gerade in den Europadebatten heute, das brauchen wir das als beständige Haltung bewusster Bürger, ihre Bereitschaft, sich und fortwährend andere, die mit der Demokratie fremdeln, immer wieder erneut mit den Grundwerten, Zielen und Inhalten der Demokratie in einen freundlichen Kontakt zu bringen.

Uns allen, die wir uns heute hier versammelt haben, liegen Demokratie und Freiheit ebenso am Herzen wie dieser Stiftung. Und vorhin habe ich ein wunderschönes Wort gehört, das mir bei der Vorbereitung gar nicht so bewusst wurde. Es gehört zu Freiheit und Verantwortung: Mut! Mut ist nicht nur in einer Diktatur gefragt. Mut ist beständig gefragt. Und ohne eine Bereitschaft, sich manchmal kalte Winde um die Nase wehen zu lassen oder Gegenwind zu ertragen, wird auch in der Demokratie nicht alles so werden, wie es vielleicht wünschenswert ist.

Ja, wir spüren es: Indem wir Menschen auszeichnen, wie es hier die Theodor Heuss Stiftung nun dankenswerterweise seit 50 Jahren tut, preisen wir etwas, von dem wir zu wenig haben. Wir preisen, was wir vermissen. Und dass wir aber nicht nur im defizienten Modus unsere Demokratie gestalten, sondern dass es auch Fülle und glückhafte Erfahrung gibt, positive Veränderung gibt, das alles kann man besichtigen, wenn man zu dieser Veranstaltung der Theodor Heuss Stiftung kommt. Wie schön! Danke dafür!

Eines ist mir bei der Betrachtung der Preisträgerliste aufgefallen und das ist mir sympathisch: Es ist nicht das Parteibuch, die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu oder einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, das entscheidend dafür ist, wer ausgezeichnet wird. Ausschlaggebend ist allein das freiheitliche und demokratische Wirken der Preisträger. Das wird sehr deutlich in den ganz verschiedenen Charakteren all der Preisträger ihre politische Verortung, ihr Herkommen und ihre Biografien sind sehr unterschiedlich. Wenn ich nur wenige Beispiele nennen darf: 1968 wurde Gustav Heinemann ausgezeichnet, für seine Bemühungen um eine Justizreform; oder 1993 war Václav Havel Preisträger, der mit seinem "Versuch, in der Wahrheit zu leben", vom verfolgten Regimegegner zum Präsidenten eines freien Landes geworden war; 1995 war es Hans Koschnick, der geehrt wurde, für sein jahrzehntelanges politisches Engagement für Versöhnung, vor allen Dingen mit Polen und Israel, oder noch ein Name: Gerhart Baum war 2008 Preisträger, für sein langes außerordentliches Engagement als liberaler Verteidiger der Rechte der Bürger.

Und nun 2015 zur 50. Preisverleihung der Europäische Gerichtshof mit seinem Präsidenten Vasilios Skouris. Was für eine wunderbare Perlenkette des politischen Willens, der Demokratie und der Freiheit. Dass eine Institution ausgezeichnet wird, ist nicht neu für die Stiftung und die Auszeichnung schon früher wurde die Arbeit von Organisationen gewürdigt, die für Freiheit und Demokratie eingetreten sind oder sich besondere Verdienste erworben haben: 2005 etwa Human Rights Watch oder 1993 der 25. Deutsche Evangelische Kirchentag und als erste 1965 die Aktion Sühnezeichen.

Der Europäische Gerichtshof erhält den Preis für seine Rechtsprechung zur Stärkung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger und sein Eintreten für rechtliche Einheit und Rechtstaatlichkeit in der Europäischen Union. Ich möchte der Laudatorin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, natürlich nicht vorgreifen. Und ich möchte auch nicht, was ich gerne tun würde, zur Lage Europas Stellung nehmen. Das habe ich vorgestern bei der Verleihung des Karlspreises getan und will es nicht wiederholen.

Aber die heutige Preisverleihung möchte ich trotzdem für eine kurze Anmerkung nutzen, die mir wichtig ist: Auf den ersten Blick mag es überraschen, dass ein Gericht einen solchen Preis erhält, einen Preis dafür, dass es seine Arbeit macht. Trotzdem setzt die Theodor Heuss Stiftung mit der Preisverleihung ein sehr wichtiges Zeichen.

Wir erinnern uns an die Grundidee der Europäischen Einigung: das Rechtsprinzip als Grundlage der Integration Europas, die Unterordnung der Macht unter das Recht. Ich bin 75 Jahre alt und habe als Deutscher, obwohl am selben Ort wohnend, in drei verschiedenen Gesellschaftssystemen gelebt. Und wenn ich das sage und zwei von diesen drei dabei vor Augen habe, dann hat dieses Prinzip der Unterordnung der Macht unter das Recht für mich eine ganz herausragende Bedeutung. Europa war und ist eine Rechtsgemeinschaft, deren Integration durch Recht erfolgte und erfolgt. Dieses Prinzip ist bedroht, wenn es wieder hoffähig wird, dass Macht Recht bricht.

Integration durch Recht ist der spezifische europäische Weg eines Zusammenwachsens der Völker und Staaten er ist es, selbst wenn sich der Weg, wie wir alle sehen, als holprig erweist und durch Täler führt wie es gerade im Moment der Fall ist. Immer schon ist der Europäische Gerichtshof als "Motor der Integration" bezeichnet worden, der das europäische Vehikel auf seinem Weg antreibt. Und er hat seiner integrationsfreudigen Rechtsprechung im letzten Jahrzehnt eine neue Komponente hinzugefügt: Der Gerichtshof hat sich immer mehr zum Bürgergerichtshof entwickelt, der neben den Grundfreiheiten die Grundrechte der Bürger schützt. Das ist vielen Menschen in Europa spätestens dadurch bewusst geworden, dass der Europäische Gerichtshof im letzten Jahr ein "Recht auf Vergessen" im Internet etabliert hat. Und deshalb stimmt es mich ganz besonders froh, dass die Theodor Heuss Stiftung mit der heutigen Preisverleihung diese Rechtsprechung würdigt, die so wichtig ist für das Grundvertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Europäischen Institutionen und damit zugleich für die Vereinigung und das Zusammenwachsen Europas.

Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen Grund nennen für die Freude, dass ich hier unter Ihnen sein kann. Der ist mit einem Namen zu bezeichnen: Hildegard Hamm-Brücher. Diese Stiftung ist ein Teil ihres Lebenswerkes als Zoon politikon. Auch wenn wir, Frau Hamm-Brücher und ich, ganz verschiedene Lebenswege haben, verbindet uns beide doch etwas ganz einfaches. Es ist die Liebe zur Freiheit. Mit Unfreiheit und Diktatur haben wir je eigene Erfahrungen gemacht: Frau Hamm-Brücher hat immer wieder berichtet, wie elementar die Freiheit für sie war, 1945, wie erlösend und befreiend, ohne Angst zu sein. Ich denke an 1989, als die Menschen in der DDR sich ihre Freiheit errungen haben und als ich ganz ähnlich empfunden habe. Wenn wir das Wort Freiheit aussprechen, so haben wir vor Augen, dass sie uns immer doppelt erscheint. Als Verheißung vor uns liegend und als Aufgabe in der Gegenwart. Beides sollte uns beständig am Herzen liegen. Von hier aus wünsche ich Frau Hamm-Brücher sicher auch in Ihrer aller Namen alles Gute!

Ich gratuliere allen Preisträgern des heutigen Tages ganz herzlich und wünsche der verdienstvollen Theodor Heuss Stiftung weiterhin viel Erfolg für ihr vorbildliches Wirken.