Redner(in): Johannes Rau
Datum: 9. November 1999

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/1999/11/19991109_Rede2.html


I. Der 9. November ist in unserer deutschen Geschichte ein ganz besonderer Tag. Mit dem 9. November 1938 verbinden sich schlimme Erinnerungen, Erinnerungen an die Reichspogromnacht in vielen deutschen Städten.

Der 9. November 1989 hingegen ist ein großer Tag in unserer Geschichte. Er steht für Freiheit, Bürgermut und für die Hoffnung auf eine gute Zukunft.

Alle, die alt genug waren, können sich daran erinnern, wo sie am 9. November 1989 waren und mit welchen Gefühlen und Erwartungen sie die ersten Nachrichten und die ersten Bilder vom Öffnen der Grenze, vom Fall der Mauer gesehen und erlebt haben.

Ich war damals in Berlin und Leipzig, und für mich bleibt der 9. November 1989 ein Tag heller Freude, der zeigt, dass uns Deutschen Geschichte auch gelingen kann.

II. Die Bürgerinnen und Bürger der DDR haben die Freiheit selber errungen - in einer friedlichen Revolution mit Kerzen und Gebeten. Sie haben deutsche und europäische Freiheitsgeschichte geschrieben - wie Polen und Ungarn, Tschechen und Slowaken vor und mit Ihnen. Zehn Jahre später fällt uns stärker das auf, was nicht oder noch nicht gut ist - und nicht das, was schon gelungen ist. Lassen Sie uns darum nicht vergessen - bei allen Mängeln, die zu Recht kritisiert werden, bei allen Fehlern, die es gegeben hat und gibt: Es hat sich so vieles zum Besseren gewendet.

Der Fall der Mauer ist ein Glück für unsallegewesen - im Westen und im Osten.

III. Trotz alledem empfinden viele Enttäuschung, gibt es viel Mißmut. Ein wichtiger Grund dafür sind falsche und übertriebene Erwartungen, die zum Teil leichtfertig verstärkt worden sind. Trotz gleicher Sprache und gemeinsamer Geschichte haben wir uns in vierzig Jahren weiter voneinander entfernt, als das den meisten vor zehn Jahren klar gewesen ist.

Dazu kommt in den neuen Ländern die Erfahrung von Arbeitslosigkeit und sozialer Unsicherheit. Die DDR hat rechtzeitig aufgehört zu bestehen, bevor die Wirtschaft und das Sozialsystem gänzlich zusammengebrochen wären.

IV. Wir stehen in Deutschland vor großen Aufgaben, die wir in gemeinsamer Anstrengung lösen können: Wir brauchen eine dynamische und nachhaltige Wirtschaft für zukunftssichere Arbeitsplätze. Wir müssen unter veränderten Bedingungen nach sozialer Gerechtigkeit streben, die unser Land zusammenhält. Freiheit braucht Gerechtigkeit, damit die Starken die Schwachen nicht beiseite schieben.

Ich sehe in unserem Land genügend Kraft und guten Willen, damit wir die Chancen wahrnehmen, die sich uns bieten.

Die "innere Einheit", die wir brauchen, bedeutet nicht Gleichmacherei zwischen Rostock und Konstanz, zwischen Görlitz und Aachen. Regionale Vielfalt ist eine Bereicherung - wenn jeder die gleichen Chancen hat, aus seinem Leben etwas zu machen.

V. Heute bitte ich Sie alle in Ost und West, in Nord und Süd: Engagieren Sie sich für unsere gemeinsame Zukunft! Gehen wir aufeinander zu. Dazu hat jeder viele Gelegenheiten.

Wenn wir unsere unterschiedlichen Erfahrungen zusammenführen, dann wird im Alltag das Wirklichkeit, was im "Lied der Deutschen" steht: "Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand."

Das gilt für unser deutsches Vaterland - und für unsere gemeinsame Zukunft Europa.