Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 11. September 2015

Untertitel: Bundespräsident Joachim Gauck hat am 11. September zur Eröffnung des Bürgerfestes 2015 eine Ansprache gehalten: "Unsere Demokratie muss lernfähig sein, sie muss sich über neue Aufgaben und Ziele immer wieder verständigen, muss komplexe bürokratische Abläufe vereinfachen und auf die konkrete Situation beziehen. Die Politik und die Bevölkerung wir alle lernen das gerade gemeinsam. Und dabei spüren wir etwas ganz Besonderes: Es macht uns dankbar und glücklich und auch ein wenig stolz , wenn wir uns miteinander zum Guten verbinden."
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/09/150911-Buergerfest-Freitag-2015.html


Guten Tag, liebe Bürgerinnen und Bürger!

Mit dieser Anrede muss unser Fest einfach beginnen. Es ist ja ein Bürgerfest. Vor allem ist es ein Fest, das Bürgersein nicht nur als Rolle versteht, sondern als Haltung. Und Haltung brauchen wir, das spüren wir gerade in diesen Wochen, dringend in Deutschland. Ich komme gleich noch darauf zu sprechen. Erst einmal aber: Schön, dass Sie alle da sind, liebe Bürgerinnen und Bürger und natürlich auch Sie, liebe Gäste aus dem Ausland!

Insgesamt 6.000 sind heute in den Park von Schloss Bellevue gekommen. Für einige war es sicher nicht leicht, die Zeit im Kalender frei zu räumen. Umso mehr freut es Daniela Schadt und mich, Sie begrüßen zu können, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin! Es ist ein besonderes Geschenk an uns alle, dass Sie bei Ihrer Überfülle von Arbeit heute unter uns sind!

Das gilt auch für Sie, Exzellenzen, die ich herzlich begrüße, und das betrifft natürlich auch Sie, meine Damen und Herren Bundesminister, Herr Ministerpräsident Woidke, sehr geehrte Fraktionsvorsitzende und Parteivorsitzende, meine Damen und Herren Abgeordnete, die Sie so zahlreich gekommen sind!

So viele mehr müsste ich noch nennen. Sie, verehrte Amtsträger aus der Politik, stimmen mir sicher zu, wenn ich jetzt den wichtigsten Satz des Tages an die ehrenamtlich Engagierten hier im Park richte. Und dieser Satz besteht aus einem einzigen Wort: Danke!

Dieses Dankeschön kommt ganz von innen, aus tiefster Überzeugung. Stellen wir uns doch nur einmal vor: Was wäre Deutschland ohne seine Freiwilligen? Was wäre Deutschland ohne all die Menschen, die sich verantwortlich fühlen, die sich kümmern in den Kirchengemeinden und Wohnvierteln, in den Vereinen, in den Verbänden, im Stiftungswesen? Wie sähe es aus ohne die Ehrenamtlichen in unseren Jugendklubs oder Obdachlosenheimen? Im Umweltschutz, in der Denkmalpflege? Im Sport, in der Kunst und in der Kultur? Oder was uns derzeit ganz besonders bewegt wie sähe es aus in der Flüchtlingshilfe?

Zum Glück muss ich dieses Gedankenexperiment nicht vertiefen. Deutschland hat Millionen Engagierte. Gerade gegenüber denjenigen, die in großer Not und mit großen Hoffnungen aus der Ferne zu uns kommen, haben unzählige Freiwillige in den vergangenen Monaten Solidarität bewiesen. Sie sind dort in Vorleistung gegangen, wo die staatlichen Maßnahmen oft erst anlaufen, und sie springen ein, wo Ausnahmesituationen es nötig machen. Sie helfen in München so wie hier in Berlin und in zahllosen anderen Gemeinden überall in Deutschland. Und sie gehen dabei oft an ihre persönlichen Grenzen: beispielhaft genannt die Ärzte, die zusätzliche Abendschichten machen, um Flüchtlinge zu behandeln, die Schüler und Rentnerinnen, die oft nach dem Verteilen von Lebensmitteln völlig erschöpft sind. Ich denke nicht zuletzt an die ehrenamtlichen Gemeinderatsmitglieder und ehrenamtlichen Bürgermeister, die jetzt moderieren, entscheiden und handeln müssen, oft auch improvisieren das letzte ist bekanntlich nicht so beliebt in Deutschland.

Wir spüren bei alledem: Unsere Demokratie muss lernfähig sein, sie muss sich über neue Aufgaben und Ziele immer wieder verständigen, muss komplexe bürokratische Abläufe vereinfachen und auf die konkrete Situation beziehen.

Die Politik und die Bevölkerung wir alle lernen das gerade gemeinsam. Und dabei spüren wir etwas ganz Besonderes: Es macht uns dankbar und glücklich und auch ein wenig stolz, wenn wir uns miteinander zum Guten verbinden.

Wenn wir diesem Land ein menschliches Gesicht geben, so ist das unsere Antwort an Hetzer, Brandstifter und Menschenfeinde. Wir zeigen jeden Tag, dass sie verlieren werden.

Wir zeigen und bekennen miteinander: Dieses Bürgerland Deutschland versteht Freiheit nicht als Berechtigung zu Hass und Verachtung. Es versteht und buchstabiert die Aufgabe der Freiheit als Beauftragung zur Verantwortung.

Dazu gehört manches, zum Beispiel, dass wir Probleme und Herausforderungen erkennen und auch benennen. Zweitens, dass wir vor Aufgaben und Problemen nicht die Augen verschließen oder die Flucht ergreifen. Und drittens, dass wir dann entschlossen handeln. So soll es aussehen, wenn wir vor komplexen Situationen stehen.

Das alles gilt ja nicht nur in der Flüchtlings- und Asylfrage. Unser Bürgerfest richtet sich an Freiwillige aus allen Themen- und Lebensbereichen, auch 2015. Aber in diesem Jahr, da lag es doch einfach nah, der Flüchtlingshilfe besonderen Raum zu geben. So haben wir beispielsweise den Arbeitgebern bei einem aktuellen Lotto-Projekt zu danken, die ihre Mitarbeiter zwei Stunden in der Woche unbürokratisch freistellen, damit sie ehrenamtlich aktiv werden können. Oder Initiativen mit so hoffnungsfrohen Namen wie "türauf" und "Ausbildung statt Abschiebung". Ich freue mich sehr, dass wir am Ort der Begegnung einen ganzen Programmpunkt dem Thema Flüchtlingshilfe widmen.

Lieber Herr von Hirschhausen,

Sie werden gleich einiges dazu sagen. Wir wissen ja von Ihnen, dass Sie wie kaum ein anderer in der Lage sind, ernste Themen auf eine Weise zu moderieren, die Menschen zum Mittun und zum Durchhalten motiviert und einlädt. Genau das brauchen wir. Wir brauchen eine Debatte, die Probleme benennt, aber dabei nicht stehenbleibt. Weil sie sich nämlich auf Lösungen konzentriert und darauf, Menschen aus möglichst allen Bereichen der Gesellschaft mit einzubeziehen.

Mittun und Durchhalten, das gilt auch für die anderen ehrenamtlichen Projekte, die an mehr als dreißig Partnerständen hier im Schlosspark vorgestellt werden. Ich danke allen Mitstreitern in den Zelten, allen Beteiligten in den Organisationen und Unternehmen, die durch ihre Beiträge den Kern unseres Festes Information und Austausch über das Ehrenamt ermöglicht haben!

Manches, was Sie sehen, meine Damen und Herren, wird Sie zur Nachahmung inspirieren. Das soll auch so sein. Etwa, wenn Sie am Erlebnisparcours zum barrierefreien Kommunizieren vorbeikommen. Oder die ich übersetze mal frei ins Deutsche "Demografischen Spiele 3000" aus Potsdam probieren. Großen Zuspruch wünsche ich auch den "Lokalen Allianzen für Menschen mit Demenz". Ihre kreativen Initiativen fangen genau dort an, wo die Betroffenen fürchten, dass es mit ihrer Kraft zu Ende sein könnte.

Der Passivität, der Gleichgültigkeit und der Ignoranz etwas entgegensetzen das gelingt vielen von Ihnen, liebe Gäste, auf eine Weise, die mir allergrößten Respekt abverlangt, die mich freut und die mich dankbar macht. Das gilt für das Miteinander im Kiez genauso wie für die Freiwilligenprojekte im Ausland. Auch dafür haben wir beeindruckende Beispiele: mutige Frauen und Männer im Kampf gegen Ebola, UNICEF für Kinderrechte weltweit oder die Wegbegleiter von AMCHA, die Überlebende der Schoah und ihre Familien in Israel unterstützen. Es freut mich ganz besonders, dass Israel 2015 unser Partnerland ist, siebzig Jahre nach dem Holocaust und fünfzig Jahre nach Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen. Herr Botschafter, Sie sitzen neben unserer Bundeskanzlerin, da sitzen Sie gut am heutigen Tage. Möge unser Fest zeigen, wie bunt und kraftvoll die Freundschaft unserer Länder ist!

Außerdem, meine Damen und Herren, werden Ihnen unterwegs, wenn Sie nachher Ihre Rundgänge machen, vielleicht Menschen begegnen, die französisch sprechen. Auch das sind Ehrengäste. Sie waren im Außenministerium, sie waren im Bundeskanzleramt, und jetzt sind sie hier. Es sind die Bürgermeister der drei Orte, die vom schrecklichen Flugzeugunglück im März betroffen waren und die so vielen Menschen Herzen und Türen aufgemacht haben, um den Hinterbliebenen beizustehen. Sie sind heute unter uns. Herzlich willkommen!

Ich will auch nicht verschweigen, dass das heutige Datum so etwas wie einen dunklen Schatten über uns wirft. Das ist ja ein besonderes Datum, an dem wir unser Bürgerfest feiern. Seit Nine-Eleven gibt es keinen 11. September mehr, der ein Tag wie jeder andere wäre, nicht für die Bürger der Vereinigten Staaten und auch nicht für Europäer und uns Deutsche.

Ich finde, gerade deshalb sollten wir heute das in Erinnerung rufen, was für unsere Bürgergesellschaft so wichtig ist: Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Und wir sollten jenen danken, die diese Werte nicht nur ideell, sondern mit dem Kostbarsten verteidigen, was sie haben mit ihrem Leben."Mutbürger in Uniform" nenne ich sie gern. Einige unserer Soldaten sind heute unter uns. Bitte nehmen Sie meine herzlichen Grüße mit an Ihre Kameraden!

Ich bewundere schon jetzt die beiden Moderatorinnen, die von meiner nicht ganz leichtfüßigen Rede gleich zum Kinderballett "Tanz ist klasse" überleiten müssen. Ja, das erzeugt eine gewisse Spannung. Aber die Hauptfrage des Abends wird nun erstmal aufgelöst, denn hier kommt der entscheidende Satz: Das Bürgerfest 2015 ist eröffnet!