Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 21. September 2015
Untertitel: Bundespräsident Joachim Gauck hat am 21. September bei der Begrüßung anlässlich des "Arraiolos-Treffens" der nicht-exekutiven Staatsoberhäupter der Europäischen Union eine Ansprache gehalten: "Die Erfahrungen unserer Vorgänger beim Aufbau eines vereinigten Europas und die Erfahrungen derer, die aus einem Areal der Diktatur einen Raum der Demokratie gemacht haben in Osteuropa, das alles mag uns ermutigen, nicht nur unsere Schwäche zu addieren, sondern unsere Stärken und unsere Ideen zusammenzutragen."
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/09/150921-Arraiolos-Begruessung.html
Heute ist der Unabhängigkeitstag von Malta. Wir gratulieren herzlich!
Willkommen im Wappensaal des Wartburghotels. Die Treffen unserer Gruppe der nicht-exekutiven Präsidenten, sie waren immer fruchtbar. Aber in diesem Jahr spüren wir, dass eine besondere Spannung über unserem Treffen liegt. Wir begegnen uns in einer Phase sehr großer Herausforderungen, und ich will nicht sagen, dass es uns nervös macht, aber wir begegnen uns mit einer gespannten Aufmerksamkeit. Heute und morgen wird es uns am Herzen liegen, im Rückblick auf all die Dinge, die uns kulturell und wertemäßig verbinden, zu fragen: Wie bleiben wir zusammen, wenn es in unseren Gesellschaften genügend Kräfte gibt, die weniger an das Zusammenhalten denken, sondern eine Renationalisierung als den politisch vernünftigen Weg vorschlagen?
Heute und morgen werden wir uns ebenfalls der zweiten großen Frage stellen, die unsere europäischen Nationen zurzeit bewegt: Wie bleiben wir solidarisch, obwohl wir über Art und Umfang der Solidarität nicht einig sind? Wenn wir Antworten auf diese beiden Fragen suchen, mag es helfen, dass wir nicht nur die Gegenwart betrachten, sondern auch zurückschauen. Was hat unsere Werte geschaffen? Und wie ist die europäische Kultur im Stande, uns das Gefühl zu geben, dass wir nicht ohnmächtig sind, sondern dass wir Herren unserer Gestaltung bleiben können? Deshalb haben wir heute den Rückblick gehört auf die große Tradition der europäischen Kultur, auch auf die Begegnung mit der Tradition von Aufklärung und Reformation. Und deshalb überhaupt die Begegnung mit dieser Stadt, mit diesem besonderen Denkort der deutschen Geschichte, mit dem Protestantismus und mit der Bibel.
Wenn wir uns deutlich machen, liebe Gäste, liebe Staatsoberhäupter, wie stark wir verbunden sind in unserer europäischen kulturellen Entwicklung, wie stark uns die Werte einigen, auf die wir uns in Europa geeinigt haben, dann kann es nur als schwere Last auf uns liegen, dass wir nicht einmütig und mit einer Stimme die Lösungen definieren können, die wir brauchen angesichts der Krise, die wir jetzt mit den Asylbewerbern und Flüchtlingen vor uns sehen Das bedrückt mich. Und ich weiß, dass es Sie auch bedrückt.
Deshalb überlegen wir uns nun gemeinsam, wie uns die Werte, auf die wir uns eingeschworen haben in Europa, und wie die Erfahrungen unserer Vorgänger Europa aus einem Kontinent der Kriege und des Mordens verwandeln konnten in einen Kontinent des Friedens und des Rechts. Und wir überlegen uns, wie wir diese Erfahrungen mit den gegenwärtigen Herausforderungen kombinieren. Die Erfahrungen unserer Vorgänger beim Aufbau eines vereinigten Europas und die Erfahrungen derer, die aus einem Areal der Diktatur einen Raum der Demokratie gemacht haben in Osteuropa, das alles mag uns ermutigen, nicht nur unsere Schwäche zu addieren, sondern unsere Stärken und unsere Ideen zusammenzutragen. Auch das ist ein Sinn unseres Treffens.
In diesem Sinne werde ich gleich meinen Toast ausbringen, aber vorher möchte ich noch danken Herr Ministerpräsident, Frau Oberbürgermeisterin, Herr Burghauptmann: Wir sind Ihnen dankbar für Ihre Gastfreundschaft. Auch danke ich allen, die diese Zusammenkunft mitgestaltet haben. Wir fühlen uns wohl hier in der Mitte Deutschlands, die Sonne hat heute über uns geschienen, und wir freuen uns auf den morgigen Tag in Ihrer Landeshauptstadt Erfurt. Und nun, meine Damen und Herren, bitte ich Sie, mit mir das Glas zu erheben. Auf das Wohl der Völker, die wir vertreten, auf den Frieden in Europa und darauf, dass sich hier Menschen treffen, die nicht über die letzten Lösungen verfügen, aber die gleichwohl unerschütterlich daran arbeiten, dass mehr Menschlichkeit, mehr Frieden und mehr Freiheit und Recht möglich ist. Auf Ihr Wohl!