Redner(in): Johannes Rau
Datum: 17. November 1999
Anrede: Meine Damen und Herren,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/1999/11/19991117_Rede.html
nachdem ich die Einladung bekommen und die Zusage gegeben habe, hier ein Grußwort zu sprechen, haben mich mancherlei Skrupel nachdenklich gemacht. Politik und Architektur, das ist eine sehr komplizierte Beziehung: Nicht nur, weil die Politiker gerne in der Sprache der Architekten reden; sie reden vom Umbau, vom Abbau, vom Aufbau, sie reden vom Europäischen Haus - und diese Metapher Gorbatschows hat ja viele Jahre bestimmt; sondern deshalb, weil es immer wieder in der Geschichte Politiker, Staatenlenker gegeben hat, die geglaubt haben, sich die Architektur dienstbar zu machen und dienstbar machen zu müssen. Viele große Städte, auch Berlin, legen davon Zeugnis ab. Da entsteht eine Architektur, die ist frei von humanen Akzenten. Da entsteht eine Architektur, die nicht danach fragt, was der Mensch sieht, wie der Mensch wohnt, sondern wie eine Gesellschaft sich darstellt.
Ich bin skeptisch gegenüber solchen Staatenlenker-Architekturen. Ich bin skeptisch, weil die Architektur von allen Künsten diejenige ist, die die größte gesellschaftliche Verantwortung und die größte gesellschaftliche Wirkung hat. Ein Buch kann man zuschlagen. Eine Schallplatte kann man weglegen. An einem Haus kann man nicht vorbeigehen, ohne es zu sehen. Das prägt unser Bild von der Gesellschaft und das hat weitreichende Konsequenzen. Der Berliner Heinrich Zille hat gesagt: "Man kann auch mit einer Wohnung Menschen erschlagen." Und er hat Recht.
Mitten in diese spannungsvolle Beziehung zwischen Architektur und Politik, die etwa in der Zeit des Nationalsozialismus zu schrecklichen Bauten geführt hat, aber nicht nur in der Zeit des Nationalsozialismus, auch später noch und an anderen Orten, kommt der deutsche Architekturpreis; und ich darf dazu ein Grußwort sagen. Zuerst würde ich gern verstärken, was Sie, Herr Professor Durth, gesagt haben: Die Tatsache, dass ein Engländer den Bundestag umbaut, die Tatsache, dass Architekten aus Wien, aus Graz, aus Paris dabei sind, das ist für mich ein Anlass zu heller Freude. Denn die Zeit, in der immer nur die "Eigenen" was tun durften, die war gleichzeitig die Zeit, in der wir anderen etwas angetan haben. Darum bin ich für die Weltoffenheit dieser Stadt, für die Weltoffenheit dieses Architekturpreises und für die Weltoffenheit der Architektur in Deutschland. Ich finde es gut, dass wir von Nachbarn lernen und dass wir uns an ihnen messen.
Humane Architektur hat andere Dimensionen als eine, von der Enzensberger einmal gesagt hat, sie habe etwas mit Terrorismus zu tun. Humane Architektur versucht, Häuser zu bauen; und zu den guten Dingen dieser Jahre gehört die Erkenntnis, dass in Deutschland auch wieder Synagogen gebaut werden: Wer ein Haus baut, will bleiben. Wir sind froh darüber, dass Menschen wieder bei uns bleiben wollen und zu uns kommen, deren Geschichte durch deutsche Schuld geprägt ist. Zum Glück hat Leo Baeck eben nicht Recht behalten, als er sagte, der deutsch-jüdische Dialog sei ein für alle Mal zu Ende. Wir beginnen wieder Brücken zu bauen, und wir beginnen wieder, über Brücken zu gehen. Darüber bin ich froh.
Ich gehöre zu denen, die das Jüdische Museum noch gar nicht kennen, die unendlich viel darüber gelesen haben, die sich X-mal vorgenommen haben, es zu besuchen, es zu besichtigen, bevor hier Exponate sind - und das schaffe ich auch noch. Aber ich gehöre auch zu denen, die mit Faszination gelesen haben, was wir eben hörten: Dass viele Tausend Menschen hierher kommen, um das Kunstwerk zu sehen, das die Voraussetzung für die späteren Kunstwerke ist, nämlich das Museum selber. Ich möchte Ihnen, Herr Libeskind, ganz herzlich dazu gratulieren, dass Sie diesen unverwechselbaren Akzent haben setzen können mit dem Jüdischen Museum, das heute - wie ich finde - zu Recht ausgezeichnet wird.
Was die anderen Preisträger angeht: Ich soll sie nicht einzeln vorstellen, das ist nicht meine Aufgabe. Aber zu gratulieren, auch bevor die Urkunden ausgehändigt werden, das ist mein Recht und das ist meine Pflicht, die ich umso lieber erfülle, als ein Bau dabei ist, mit dem ich in engem Zusammenhang stehe. Eine Anerkennung bekommt heute auch das neue Bundespräsidialamt, in dem die Menschen leben, unter denen ich arbeite.
Ich selber wohne nicht im Schloss Bellevue. Das kann man nicht als Vater heranwachsender Kinder; dann könnte man gleich mit Prinzenerziehung anfangen. Ich wohne in einem Haus, das 1912 ein jüdischer Architekt in Berlin für eine rheinische Industriellenfamilie gebaut hat. Vor etlichen Wochen war der Arbeitskreis jüdischer Architekten bei mir, um die Pläne einzusehen, um sich die Bilder anzusehen, um die Verwandlungen und Wandlungen dieses Hauses in acht Jahrzehnten zu betrachten und zu bewerten. Ich freue mich darüber, dass Menschen zu uns gekommen sind und dass wir zueinander gefunden haben, um deutlich zu machen: Architektur ist eine humane Kunst, ist eine der Humanität verpflichtete Kunst.
Wenn das im Jüdischen Museum deutlich wird, dann wünsche ich mir, dass nicht nur die schrecklichen Jahre der Shoa gezeigt, dargestellt, eingeprägt werden, sondern die ganze deutsch-jüdische Geschichte. Damit wir als Deutsche nicht nur lernen und weitergeben in der Erinnerung, was Menschen Menschen angetan haben, sondern damit wir auch sehen, welche schreckliche Selbstamputation es gewesen ist, dass wir den Beitrag der Juden zur deutschen und zur europäischen Kulturgeschichte in Medizin, Wissenschaft, Literatur, Musik, in der Malerei, in allen Künsten, dass wir das alles weggeschoben haben. Wer nachliest, wer die Namen einmal wegdenkt aus der Kulturgeschichte seit Moses Mendelssohn, der merkt erst: Wir haben uns selber ärmer gemacht durch den Ungeist, der im 19. Jahrhundert begonnen hat, dem wir zu wenig widersprochen haben, der aufbauen konnte auf kirchlichem Anti-Judaismus und Antisemitismus, der das Nationale missbrauchte und ins Nationalistische trieb und der uns damit die eigene Humanitas weggenommen hat. Ich hoffe, dass das Jüdische Museum in Berlin vom Leid erzählt, aber auch den Reichtum wiedergibt, der verloren gegangen ist, damit wir einen Boden finden, auf dem wieder etwas wachsen und blühen kann.
Es ist ja kein Zufall, dass der wachsende, der blühende Baum das Symbol jüdischen Denkens ist - nicht nur im ersten Psalm; und es ist ja kein Zufall, dass auf den ersten Blättern der Bibel vom Städtebau die Rede ist und dass auf den letzten Blättern der Bibel, in diesem Falle des Neuen Testaments, von der Stadt die Rede ist, in der kein Leid, kein Geschrei, keine Tränen sein sollen.
Architektur kann nicht den Himmel auf Erden schaffen; wer den Himmel auf Erden schaffen will, bringt immer die Hölle über die Menschen. Menschliche Städte bauen, menschliche Häuser bauen, Städte, die etwas anderes sind, als in Beton umgesetzte Flächennutzungspläne, Städte, in denen man Kind sein kann und Kinder haben möchte, Städte in denen junge und alte, gesunde und kranke, gesellige und einsame miteinander leben und die Chance bekommen, dass ihr Leben gelingt: Das ist ein Auftrag an die Architektur, der wird nie aufhören, der wird nie erfüllt sein. Aber sich ihm zuzuwenden, sich ihm zu widmen, sich in ihm zu bewähren, in ihm den Wettbewerb zu leisten, das ist reizvoll, das macht Freude, das gibt Erfüllung und das zeigen die Architekturpreise, zu denen ich herzlich gratuliere.