Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 13. Oktober 2015

Untertitel: Bundespräsident Joachim Gauck hat am 13. Oktober bei der Eröffnung einer koreanisch-deutschen Konferenz zu Wissenschaft und Innovation eine Rede gehalten: "Um unsere Lebensgrundlagen zu erhalten, um Wachstum und Wohlstand in unseren Ländern zu sichern und die Lebensbedingungen der Menschen weltweit zu verbessern, brauchen wir neue Ideen und neue Lösungen. Wir brauchen Innovation. Dafür müssen wir das Potenzial unserer Länder nach Kräften entfalten."
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/10/151013-Korea-Wissenschaftskonferenz.html


Ich freue mich, heute Vormittag bei Ihnen zu sein und über die Gelegenheit, an dieser Innovationstagung teilzunehmen. Sie setzen einen Konferenzreigen fort, der beispielhaft ist für die lebendigen und fruchtbaren Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern. Ich danke allen, die mit ihrem Engagement für diese Konferenzreihe dazu beitragen, Ideen für die Zukunft unserer beiden Länder und für die Stärkung der koreanisch-deutschen Beziehungen zu entwickeln. Besonders den engagierten Mitgliedern vom "Alumni-Netzwerk Deutschland-Korea" gilt mein herzlicher Dank.

Mit dem diesjährigen Tagungsschwerpunkt "Innovation" haben Sie ein Thema gewählt, das mir besonders am Herzen liegt. Sie alle wissen um die globalen Herausforderungen, die uns gemeinsam fordern: die Endlichkeit unserer Ressourcen, die Ernährung aller Menschen, die immer noch nicht gesichert ist, und die Bekämpfung von Epidemien. Um unsere Lebensgrundlagen zu erhalten, um Wachstum und Wohlstand in unseren Ländern zu sichern und die Lebensbedingungen der Menschen weltweit zu verbessern, brauchen wir beständig neue Ideen und neue Lösungen. Wir brauchen Innovation. Dafür müssen wir das Potenzial unserer Länder nach Kräften entfalten.

Mancher hier im Saal mag nun denken, ich wolle Eulen nach Athen tragen. Und in der Tat hat Ihr Land erfolgreich Kräfte für einen grundlegenden Wandel gebündelt und dabei bewundernswert viel Kreativität mobilisiert. Vom bitterarmen, kriegszerstörten und durch Teilung versehrten Agrarstaat hat sich Südkorea seit den 1950er Jahren zu einem modernen, demokratischen Industriestaat entwickelt. Staunend und bewundernd erlebte die Welt, wie die Koreaner innerhalb von nur zwei Generationen zielstrebig den ökonomischen Aufstieg schafften, einen Aufstieg, der das soll hier nicht verschwiegen werden in den westlichen Industriestaaten manchmal Sorgen weckte angesichts der tüchtigen koreanischen Konkurrenz, die da im internationalen Wettbewerb kräftig mitmischt.

Heute belegt Ihr Land Platz dreizehn unter den größten Volkswirtschaften und Platz fünf unter den Exportnationen. In einem rasanten technologischen Lernprozess hat sich Korea regelrecht ins Computerzeitalter hineinkatapultiert. In Deutschland bieten die großen Leitmessen der Branche immer wieder Gelegenheit, dies einem großen Publikum zu demonstrieren. Ihr Land produziert heute IT-Produkte, die zu den modernsten und vor allen Dingen meist verkauften der Welt zählen. Sie haben eine digitale Infrastruktur aufgebaut, um die Sie viele westliche Industriestaaten beneiden. Und Korea zählt auch bei der finanziellen Förderung von Bildung und Wissenschaft international zu den Vorreitern.

Die Erfolgsgeschichte Ihres Landes ist ein Gemeinschaftswerk, an dem viele Koreaner unter großen Kraftanstrengungen mitgewirkt haben. Gemeinsamer Antrieb dafür war ihre Entschlossenheit zum Wandel, zum Fortschritt.

Auch wir Deutschen können bekräftigen: Innovationskraft entfaltet sich am besten im Mannschaftsspiel, durch Kooperationen von Unternehmen und Forschungseinrichtungen mit- und untereinander, durchaus auch über Landesgrenzen hinweg. Wir brauchen Forscher mit Pioniergeist, mit Freude am Entdecken und Neugierde auf die Welt. Wir brauchen daneben Unternehmer, die kreativ denken, die Neues ausprobieren und finanzieren. Und wir brauchen natürlich Politiker, die Weichen für Innovationen stellen. Das Zusammenspiel von Politikern, Unternehmern und Wissenschaftlern ist von besonderer Bedeutung. Die Verantwortlichen müssen vorangehen und manchmal kostet es Mühe und Zeit, um Innovation durchzusetzen.

Einen entscheidenden Innovationsmitspieler habe ich bislang noch nicht genannt: die Gesellschaft, die Bürger, die Menschen in unseren Ländern. Aber um ihre Lebensqualität, um ihre Vorstellungen und um ihre Erwartungen geht es ja letztendlich. Wir brauchen also eine gesellschaftliche Verständigung über Innovation und Offenheit. Dafür müssen wir uns austauschen, diskutieren, manchmal auch streiten: über Chancen und Risiken von Innovationen, über Freiheiten und Grenzen. Und wir müssen bereit sein, Neues und Außergewöhnliches zu wagen. Innovationsdebatten sind immer auch Prozesse gesellschaftlicher Selbstvergewisserung: Wie wandlungswillig wollen wir als Gesellschaft sein? Wie risikobereit? Wie aufgeschlossen für neue Technologien und neue Verfahren? Wie experimentierfreudig und lernbereit? Das ist in saturierten Gesellschaften manchmal schwierig, in denen bereits ein Erfolgsklima besteht, wie zum Beispiel in Deutschland. Ich denke, wenn wir in Deutschland nach Antworten suchen, können wir von den koreanischen Erfahrungen lernen.

Ob Innovationen in der Gesellschaft auf fruchtbaren Boden fallen und dort auch Früchte tragen, das liegt auch in Ihrer Hand, sehr geehrte Konferenzteilnehmer. Die Aufgabe des Innovationsvermittlers ist zweifellos anspruchsvoll, denn es liegt ja in der Natur der Sache, dass Innovationen Unwägbarkeiten bergen. Es gibt nicht nur Innovationsgewinner, es gibt manchmal auch Innovationsverlierer. Auch solche Konflikte sollten wir thematisieren.

In Deutschland haben wir gute Erfahrungen damit gesammelt, Innovationsvorhaben transparent zu gestalten und die Bürgerinnen und Bürger frühzeitig einzubeziehen. Das ist mühsam und manchmal auch hoch konfliktreich, aber so, auch durch frühzeitige Kommunikation, können Hürden auf dem Weg von der Idee zur innovativen Praxis beizeiten erkannt und Fehler korrigiert werden.

Es ließen sich viele Innovationsfelder nennen, auf denen unsere Länder gefordert sind. Ich möchte zum Schluss nur eines herausgreifen, dem Sie sich heute Nachmittag noch widmen werden. Ich meine die digitale Steuerung kompletter industrieller Produktionsprozesse eine Entwicklung, für die wir in Deutschland den Begriff "Industrie 4.0" geprägt haben. Oft ist auch von der "vierten industriellen Revolution" die Rede. Damit klingt bereits an, dass es hier nicht nur um technischen Fortschritt geht. Wir erleben vielmehr einen grundlegenden Wandel der Arbeitswelt, der ebenso grundlegende Fragen aufwirft. Welche Folgen hat die zunehmende Roboterisierung für das Verhältnis von Mensch und Maschine? Und für die Zukunftschancen unterschiedlich begabter und befähigter Menschen? Welche Arbeit, welche Qualifikationen werden gebraucht? Und wie wird Arbeit, die dank moderner Steuerungs- und Kommunikationstechnologie weniger zeit- und ortsgebunden ist, künftig organisiert?

Welche Lösungen wir finden, wie sich Arbeit 4.0 entwickelt, das, meine Damen und Herren, das bestimmen jedoch nicht Computer und Algorithmen. Das ist eine Gestaltungsaufgabe für uns Menschen, ein schöpferischer Such- und Lernprozess. Dafür brauchen wir die Freiheit des Geistes, die Freiheit für neue, ungewöhnliche, ja unerhörte Gedanken und Ideen. Nur so kann wahrhaft Zukunftsweisendes entstehen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine inspirierende Konferenz. Ich wünsche Ihnen Begegnungen, Vorträge und Gespräche, die Ihren Pioniergeist befördern und die unsere beiden Länder, unsere Innovations-Partnerschaft, bereichern.