Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 5. Februar 2016

Untertitel: Bundespräsident Joachim Gauck hat am 5. Februar bei einem Mittagessen zu Ehren von Hans-Jochen Vogel anlässlich dessen 90. Geburtstages eine Rede im Hotel Bayerischer Hof gehalten: " 'Gestalten und Dienen Fortschritt mit Vernunft'. Ich glaube, auf diese Formel lässt sich bringen, was den Kern Ihres Wirkens ausgemacht und was Ihnen Respekt und Verehrung eingebracht hat."
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2016/02/160205-ME-Bundesminister-aD-Vogel.html


Wenn einer, der im öffentlichen Leben stand, neunzig Jahre alt wird, dann erfährt er das Glück, auf ein erfülltes Leben zurückzublicken, auf unzählige Begegnungen, auf tragfähige Freundschaften, auf geschlagene Schlachten auch, auf vieles, das gelungen ist und auf einiges, von dem man nun weiß, dass man es hätte besser machen oder gleich ganz lassen sollen.

Wenn einer, der im öffentlichen Leben stand, neunzig Jahre alt wird, dann hat er aber auch das Pech, alles schon einmal gehört und gelesen zu haben, was aus seinem Leben an Bemerkenswertem zu erzählen und was zu seinen Ehren zu sagen ist. Weil mir das bewusst ist, kann ich mich auf eine kurze Rhapsodie dessen beschränken, was mir ganz persönlich wichtig erscheint.

Wenn ich eine Überschrift zu wählen hätte, dann würde ich sie mir ausborgen von der Festschrift, die zu Ihrem 70. Geburtstag erschien: "Gestalten und Dienen Fortschritt mit Vernunft". Ich glaube, auf diese Formel lässt sich bringen, was den Kern Ihres Wirkens ausgemacht und was Ihnen Respekt und Verehrung eingebracht hat.

Fast sechzig Jahre ist es nun her, dass zwei von drei Münchnern den noch reichlich jungen Juristen und Verwaltungsbeamten zum Oberbürgermeister gewählt und damit den Anfang einer außergewöhnlichen Politikerkarriere möglich gemacht haben.

Aber bei dem Wort Karriere, das sich ja immer auch nach ichbezogener Dauerdurchsetzungsanstrengung anhört, da stocke ich schon. Sie sind zwar, wie man hört, immer schon um sechs Uhr früh aktiv gewesen, aber nicht um möglichst das erste Interview im Deutschlandfunk zu geben, sondern um zu arbeiten. Es sieht aus, als seien Sie in manches Amt eher gerufen worden, als dass Sie sich danach gedrängt hätten. Das Pflichtbewusstsein war immer noch ein bisschen stärker entwickelt als das Ehrgefühl oder gar das Bewusstsein der eigenen Bedeutung.

Ja, sehr oft hatten die Menschen das Gefühl: Der Hans-Jochen Vogel, der ist Justizminister, weil genau er jetzt als Justizminister gebraucht wird. Oder: Der ist Regierender Bürgermeister von Berlin, weil das jetzt gemacht werden muss, und zwar von ihm. Oder: Der wird als Nachfolger Willy Brandts SPD-Parteivorsitzender, weil dieses Amt jetzt niemand anders ausfüllen kann. Und so könnte man wohl fortfahren. Manche in der Politik wenige! drängen sich gelegentlich genau deswegen auf, weil sie sich nie aufdrängen.

Nun: In der Demokratie wird niemand in ein politisches Amt gezwungen. Man muss auch schon wollen dürfen. Amtsausübung aber, ministerium, ist zuerst Dienst: Dienst am anderen und am Gemeinwesen. Das ist an Ihrer Art, Politiker zu sein, immer deutlich geworden.

Um kurz bei dem Amt zu bleiben, das Franz Müntefering einmal, in seiner unverwechselbaren Diktion, als das "schönste Amt nach Papst" bezeichnet hat, nämlich beim Parteivorsitz der SPD: Ausgerechnet dieses Amt ist dem ehemaligen Messdiener, dem gläubigen und praktizierenden Katholiken sicher nicht an der Wiege gesungen worden. Hier haben Sie in Person mehr als eine kleine Kulturrevolution verkörpert. Mindestens drei Privataudienzen für den katholischen Sozialdemokraten oder sozialdemokratischen Katholiken bei einem leibhaftigen Papst sind verbürgt und, wenn ich das sozusagen von der evangelischen Auswechselbank so aufs Feld rufen darf: voll verdient.

Wenn man neunzig Jahre alt geworden ist, dann ist man, ob man will oder nicht, Zeuge der Geschichte geworden, Zeuge des Wandels und oft genug eines Wandels, der menschliches Vorstellungsvermögen bei weitem übersteigt.

Der Hitlerjunge Vogel, der aus dieser Tatsache nie ein Geheimnis gemacht hat und der nach eigenem Bekunden ziemlich fest an Volk und Führer glaubte der hätte sich weder vorstellen können, dass das große Deutsche Reich nur wenig später vollkommen in Trümmern liegen würde, noch dass man es teilen würde und das Land lange nicht mehr souverän wäre.

Und sich dann wiederum vorzustellen, dass ein Deutschland praktisch ganz von vorn anfangen würde, in zwei unterschiedlichen Staats- und Gesellschaftsformen und dass man dann selber daran mitwirken würde, dass ein neues, demokratisches, freiheitliches, geschätztes Deutschland Gestalt bekommen würde.

Und dass es in diesem Deutschland noch einmal Olympische Spiele geben würde, diesmal in München, nicht in Berlin, und diesmal nicht nur ohne Hakenkreuz, sondern auch ohne die 1936 so dominierende Farbe Rot. Die gab es auf keinem offiziellen Plakat, keiner Betreuer- oder Hostessenuniform, keiner Eintrittskarte. Die gesamte Farbgebung sollte unter dem weißblauen Himmel Bayerns für ein ziviles, ein heiter-entspanntes Deutschland stehen; unter einem offenen Zeltdach, das wie das Land selber leicht sein sollte, und gerade in seiner Transparenz beschützend: Ein kleines Wunder, lieber Hans-Jochen Vogel, an dem Sie großen Anteil hatten zum Beispiel, indem Sie und das Organisationskomitee den Designer Otl Aicher damit betrauten, das ganze Erscheinungsbild der Spiele zu entwerfen.

Vielleicht hat ja auch das von Otl Aicher mitgestaltete türkisfarbene Kostüm dazu beigetragen, dass eine bestimmte olympische Hostess einem royalen Besucher so sehr aufgefallen ist, dass sie später Königin von Schweden wurde.

Wer viel erlebt hat, hat darum nicht auch schon ein großes Gedächtnis. Und Erlebnisse allein bedeuten noch nicht, dass man auch eine Erfahrung gemacht hat. Das gilt für das einzelne menschliche Leben, das gilt aber auch für Familien, für Gruppen und Gemeinschaften, schließlich auch für ganze Gesellschaften und Völker.

Deswegen haben Sie, lieber Herr Vogel, vor nun auch schon über zwanzig Jahren den Verein "Gegen Vergessen Für Demokratie" gegründet. Ich freue mich, dass im Grunde alle, die heute Mittag hier um diesen Tisch herum sitzen, mit dieser Initiative zu tun hatten oder haben.

Deswegen kann ich es mir auch hier ersparen, ins historische oder sachliche Detail zu gehen. Soviel ist aber gewiss: Diese Gründung liegt ganz auf der Linie Ihres gesamten politischen Engagements. Sie haben nämlich aus der Geschichte gelernt gerade aus Ihrer eigenen jugendlichen Verführbarkeit. Sie wollten, dass nicht die die Oberhand bekommen, die so gerne alles vergessen hätten, sondern dass unser Land die Konsequenzen aus seiner historischen Erfahrung zieht.

So hatten Sie auch schon vor fünfzig Jahren die Deutsch-Israelische Gesellschaft mit gegründet. Solidarität mit Israel war und ist für Sie eine Selbstverständlichkeit. Und genauso war immer Ihr leidenschaftliches Eintreten gegen jeden Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus fest, unbeirrbar und selbstverständlich. Ich freue mich, dass ich Ihre Nachfolge im Verein "Gegen Vergessen Für Demokratie" antreten durfte und ich freue mich, dass nun schon wieder andere den Stab übernommen haben und diese wichtige Arbeit, die ein Stück ja auch Ihr Vermächtnis ist, weiter getan wird.

Gegen Vergessen Für Demokratie: Das ist nicht nur ein Vereinsname, nicht nur ehrenvolle Überschrift über eine für unsere Gesellschaft so wichtige Initiative. Das ist in ganz kurzer Form der Appell, der unsere Verfassung gleichzeitig zusammenfasst und als unsere dauernde Aufgabe bezeichnet.

Diesem Land, das so viele "furchtbare Juristen" gekannt hat, ist mit Hans-Jochen Vogel ein seltener Spitzenjurist geschenkt worden, der weiß, dass das Ergebnis wirklichen Rechts, wirklicher Gerechtigkeit ein menschenwürdiges, friedliches, solidarisches Zusammenleben ist. Auf Latein, Sprache der Theologen und Juristen, kann man das ganz kurz sagen: Opus iustitiae pax!

Lieber Jubilar, in tiefem Respekt und mit großer Dankbarkeit möchte ich mit allen hier um den Tisch versammelten Freunden jetzt das Glas erheben auf Sie, unseren Weggefährten und Mitstreiter, auf den einmaligen und also unverwechselbaren Hans-Jochen Vogel!