Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 29. April 2016

Untertitel: Bundespräsident Joachim Gauck hat am 29. April bei der Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Ernst-Wolfgang Böckenförde eine Ansprache gehalten: "Dass die Entfaltung unseres Verfassungsstaates trotz mancher Widerstände und konfliktreicher Findungsprozesse gelang, dazu haben Sie Wesentliches beigetragen. Dieser Erfolg kann uns Mut machen für die Bewältigung aktueller Herausforderungen."
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2016/04/160429-Ordensverleihung-Boeckenfoerde.html


Herzlich willkommen zu einer sehr besonderen Ordensverleihung für eine besondere Persönlichkeit. Eigentlich ist jede Ordensverleihung etwas Besonderes, das wissen wir alle, besonders die, die schon einmal ausgezeichnet wurden. Aber die heutige Ehrung, sie hat eine besondere Vorgeschichte, die ich nicht unerwähnt lassen möchte: Als Sie, verehrter Herr Böckenförde, im Jahre 1996 für Ihr Wirken als Bundesverfassungsrichter geehrt werden sollten, da verwiesen Sie darauf, lediglich Pflichten aus dem Ihnen anvertrauten Amt erfüllt zu haben. Solche Bescheidenheit fällt hier auf, denn sie ist doch fürwahr bemerkenswert!

Wer Sie wie die meisten der hier versammelten Gäste lange und gut kennt, den überrascht allerdings Ihre damalige Entscheidung kaum: Darin spiegelt sich das Lebensethos eines Rechtsgelehrten und Denkers, der trotz der großen Wirkung seiner Worte stets ein Mensch großer persönlicher Zurückhaltung geblieben ist. Vor diesem Hintergrund freue ich mich besonders über diese gemeinsame Feierstunde mit Ihnen, Ihrer verehrten Frau, Ihren Kindern und mit den Gästen, denen Sie sich in besonderer Weise verbunden fühlen. Ich freue mich über diese Ehrung, die Ihnen und die Ihrem Lebenswerk gilt.

Viele Ihrer Schüler und Assistenten sind mittlerweile selbst hoch geachtete Persönlichkeiten, die unseren Rechtsstaat maßgeblich mitgestalten. Darauf können Sie stolz sein. Wenn ich hier den Begriff des Stolzes verwende, dann hängt das zusammen mit dem, was Rechtsgelehrte wie Sie für unser Land getan haben. Ich bin von Beruf evangelischer Pastor, und mir hatte man abgewöhnt, das Wort "Stolz" zu gebrauchen. Aber als Ergebnis meiner politischen Biografie habe ich gelernt, dieses Deutschland unserer Zeit und das Wort "Stolz" doch zusammenzubringen. Und wenn ich mich prüfe, warum das gut geht, dann kommen mir enorme politische Leistungen in den Sinn. Da ist außerdem ein erstaunlicher innerer Wandel, der diesem Land eine ganz eigene anständige Identität zurückgegeben hat. Und dann ist da auch das imposante Gebäude des Rechts. Dass in diesem Land die Ehre, die Würde und die Rolle des Rechts zurückgekehrt sind, nachdem alles verloren war, das ist doch etwas ganz Besonderes. Und deshalb will ich uns miteinander ins Bewusstsein rufen, wie wenig unsere Demokratie wert wäre, wenn es nicht dieses großartige versichernde Gebäude des Rechts gäbe.

Viele Menschen hatten nicht die Gelegenheit, sich von Kindesbeinen an, an die Wichtigkeit und die Würde des Rechts zu gewöhnen. Oft waren es andere Werte, moralische Werte, die sie geleitet haben. All das hat seinen Platz im Leben. Aber dass es so geworden ist, dass wir neben verschiedenen Elementen von Verlässlichkeit in diesem Land uns immer und zuletzt auf die Garantie des Rechts verlassen können, das verleiht nun diesem Land in der Tat eine ganz besondere und herausragende Würde und vor allen Dingen Glaubwürdigkeit. Wir müssen an das glauben können, worauf wir uns verlassen wollen. Und daran haben Sie, lieber Herr Böckenförde, und Ihre Vorgänger, Ihre Schüler, Sie alle, meine Damen und Herren, in ganz entscheidender, prägender Weise mitgewirkt. Und so erleben Sie heute einen Präsidenten, der nicht aus Ihrer Zunft stammend deshalb vielleicht zu einer ganz besonderen Verehrung Ihrer Zunft fähig ist.

Wenn ich über das Gebäude des Rechts spreche, dann meine ich damit nicht etwas Vollkommenes. Und ich sehe da gewisse Parallelen zu einem anderen Gebäude, das Teil der "gefallenen Welt" ist, wie der Theologe sagen würde, und das ist die Kirche. Man hätte sie gern als vollkommene Inkarnation des Menschenmöglichen. Aber sie ist es nicht. Sie ist theologisch gesprochen, Teil der gefallenen Welt. Und ich glaube, dass wir dem Recht mit Respekt begegnen können, obwohl es zum Teil fehlerhaft und verbesserungswürdig ist in seiner konkreten Ausprägung. Gerade wenn wir das wissen, sind uns die positiven Entwicklungen so besonders wichtig und verdienen es, dass wir nicht nur Dankbarkeit sondern Glück empfinden, Glück und Stolz.

Ich werde solche Sätze nicht oft sagen, aber hier, in Ihrer Gegenwart drängt es mich dazu, dies zum Ausdruck zu bringen das ist im Grunde ein zusätzlicher Orden, den ich als Bürger und als Präsident mit der Ihnen gleich zukommenden Ehre verbinden möchte. Lieber Herr Böckenförde, Menschen wie Sie haben mir erlaubt, in einer besonderen Weise, das Wort "Stolz" mit dem Gefühl der Dankbarkeit und der Demut zu verbinden.

Lieber Herr Böckenförde,

ich habe mir sagen lassen, dass es Ihnen widerstrebte, eine akademische Schule zu gründen. Wichtig war Ihnen etwas anderes, dass Ihre Doktoranden und Habilitanden selbstständig und mutig eigene Argumente und Ansätze entwickeln konnten. Auf diese diskursive Weise haben Sie eine "Böckenförde-Schule" ganz besonderer Art begründet: eine Schule der freien geistigen Entfaltung.

Wenn andere Ihre Verdienste erwähnen, lieber Herr Böckenförde, dann sprechen Sie selbst lieber schlicht von "Beiträgen, die Wirkung gezeigt haben". Ich will gerne hinzufügen: Mit diesen Beiträgen haben Sie unser Land beschenkt und Sie haben es bereichert als Brückenbauer zum Beispiel zwischen Kirche und Staat, als Vordenker und Förderer unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung, manchmal als strenger Mahner, wenn Sie Grundrechte und Grundprinzipien in Gefahr sahen, als Hüter der Verfassung.

Die junge Bundesrepublik befand sich noch in ihrer demokratischen Anfangsphase und Sie standen am Beginn Ihrer juristischen Laufbahn, da erhoben Sie Ihre Stimme und kritisierten die Distanz, die Sie unter deutschen Katholiken in Ihrer Kirche zur Demokratie spürten. Sie haben zugleich den Anstoß für eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle führender deutscher Katholiken während der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten gegeben. Als überzeugter Christ und leidenschaftlicher Demokrat war es Ihnen ein Herzensanliegen, die Christen im westlichen Nachkriegsdeutschland für die demokratische Ordnung, für das "Ethos der Freiheit und Gleichheit" zu gewinnen. Dass die Entfaltung unseres Verfassungsstaates trotz mancher Widerstände und konfliktreicher Findungsprozesse gelang, dazu haben Sie Wesentliches beigetragen.

Dieser Erfolg kann uns Mut machen für die Bewältigung aktueller Herausforderungen. In einer Zeit der Umbrüche und der Unsicherheiten, des Aufstiegs radikaler Kräfte und des schwindenden Zusammenhalts erleben wir mancherorts Misstrauen, ja Feindseligkeit gegenüber unserem freiheitlich-säkularen Staat. Abermals gilt es zu vermitteln, dass die pluralistische Gesellschaft Chance und Aufgabe aller Bürger ist, ganz gleich, welche religiöse, politische oder weltanschauliche Überzeugung jemand haben mag. Es gilt an die gemeinsame Verantwortung für das Gelingen der Demokratie zu erinnern. Das ist der wegweisende und von mir nach Kräften unterstützte Auftrag, den ich Ihrem berühmten Diktum entnehme.

Die meisten hier kennen es ja auswendig: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit Willen, eingegangen ist."

Wir wissen um die Geschichte dieses Diktums und wir wissen auch um die Debatten, die sich daran angeschlossen haben. Und es ist ein immer wieder interessantes Unterfangen in kritischen Phasen nochmal zu fragen: Trifft das, was Sie damals angemerkt haben, noch zu? Wollen wir, dass es stimmt? Macht es uns Probleme, dass es stimmen könnte? Ihr Diktum beschäftigt uns bis heute, und es gibt wenige Sätze, die in intellektuellen Debatten über Staat und Gesellschaft in unserem Land so häufig zitiert werden. Und doch ist Ihr Diktum für mich kein Solitär. Denn es ist eingebettet in Ihr Werk, das als Ganzes unser Gemeinwesen gestärkt hat: unser Geschichtsbewusstsein, unser Freiheitsbewusstsein und unser ethisches Verantwortungsbewusstsein. Dies alles sind die Früchte Ihrer Gelehrsamkeit, Ihres intellektuellen Scharfsinns und Ihres politischen Gespürs.

Aber es kommt noch etwas hinzu. Das ist Ihre Haltung der Zugewandtheit einer Zugewandtheit zu den Menschen und zu der Gesellschaft, die diese Menschen errichtet haben.

Der Blick auf Ihre Arbeit bliebe unvollständig ohne den Blick auf ihre ethische Grundierung. Ich denke dabei zum Beispiel an Ihre Sorge, wie auch die Schwächeren in unserer Gesellschaft sich verwirklichen und dann ihre Freiheit leben können. Oder ich denke an Ihre Interventionen zum Schutz der Menschenwürde. Gerade hier zeigt sich: Es ist auch der einzelne Mensch, so wie er ist, fähig, aber auch fehlbar, der für Sie im Mittelpunkt steht. Menschlichkeit, Intellekt und Integrität verschmelzen in glücklichen Fällen und bilden ein Ganzes. Und wir, Ihre Bewunderer, sehen, dass das in Ihrem Falle so ist. Dafür dankt Ihnen unser Land und dafür danke ich Ihnen nicht nur als Christ, als Bürger, sondern hier und jetzt als Präsident dieses freiheitlichen Landes.

Und in diesem Sinne, meine Damen und Herren, ehren wir jetzt einen der Großen, verehrter Herr Böckenförde. Ich habe die Freude, Ihnen das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband zu überreichen.