Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 17. Juni 2016

Untertitel: Der Bundespräsident hat am 17. Juni bei der Konferenz "Worauf die Zukunft Europas bauen?" in Warschau eine Rede gehalten: "Würden wir egal wo wir in Europa beheimatet sind eine Bestandsaufnahme unserer geistigen Habe vornehmen, würden wir feststellen, dass das meiste davon sich den unterschiedlichsten Einflüssen verdankt, dass es nicht deutsch, nicht polnisch, französisch oder englisch ist, sondern europäisch."
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2016/06/160617-Warschau-Konferenz.html


Ich danke Ihnen für die freundliche Einladung und für die Gelegenheit, hier, in der Mitte Europas, über dieses Europa zu sprechen.

Wenn wir über das Fundament eines Hauses oder einer Institution nachdenken, dann tun wir das wohl, um uns zu vergewissern, dass wir auf sicherem Grund gebaut haben.

Wir tun es in einer Zeit, in der viele nach Halt suchen, nach Schutz oder nach Sicherheit, nach einer Zukunft jedenfalls, die weniger ungewiss ist.

Mir sind solche Gedanken nicht fremd. Aber ich gehöre letztlich zu denen, die überzeugt davon sind, dass der Boden trägt, auf dem wir stehen. Das Fundament der Europäischen Union ist sicherer, solider Grund.

Wir Europäer haben diesen Grund gemeinsam gelegt, und Polen gehörte von Beginn an zu den Bauherren. Die Idee der europäischen Einigung entstand lange vor der Gründung der Europäischen Union. Sie entstammt dem gemeinsamen kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas. Sie ist ein Kind der Aufklärung, und sie ist, wie die Aufklärung selbst, niemals abgeschlossen, sondern ein fortdauernder Prozess.

In Polen hat die europäische Idee eine besondere Geschichte, die eng verbunden ist mit dem Kampf gegen Fremdherrschaft und für die Wiedererlangung oder Sicherung der staatlichen Existenz Polens. Das war so im 19. Jahrhundert, im Zwischenkriegspolen, in der Zeit des Zweiten Weltkriegs und schließlich auch in Oppositionskreisen im kommunistischen Polen.

Dem polnischen Wissenschaftler, Wojciech Jastrzębowski, verdanken wir die wohl erste Verfassung für ein vereinigtes Europa."Über den ewigen Frieden zwischen den Völkern" schrieb er während des Novemberaufstands gegen den Zaren 1831. Seine Vision enthält teilweise Vorstellungen, wie sie moderner nicht sein können: von einem Europa gleichberechtigter Völker, das keine Grenzen mehr kennt und zusammengehalten wird durch gemeinsame europäische Gesetze und gemeinsame europäische Institutionen.

Später, im 20. Jahrhundert, haben polnische Intellektuelle und Politiker immer wieder europapolitische Vorstellungen entwickelt, sei es im Land, sei es im Exil. Einige dachten an eine regionale Konföderation, andere an eine europaweite Föderation freier Völker.

Noch während des Zweiten Weltkrieges gehörten polnische Widerstandskämpfer zu den frühen Impulsgebern einer europäischen Vereinigung. Die Vorstellungen einer gemeinsamen europäischen Nachkriegsordnung, das finde ich bemerkenswert, finden sich nahezu zeitgleich in vielen Orten des von Deutschland besetzten Europas: bei verschiedenen Widerstandsgruppen Mittel- und Westeuropas und auch bei wichtigen Vertretern des deutschen Widerstands, namentlich des Kreisauer Kreises, und den Gruppen des kirchlichen Widerstandes.

Derartige Erkenntnisse, Überlegungen und Hoffnungen sind eingegangen in die demokratischen Grundsätze Europas, in die politischen Werte und Ziele unserer Gemeinschaft, zuletzt beglaubigt 2007 in Lissabon, im Vertrag über die Europäische Union. Und es ist vor allem die Erfahrung zweier Weltkriege, die das Friedensprojekt Europa bis heute begleitet hat.

Sie sind das Fundament der Union. Das ist der Boden, auf dem wir stehen. Und diese Geschichte der europäischen Einigung aus dem Geist des Widerstands gegen Totalitarismus und Gewaltherrschaft und damit das Bekenntnis zu Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit das ist und bleibt die uns verbindende Erzählung. Sie ist das Band, das uns zusammenhält, von Lissabon bis Warschau. Wir wissen, es reicht weiter bis auf den Kiewer Euromaidan.

Polen hat mit einem hohen Blutzoll dazu beigetragen, dass der Plan eines freien, geeinten und friedlichen Europas Jahrzehnte später Wirklichkeit werden konnte. Gerade wir Deutschen sind Polen zu Dank verpflichtet, weil es immer wieder polnische Geistliche und Intellektuelle waren, die eine gemeinsame Zukunft für Polen und Deutsche im geeinten Europa beschworen. So wurde die Periode seit der Unterzeichnung des polnisch-deutschen Freundschaftsvertrages, heute vor 25 Jahren, zur friedlichsten und besten Phase unserer Beziehungen. Sie ist nicht denkbar ohne die Einbettung in den europäischen Einigungsprozess.

Unter den vielen, die vieles beigetragen haben, ist einer hervorzuheben: Papst Johannes Paul II. Er hat uns seine Vision von Europa hinterlassen, und ich zitiere: "Ein Europa ohne selbstsüchtige Nationalismen, in dem Nationen als lebendige Zentren kulturellen Reichtums wahrgenommen werden, der es verdient, zum Vorteil aller geschützt und gefördert zu werden."

Wir können sagen: Polen sind nicht nur stolze Europäer, Europa kann stolz sein auf Polen.

Doch dass wir unser Haus auf sicherem Grund gebaut haben, sagt noch nichts darüber aus, wie es um die Hausordnung und ihre Beachtung bestellt ist.

Eine Diskussion darüber, wie wir auch künftig gemeinsam miteinander leben wollen, begrüße ich ausdrücklich. Sie ist notwendig, denn bei aller Einigkeit, zu der wir entschlossen sind, ist Europa ein Kontinent der Unterschiede und der Vielfalt. Auch eine Wertegemeinschaft ist nicht statisch, sondern baut auf die Weiterentwicklung der europäischen Idee, und auch der Weiterentwicklung der Rechtsordnung auf. Vor solchen Diskussionen sollten wir uns nicht fürchten.

Wir sollten sie vielmehr führen: offen, öffentlich und unter Gleichen. Wir müssen miteinander reden, die Argumente des anderen wahrnehmen und sollten nicht der Versuchung erliegen, nur dem Echo der eigenen Argumente zu lauschen.

Die Europäische Union steht vor großen Herausforderungen, das hören wir allerorten. Was wir aber doch längst wissen, ist, dass sie nicht davor steht, sondern mittendrin steckt. Das ist keine Spitzfindigkeit. Diese Unterscheidung erlaubt uns einen Perspektivwechsel, der zeigt: Wir müssen sofort handeln. Jetzt. Das haben wir in der Finanzkrise erlebt, und wir erleben es jetzt in der Flüchtlingskrise. Auch wenn einzelne Staaten unterschiedlich betroffen sind, so sind solche Krisen nur gemeinsam zu bewältigen. Wir alle sind aufgerufen, daran im Rahmen unserer Möglichkeiten und unserer internationalen Verpflichtungen mitzuwirken.

Die Prinzipien, auf denen Europa gebaut ist, hat kaum jemand besser in Worte gefasst als der polnische Papst. Das Europa, an das Johannes Paul II. glaubte, war ein Europa, dessen Einheit in wahrer Freiheit gründet. Religionsfreiheit und gesellschaftliche Freiheiten nannte er "edle Früchte, die auf dem Humus des Christentums gereift" seien. Auch der Rechtsstaat wisse, dass er nur Rechtsstaat sein könne, indem er die Freiheit aller Bürger, sowohl in ihren individuellen wie auch in ihren gemeinschaftlichen Ausdrucksmöglichkeiten, schützt und fördert auch die Rechte von Minderheiten. Eine Einheit in Freiheit und Vielfalt also, eine Einheit, die das gemeinsame europäische Erbe und das Bewusstsein nationaler Identität nicht als unvereinbare Gegensätze versteht.

Das muss auch im Zeichen beschleunigter Globalisierung gelten. Auch wenn engere Zusammenarbeit von Staaten immer naheliegender wird, geht weder die Identität des Einzelnen noch die von Nationen oder Kulturen verloren. Im Gegenteil: Wenn wir in unserer eigenen nationalen und kulturellen Identität verankert sind, erfahren wir Erweiterung in politischen Einigungsprozessen eben nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung.

Würden wir egal wo wir in Europa beheimatet sind eine Bestandsaufnahme unserer geistigen Habe vornehmen, würden wir feststellen, dass das meiste davon sich den unterschiedlichsten Einflüssen verdankt, dass es nicht deutsch, nicht polnisch, französisch oder englisch ist, sondern europäisch.

Aus diesem Erbe lässt sich Zukunft gestalten.