Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 23. Juni 2016

Untertitel: Bundespräsident Joachim Gauck hat am 23. Juni bei einer Diskussionsveranstaltung mit Studierenden zum Thema "Deutschland und Bulgarien Partner in Europa" anlässlich des Staatsbesuchs in der Republik Bulgarien eine Ansprache gehalten: "Die Bilder, die wir von Europa haben, sie unterscheiden sich von Land zu Land, von Generation zu Generation. Ich würde gern heute von Ihnen erfahren, wovon Sie träumen und was Sie hoffen, wenn Sie an Europa denken."
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2016/06/160623-Bulgarien-Europadebatte-Studenten.html


Wie vielfältig die Verbindungen zwischen uns Europäern sind, auch die zwischen Bulgaren und Deutschen, wie tief diese Verbindungen in unserer gemeinsamen Geschichte wurzeln, das alles wird uns hier an diesem schönen Ort bewusst.

Die bulgarische Renaissance, in deren Geist die Universität von Sofia gegründet wurde, wurde nicht zuletzt von Persönlichkeiten geprägt, die auch in Deutschland studiert hatten. Ich denke vor allem an den Aufklärer Petar Beron, der eine so wichtige Rolle für die Entwicklung des modernen Bulgariens spielte. Bis heute fördert der akademische Austausch das Verständnis zwischen Bulgaren und Deutschen, und deshalb freue ich mich ganz besonders, hier zu sein. Haben Sie auch herzlichen Dank für den freundlichen Empfang!

Dies ist kein gewöhnlicher Tag für eine Diskussion über Europa. Während wir hier zusammensitzen, stimmen die Bürger in England, in Schottland, in Wales und Nordirland darüber ab, ob Großbritannien in der Europäischen Union verbleiben soll. Es ist ihre souveräne Entscheidung. Aber es ist eine Entscheidung, die uns alle in Europa betrifft. Großbritannien steht für eine besonders lange demokratische Tradition. Es steht für liberale Prinzipien, und es steht für die transatlantische Freundschaft. Seine Stimme hat in der Europäischen Union seit mehr als 40 Jahren Gewicht. Offen gesagt: Ein Austritt des Vereinigten Königreichs wäre ein Verlust für ganz Europa.

Das Beste an der Debatte um den sogenannten Brexit war die Debatte selbst. Sie hat Unmut über die Europäische Union ans Licht gebracht, der zuvor oft nur im Verborgenen schwelte. Sie hat auch ein Nachdenken über Europa angeregt, und sie hat Impulse für Reformen gesetzt. Ganz gleich, wie die Abstimmung heute ausgeht: Wir dürfen nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Wir sollten aus der Krise Lehren ziehen und weiter diskutieren, wie wir in Europa miteinander leben wollen, und zwar auf dem festen Fundament gemeinsamer Werte. Und wir sollten gerade mit jenen sprechen, die anderer Ansicht sind, die Meinungen und Argumenten folgen, die uns unplausibel erscheinen. Wir sollten einander zuhören statt der Mode zu folgen, uns nur noch in geschlossenen Meinungsmilieus zu bewegen.

Eine solche Debatte ist wichtig, weil sie in Zeiten von Irritationen zur Selbstvergewisserung beitragen kann. Die Kriege in Syrien, im Irak und die Kämpfe in der Ukraine zeigen, wie zerbrechlich der Frieden ist, auch in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Das sind Eindrücke, die wir zehn oder zwanzig Jahre zuvor so nicht hatten. Die schrecklichen Terroranschläge im Herzen unseres Kontinents machen deutlich, dass europäische Werte, ja die Grundlagen des menschlichen Miteinanders, in das Visier von Fanatikern und Fundamentalisten geraten sind. Und die Flüchtlingskrise zeigt uns, dass Europa keine Insel ist. Entwicklungen in anderen Teilen der Welt betreffen auch uns unmittelbar. Sie betreffen unsere Sicherheit, unseren Wohlstand, unsere politischen und gesellschaftlichen Errungenschaften. In einer Welt, die unübersichtlicher und unberechenbarer geworden ist, müssen wir Europäer und zwar nicht zuletzt aus Eigeninteresse mehr Verantwortung übernehmen, gemeinsam mit unseren Partnern.

Die Flüchtlingskrise zeigt uns aber, wie schwierig es ist, nationale Interessen, europäische Solidarität und weltweite Verantwortung in einem Kompromiss miteinander zu vereinigen. Populistische Bewegungen bieten vermeintlich einfache Lösungen an. Und sie haben wieder einmal Zulauf. Sie propagieren teilweise den Rückzug in den Nationalstaat und schüren Ängste vor dem "Fremden". Mancherorts machen Bürger sogar Front gegen Schutzsuchende, in Deutschland ebenso wie in Bulgarien. Dabei muss doch klar sein: In allen unseren Ländern liegt das Gewaltmonopol beim Staat. Und es ist auch klar: Abschottung und Abgrenzung sind keine Lösungen in einer Zeit, in der die Welt enger zusammenrückt.

Auch im Innern steht die Europäische Union vor großen Herausforderungen. Nach der Finanz- und Wirtschaftskrise ist die Arbeitslosigkeit in einigen Mitgliedsstaaten immer noch sehr hoch, viele junge Menschen, auch hier in Bulgarien, sehen für sich in ihrer Heimat keine Perspektive mehr. Hier hat die Europäische Union ihr Wohlstandsversprechen noch einzulösen.

Eines ist mir heute aber besonders wichtig: Wir sollten in dieser Situation nicht nur über die Probleme Europas reden. Wir sollten uns klarmachen, was wir alle an Europa haben. Wir sollten laut sagen, was wir nicht missen möchten. Das europäische Projekt hat in seiner Geschichte doch immer wieder Begeisterung erweckt. Nach dem schrecklichen Blutvergießen im Zweiten Weltkrieg waren die europäischen Vordenker erfüllt von dem Wunsch, Frieden, Demokratie und Wohlstand in Europa zu etablieren. Jahrzehnte später, nach den Friedlichen Revolutionen in Mittelosteuropa, konnten die Menschen den Beitritt ihrer Länder zur Europäischen Union oft kaum erwarten. Das war doch ein Sehnsuchtsziel, dass unsere Länder, die einst hinter dem Eisernen Vorhang waren, endlich Europäer sein wollten.

Und heute, ja heute ist dies nun zu einem ganz normalen Lebensgefühl geworden. Europäer sein, das heißt zum Beispiel, dass wir überall in der Union studieren können, von Tallinn bis Valletta, von Belfast bis Sofia. Übrigens freut es mich, dass unter den Studierenden hier in Sofia besonders viele Deutsche sind. Und es freut mich auch, dass besonders viele Bulgaren bei uns an den deutschen Unis studieren. Möge das so weitergehen. Und noch etwas, was uns gemeinsam freut oder was uns oft gar nicht bewusst ist, gerade Ihrer Generation nicht: Heute kann in Europa jeder jederzeit seine Meinung vertreten. Wir Älteren können uns an eine Zeit erinnern, wo das sehr teuer war und wo viele Menschen sich abgewöhnt hatten, ihre eigene Meinung anderen mitzuteilen. Und wo andere Menschen für das Mitteilen ihrer eigenen Meinung im Gefängnis waren oder mit zerbrochenen Karrieren weiterleben mussten. Oder, dass viele andere Menschen wegen einer eigenen Meinung fliehen mussten, in Länder, in denen es möglich war, eine eigene Meinung zu vertreten.

Alle diese Dinge müssen wir uns klarmachen, wenn wir begreifen wollen, was sich hinter dem Wort Wertegemeinschaft verbirgt. Wir benutzen das Wort oft, und manchmal können wir es vielleicht noch intellektuell füllen, aber emotional nicht mehr. Das ist schade, und das muss sich ändern.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass viele Menschen, auch junge Leute, vor allem in den Gründungsstaaten der Union, die Freiheiten und Grundrechte für selbstverständlich halten, und sie tun auch so, als wären diese Rechte ein für alle Mal gesichert. Es sind aber Rechte, die man immer wieder neu befestigen muss. Und vor allen Dingen muss man sie wertschätzen. Denn unendlich viele Menschen in anderen Teilen der Welt sehnen sich danach, solche Rechte zu haben, die uns selbstverständlich erscheinen. Wir müssen sie also immer wieder neu erstreiten, wenn wir diese Werte bewahren wollen. Und mit Blick auf Ostmitteleuropa habe ich den Eindruck, dass sich viele Menschen auch aus der jungen Generation von der Europäischen Union die rasche Lösung für die größten Probleme ihrer Länder erhofft haben. Nun sehen sie, dass es auch innerhalb Europas unbeantwortete Fragen gibt und dass man sich für Europa engagieren, für Europa kämpfen und für Europa auch Kompromisse schließen muss.

Hier bei Ihnen in Bulgarien ist nun immer noch etwas zu spüren von der Begeisterung des Beitrittsjahres 2007. Die Mehrheit Ihrer Landsleute hat Vertrauen in die europäischen Institutionen. Sie wissen, wie wichtig die Unterstützung der europäischen Partner ist, wenn es mit den Reformen im eigenen Land weitergehen soll. Ich denke etwa an die notwendigen Fortschritte bei der Bekämpfung der Korruption im Lande oder bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität, aber auch an die Umgestaltung von Justiz und Verwaltung. Es ist aber auch gut und wichtig, dass sich in Bulgarien die lebendige Bürgergesellschaft weiterentwickelt. Denn es sind oftmals die Bürger, die die Reformprozesse mittragen und unterstützen, gelegentlich anstoßen und auch vorantreiben müssen, im Nationalstaat ebenso wie in der Europäischen Union.

Lassen Sie mich noch ein Wort zu meinem persönlichen Verhältnis zu Europa sagen. Als ich in Ihrem Alter war, lebte ich in der Deutschen Demokratischen Republik, in einer Diktatur von sowjetischen Gnaden, wie sie auch Ihre Eltern oder Ihre Großeltern hier in Bulgarien erlebt hatten. Damals, in einer Zeit der Unfreiheit, in der mein Land und seine Hauptstadt geteilt waren, habe ich nur träumen können von einem freien Europa ohne Grenzen. Viele Jahre später, während der Friedlichen Revolution 1989, träumte ich dann davon, Teil eines Europas zu sein, das von Freiheit und Recht geprägt ist. Und so habe ich erlebt, wie aus Träumen Wirklichkeit werden kann.

Die Bilder, die wir von Europa haben, sie unterscheiden sich von Land zu Land, von Generation zu Generation. Ich würde gern heute von Ihnen erfahren, wovon Sie träumen und was Sie hoffen, wenn Sie an Europa denken. Ich würde gern wissen, was Sie von der Europäischen Union erwarten, für sich persönlich, für Ihr Land, für unseren Kontinent. Lassen Sie uns versuchen, die Perspektive des jeweils anderen einzunehmen. Und lassen Sie uns auch in Zukunft verteidigen, was uns etwas wert ist: Freiheit, Demokratie, Frieden und Menschenrechte. Ich bin mir sicher, dass Sie, die Sie heute hier sind, und die junge Generation in Bulgarien insgesamt, dazu einen wichtigen Beitrag leisten können.

Darüber freue ich mich, und ich freue mich jetzt auf unser Gespräch.