Redner(in): Johannes Rau
Datum: 6. Januar 2000

Anrede: Herr Bürgermeister, meine Damen und Herren,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2000/01/20000106_Rede.html


ich freue mich darüber, dass ich heute zur Eröffnung des Zentrums für OSZE-Forschung am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg bei Ihnen sein kann.

Das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik hat sich schon seit längerem gerade auch auf dem Gebiet der OSZE-Forschung einen Namen gemacht.

Das seit 1995 vom Institut herausgegebene OSZE-Jahrbuch sucht international seinesgleichen.

Mit der heutigen Gründung des Forschungszentrums setzt das Institut ein neues, hoffnungsvolles Zeichen: Endlich nehmen Wissenschaft und Politik die Verhütung von bewaffneten Konflikten ernst. Vorbeugung wird zum Muster der Politik.

Das ist der Ansatz, den VN-Generalsekretär Kofi Annan für eine "Kultur der Prävention" gefordert hat. Das kann damit sichtbar, das kann praktisch wirksam werden.

Von einem meiner Amtsvorgänger, von Gustav Heinemann, stammt der Satz: Nicht der Krieg ist der Ernstfall...". Dieser Satz Heinemanns steht gegen europäische Geistesgeschichte. Er steht gegen Heraklit. Er steht gegen Schiller." Nicht der Krieg ist der Ernstfall, der Friede ist der Ernstfall, in dem wir uns alle zu bewähren haben, weil es hinter dem Frieden keine Existenz mehr gibt."

Gustav Heinemann hat das 1964 gesagt, nicht als Bundespräsident, weit 5 Jahre vor seiner Wahl. Er hat das gesagt zu einem Zeitpunkt, als die Verhütung des Atomkriegs zwischen Ost und West die oberste Maxime der Sicherheitspolitik geworden war.

Vor 10 Jahren ist der Ost-West-Konflikt von der Bühne der Geschichte verschwunden. Das Drama endete schneller als irgend jemand zu träumen gewagt hätte. Das bipolare System löste sich auf, weil das östliche System an seinen eigenen Widersprüchen zerbrach.

Dieser ungeheuere Umbruch hat sich im wesentlichen friedlich vollzogen. Das ist das Verdienst der Entspannungspolitik, das ist das Verdienst namentlich der von vielen unterschätzten Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, der KSZE. Als der KSZE-Prozess begann, wie viel Misstrauen war da. Heute bestreitet niemand mehr den Beitrag, den er zur Überwindung der Spaltung unseres Kontinents und zur Vereinigung Deutschlands geleistet hat:

Im vergangenen Jahr ist der Krieg völlig unerwartet in einen Teil Europas zurückgekehrt:

Sicherheit in Europa wird heute weniger durch Machtansprüche einzelner Staaten bedroht als vielmehr durch das Anfachen von Gruppenantagonismenineinzelnen Staaten.

Die sogenannten neuen Sicherheitsrisiken sind mit den klassisch-militärischen Mitteln der Sicherheitspolitik nicht mehr erfassbar: Soziale Ungleichgewichte, die Auswirkungen der internationalen Finanzkrisen, ethnische Konflikte, fundamentalistische Gewalt, Drogenhandel, transnationale Kriminalität.

Darum, meine Damen und Herren, gilt Gustav Heinemanns Satz "Der Friede ist der Ernstfall" heute in einem noch viel umfassenderen Sinne als vor 36 Jahren:

Eine nachhaltige Entwicklung in den Transformationsländern kann nur mit zivilen Mitteln erreicht werden. Denn das ist gemeint, wenn wir von Stabilität sprechen.

Der Grundgedanke des KSZE-Prozesses, der in der OSZE weiterlebt, ist heute aktueller denn je: Demokratie, Rechtsstaat und die Freiheit des Einzelnen, das sind die besten Garantien für ein friedliches Zusammenleben nicht nur der Einzelnen, sondern der Völker. Sie sichern eine gemeinsame wirtschaftliche Entwicklung. Sie lassen eine stabile internationale Ordnung entstehen.

Wir sind in unserem Denken und Handeln immer noch stark darauf fixiert, auf Konflikte zu reagieren, anstatt sie im Vorfeld durch vorausschauendes, planvolles Handeln zu verhindern.

Von dieser "Kultur der Prävention", zu deren Entwicklung Kofi Annan uns alle aufgefordert hat, sind wir noch weit entfernt.

Sie erfordert ein fundamentales Umdenken. Das kann nur gelingen, wenn wir uns auf grundlegende Werte und Einstellungen rückbesinnen. Mir scheinen zwei Voraussetzungen wichtig:

Wenn wir, meine Damen und Herren, diese beiden Grundsätze auf Europa anwenden, dann ist die OSZE wie keine andere Organisation dazu prädestiniert, Vorreiter dieser "Kultur der Prävention" zu sein, um noch einmal Kofi Annan zu zitieren:

Auf dieser Grundlage hat die OSZE in den vergangenen Jahren schon ein beachtliches Instrumentarium für Prävention und zivile Konfliktbewältigung entwickelt:

Sie alle haben in vielen Fällen maßgeblich dazu beigetragen, dass sich Krisen nicht zu gewaltsamen Konflikten entwickelten oder dass Konflikte eingehegt werden konnten.

Als Beispiele dafür nenne ich die erfolgreiche Regelung von Minderheitenkonflikten in Estland und Lettland, die Stabilisierung Mazedoniens und die Verhinderung eines erneuten Kriegsausbruchs in der Republik Moldau.

Auf dem Balkan, den ich im Dezember in Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo besucht habe, ist heute das sogenannte "Peace Building", der Aufbau ziviler Strukturen, zur wichtigsten Aufgabe geworden. So werden die Voraussetzungen geschaffen, damit die öffentliche Ordnung aufrechterhalten werden kann, damit demokratische Institutionen aufgebaut werden können, damit freie Wahlen organisiert, damit pluralistische Medien gefördert und zivilgesellschaftliche Strukturen gestärkt werden können.

Ich komme zu dem Fazit, dass trotz aller Unkenrufe die OSZE eine eindrucksvolle Erfolgsbilanz vorweisen kann. Voraussetzung für ihre Erfolge, für die Erfolge dieser präventiven Strategie ist ihr stilles und diskretes Wirken. Empfehlungen und Lösungsvorschläge haben nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie von den Betroffenen ohne sichtbaren äußeren Druck und in der Gewissheit diskutiert werden können, keinen Gesichtsverlust erleiden zu müssen.

Aber je erfolgreicher die OSZE auf diesem Gebiet ist, um so weniger wird sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Ein Konflikt, der vermieden oder unter Kontrolle gehalten wird, ist keine Meldung.

Wenn die OSZE öffentlich wahrgenommen wird, dann gilt sie vielfach als "zahnloser Tiger", weil sie ja keine militärischen Instrumente hat.

Und leider denken viele selbsternannte "Realisten" heute wieder mehr in "harter" militärischer Macht und weniger in "weicher" politischer Macht - der Macht der Überzeugungsarbeit und der Vertrauensbildung.

Ich bleibe dabei: es geht, trotz Balkankrieg und anderer regionaler Konfliktherde, heute wie morgen um Sicherheitspolitik durch Überzeugungsarbeit. Und dafür kenne ich kein besseres Instrument als die OSZE.

Stalins zynische Frage nach der Zahl der Divisionen des Papstes, an die wir uns noch erinnern, gehört in die historische Mottenkiste. Alle Europäer hoffen darauf, dass Konflikte künftig politisch und nicht militärisch gelöst werden. Die "Kultur der Prävention" ist der Gegenentwurf zur Kriegsmaschinerie vergangener Jahrhunderte.

Natürlich ist die Anwesenheit der KFOR und darin eingeschlossen von Einheiten der Bundeswehr im Kosovo erforderlich, damit ein neuerlicher Ausbruch von Gewalt verhindert wird.

Aber keine Armee kann allein zivile Konfliktbewältigung leisten. Die OSZE kann Erfolge erringen, obwohl und gerade weil sie keine Armeen hat.

Das Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik kann einen wichtigen Beitrag zu den politischen Bestrebungen leisten, weiterleisten sage ich angesichts dessen, was Wolf Baudissin, Egon Bahr und Professor Lutz schon mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zustande gebracht haben, damit wir eine dauerhafte europäische Friedensordnung erreichen. Dazu müssen gegenwärtige und potentielle Konflikte in Europa analysiert werden. Dazu brauchen wir Vorschläge zu ihrer Lösung. Vor allem müssen wir mithelfen, die besonderen Stärken der OSZE zu präzisieren.

Das OSZE-Forschungszentrum, das Bürgermeister Runde soeben eröffnet hat, ist in diesem Sinne ein vielversprechender Schritt auf dem Weg zu dem Ziel, diesen Kontinent sicherer zu machen.

Und darum wünsche ich Ihnen, Herr Professor Lutz, und allen, die mit Ihnen tätig sind, von Herzen - und in unser aller eigenen Interesse - fruchtbare und erfolgreiche Arbeit für den Ernstfall des Friedens.