Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 4. Oktober 2016

Untertitel: Bundespräsident Joachim Gauck hat am 4. Oktober bei der Ordensverleihung anlässlich des Tages der Deutschen Einheit eine Ansprache gehalten: "Aufmerksamkeit ist die Währung unserer Zeit. Deshalb liegt mir viel daran, mit den heutigen Orden für internationales Engagement eine große Bandbreite abzubilden und möglichst vielen Formen der Mitmenschlichkeit die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie verdienen."
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2016/10/161004-Ordensverleihung-TdDE.html


Schönheit hat uns musikalisch begrüßt, und wenn ich hier in den Saal schaue, sehe ich nichts als Schönheit. Das hat nichts mit Alter zu tun, sondern mit den Gefühlen, die ich den Menschen entgegenbringe, die dieses Land schön machen. Deshalb sind Sie eingeladen, weil Sie zu denjenigen gehören, für die das zutrifft. Und deshalb sehen Sie einen Präsidenten, der strahlt, der sich freut. Dem geht ' s wie dem Sonnentag heute, der uns entschädigt für den trüben Tag in Dresden gestern, wo es regnete und nicht alle so lustig waren und erfreut, wie sie es hätten sein können.

Ja, diese Musik, die wir eben gehört haben, mal fordernd, mal leise, mal nachdenklich und unendlich harmonisch, die hat uns sehr gut eingestimmt. Herzlichen Dank unseren beiden Musikern: am Violoncello Elia Cohen-Weissert und am Klavier Michael Cohen-Weissert. Die Beiden sind Geschwister, geboren in Jerusalem, und zwar deutlich nach 1990, dem Jahr der Deutschen Einheit.

Einer meiner Vorgänger, Richard von Weizsäcker, hatte damals die schöne Idee, die traditionelle Ordensverleihung in die ersten Oktobertage zu verlegen mit ausdrücklichem Bezug auf den Nationalfeiertag. Die Deutschen mühen sich ja immer ein bisschen mit ihrem Nationalfeiertag und auch mit ihrem nationalen Selbstbewusstsein. Wir wollen von diesem Hause aus mitwirken, dass die Deutschen erkennen, was sie stark macht. Und das sind die verschiedenen herausragenden Leistungen in Kunst und Kultur, in Wirtschaft und Wissenschaft, das Mitwirken in den Glaubensgemeinschaften, in Kirchen und nicht zu vergessen: das große soziale und gesellschaftliche Engagement, das Engagement für unsere Demokratie und für ein freiheitliches und friedliches Zusammenleben.

Wie wichtig dieses Engagement gerade jetzt ist 26 Jahre nach der Deutschen Einheit das haben wir in Dresden gestern und in den vergangenen Wochen ja eindrücklich erlebt.

Ich bin also dieser Idee, Orden zur Deutschen Einheit zu verleihen, gern und bewusst gefolgt, und habe Sie nun spüren lassen, warum das für mich selbstverständlich war.

Wir werden nachher 29 Namen hören, 29 Gründe für einen Verdienstorden. Erlauben Sie mir, einen Grund vorweg zu nehmen, der Sie alle betrifft: Was Sie tun, liebe Ehrengäste, das ist außergewöhnlich. Es übersteigt das übliche Maß an Engagement, an Hingabe für das Gemeinwesen bei Weitem. Hinzu kommt: Ihre besondere Leistung, die haben Sie nicht nur einmal erbracht, sondern die erbringen Sie dauerhaft oft sogar über Jahre und Jahrzehnte, und das ist nicht immer einfach. Es ist oft mit großen Mühen verbunden. An so einem festlichen Tag denken wir immerfort an das Schöne, aber ich will ruhig erwähnen, dass manchmal beim Engagement auch Enttäuschung existiert, dass sogar Tränen fließen, dass es Streit gibt. Alle diese Dinge gehören dazu, wenn man sich jahrzehntelang einem Werk verschreibt. Viele Gründe also zur Dankbarkeit.

Am besten wissen das wohl die Menschen, die mit Ihnen zusammen heute hier sind oder die sonst an Ihrer Seite sind und die Ihnen, den Aktiven, im Alltag den Rücken freihalten. Ich denke also heute auch an alle Partner, an Kinder und Freunde. Ohne Sie, ohne das Verständnis der Menschen um uns herum, wäre das Außergewöhnliche, was wir heute ehren, oft gar nicht möglich.

Also, wo anfangen bei dieser beeindruckenden Liste? Bei der Jüngsten, die heute ausgezeichnet wird, Jahrgang 1980, die ihre schwere Erkrankung zum Anlass nimmt, anderen zu helfen? Oder beim Piloten, der sich seit 1992 ehrenamtlich für die Flugsicherheit engagiert? Beim Musikprofessor, der ein herausragender Bach-Spezialist ist, oder bei der renommierten Kuratorin, die die Chemnitzer Kunstsammlungen zu ihrem Lebenswerk und Sachsen damit um eine internationale Attraktion reicher gemacht hat? Ein Ranking für so besondere Menschen kann es für mich nicht geben.

Ich versuche es einmal anders: thematisch. Wenn eine Ordensverleihung nach dem Tag der Deutschen Einheit benannt ist, dann dürfen Menschen, die sich um die Einheit in Freiheit verdient gemacht haben, ruhig vorn stehen. Ich freue mich sehr, dass drei Männer unter uns sind, die 1989/90 die Freiheit mit erkämpft friedlich erkämpft haben und auch in den 27 Jahren danach nicht müde wurden, für ihre Überzeugungen einzutreten. Heute engagieren sie sich für die ostdeutsche Wirtschaft, bei der geschichtlichen Aufarbeitung stalinistischer Speziallager oder für die Beziehungen zu unseren Nachbarn in Mittel- und Osteuropa. Wir werden gleich mehr darüber hören.

Bei vielen hier im Saal sind die Grenzen zwischen Beruf und Ehrenamt fließend. Das gilt zum Beispiel für die insgesamt acht Frauen und Männer, die in der Kinder- und Jugendarbeit aktiv sind an ihren Heimatorten oder bundesweit. Sie machen Lust aufs Lesen, sie fördern musikalische Talente, sie führen Schülerinnen und Schüler an den Umweltschutz, an Wissenschaft und Technologie heran oder an die Geschichts- und Versöhnungsarbeit. Wer die Projektbeschreibungen liest, der wird sehen: Bei all diesen Initiativen geht es um mehr als nur um ein Fachthema, um mehr als ein schulisches Lernziel. Es geht auch um das, was wir Herzensbildung nennen, um ein moralisches Orientierungsangebot für junge Menschen. Dafür kann man, wie ich finde, nicht dankbar genug sein.

Einige dieser Kinder- und Jugendprojekte haben sich in den vergangenen Monaten zudem für junge Flüchtlinge geöffnet, andere Initiativen sind extra für diese Gruppe entstanden und das nicht erst im Sommer 2015. Sie haben sich schon seit Jahren bewährt und sind jetzt, wo der Bedarf so groß ist, besonders gefragt und gefordert. Von erprobten Lösungsmodellen lässt sich sicher einiges lernen, und diesen Wissenstransfer will ich mit dem Verdienstorden gern befördern. Beispiele des Gelingens sollten bekannter werden, damit sie Nachahmer finden.

Auch den vielen Brückenbauern hier im Saal wünsche ich, dass der Verdienstorden hilft, ihren Wirkungskreis zu erweitern. Ich denke dabei etwa an die Roma und Sinti Philharmoniker, deren Gründer ich heute auszeichnen möchte. Oder an die islamische Theologin, die sich für ein friedliches Miteinander der Religionen einsetzt. Oder an unseren ältesten Ehrengast, Jahrgang 1936, der die Geschichte der Verfolgung seiner jüdischen Familie auch deshalb erzählt, weil er zum Nachdenken über die Gegenwart anregen will.

Nicht nur bei Diskussionen über Antisemitismus neuen Typs spüren wir, wie dicht einige Herausforderungen in unserem Land mit den Krisen in der weiten Welt verwoben sind. Selten zuvor wurde so viel über Ursachenbekämpfung gesprochen wie seit dem vergangenen Sommer. Einerseits ist das eine gute Entwicklung, weil sie das öffentliche Bewusstsein schärft. Andererseits haben viele Krisen einen langen Vorlauf und werden uns weiterhin einen langen Atem abverlangen. Es war mir deshalb wichtig, heute besonders viele Menschen für ihr internationales Engagement auszuzeichnen für das, was sie bereits seit Jahrzehnten im Ausland tun, um Leid und Unrecht zu lindern: etwa das Ehepaar von Ärzte ohne Grenzen oder den Erfinder der Biker-Brummi-Hilfe oder die in Afghanistan engagierte Traumatherapeutin. Ich denke an die Menschenrechtsaktivisten, die in Deutschland leben, genauso wie an den Unternehmensberater und Autor aus Äthiopien, der zwischen Afrika und Europa und damit zwischen den Kulturen pendelt und uns auf charmante Weise provoziert, die Welt aus einer anderen Perspektive zu sehen. Viele von Ihnen, liebe Ehrengäste, sind helfende Hände der Entwicklungszusammenarbeit, einer von Ihnen ist sogar das Gesicht einer Kampagne. Wenn ein bekannter Nachrichtenmann sich einer guten Sache widmet, dann haben wir gleich doppelten Grund zur Dankbarkeit: für das konkrete Projekt und für die Aufmerksamkeit, die Prominente auch für tragische Schicksale wecken können.

Aufmerksamkeit ist die Währung unserer Zeit. Deshalb liegt mir viel daran, mit den heutigen Orden für internationales Engagement eine große Bandbreite abzubilden und möglichst vielen Formen der Mitmenschlichkeit die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie verdienen von der Kindergärtnerin, die 1991 Hilfsgüter in ihre alte Heimat nach Jugoslawien brachte und seither Flüchtlingen bei der Ankunft in der neuen, vielleicht zeitweiligen Heimat unterstützt, bis hin zum Reporter ohne Grenzen, der seit 22 Jahren für die Pressefreiheit in aller Welt eintritt. Ihnen allen danke ich von Herzen für Ihren Einsatz. Und ich möchte eine Bitte hinzufügen: Setzen Sie Ihre wichtige Arbeit fort!

Eines ist mir noch wichtig: Wenn ich hier vorn gleich die 29 Orden überreiche, dann dankt Ihnen nicht nur Joachim Gauck, Ihr Mitbürger. Es dankt Ihnen Ihr Land, die Bundesrepublik Deutschland!