Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 3. November 2016

Untertitel: Bundespräsident Joachim Gauck hat am 3. November beim Schlossabend Martin Luther, einer musikalisch-literarischen Soiree zum Auftakt des Reformationsjubiläums, eine Ansprache gehalten: "Auch wenn es beim Reformationsjubiläum um das produktive Gedenken einer ganzen Epochenwende geht, um gesellschaftliche, politische und kirchliche Veränderungen, die weit über das Wirken einer einzelnen Person hinausgehen, so bleibt Luther doch unbestritten die zentrale Persönlichkeit."
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2016/11/161103-Luther-Schlossabend.html


Wir haben uns für heute Abend etwas ganz Besonderes ausgedacht. Was ich von Staats wegen zu Martin Luther und der Reformation zu sagen hatte, das habe ich am Reformationstag gesagt. Heute soll es ein anderer Weg der Annäherung sein. Künstler und Fachleute können uns noch einmal einen ganz eigenen Zugang zu Martin Luther und zu den geistlichen und weltlichen Dingen der damaligen Zeit eröffnen.

Was würden die Deutschen wohl antworten, wenn wir sie nach den zehn größten Deutschen fragten? Zwei, denke ich, würden immer dazugezählt werden: Martin Luther und Johann Wolfgang Goethe. Luther konnte über Goethe naturgemäß noch nichts sagen. Sehr wohl aber Goethe über Luther, und da will ich Ihnen einen Satz zitieren, den wir von ihm übernommen haben: "Luther war ein Genie sehr bedeutender Art; er wirkt nun schon manchen guten Tag, und die Zahl der Tage, wo er in fernen Jahrhunderten aufhören wird, produktiv zu sein, ist nicht abzusehen."

Das war vor zweihundert Jahren und bis heute zumindest hat Goethe recht behalten: Luther ist produktiv geblieben.

Auch wenn es beim Reformationsjubiläum um das produktive Gedenken einer ganzen Epochenwende geht, um gesellschaftliche, politische und kirchliche Veränderungen, die weit über das Wirken einer einzelnen Person hinausgehen, so bleibt Luther doch unbestritten die zentrale Persönlichkeit. Um ihn, in seiner Größe und Ambivalenz, in seiner Nähe und Fremdheit geht es an diesem heutigen Abend.

Einen Heiligen wollen wir natürlich nicht aus ihm machen. Das geht nicht, und er selbst mochte Heiligenverehrung ja auch nicht wirklich. Und wir werden es auch deshalb nicht tun, weil wir in den vergangenen Jahren ja auch über seine dunklen Seiten gesprochen haben. Sehr viel ist darüber publiziert worden. Seine Maßlosigkeit, seine Polemik und Rechthaberei, auch mal das Paktieren mit der Macht auf Kosten der Bauern. Und seine schlimmen antijüdischen Schriften. All das ist nicht vergessen und ist ausführlich erörtert worden. Auch über die Wirkungsgeschichte haben wir vieles neu und anders sehen gelernt.

Heute Abend wollen wir uns seiner faszinierenden Persönlichkeit nähern, mit Bildern, gelehrten Texten von und über ihn, mit Gesang und Musik und sogar mit Speisen aus seiner Zeit.

Was für eine Persönlichkeit:

Ein großer Theologe, der seinen Augustinus und seine Scholastik kannte, vor allem aber ein Meister der Bibelauslegung, der in der Heiligen Schrift zu Hause war wie wohl keiner seiner Zeitgenossen, und da meine ich Freunde wie Feinde gleichermaßen.

Ein Prediger, der wusste, wie man die Menschen mit ihren Sorgen und ihrem Kummer anspricht, wie man ihnen Trost spendet oder wie man ihren Glauben entfacht. Der den Leuten aufs Maul schaute um zu wissen, wie sie reden und denken und ansprechbar sind, nicht um zu sagen, was sie hören wollen und um ihnen nach dem Munde zu reden.

Ein begnadeter Publizist, der alle Register beherrschte, die Lobrede und glühende Verherrlichung dessen, was er schätzte, aber auch die Agitation und gröbste Polemik, und der auch wusste, wie man dunkle Gefühle weckt.

Ein Übersetzer, wie ihn die deutschen Lande noch nicht gesehen hatten, der mit seiner Bibelübersetzung das erste Einigungswerk der Deutschen schuf und in unserer Sprache Möglichkeiten kreierte, die sie bis dahin nicht gehabt hatte. Und gleichzeitig lieferte er im "Sendbrief vom Dolmetschen" noch eine Reflexion über das Übersetzen, die im Grunde aktuell geblieben ist.

Ein Rebell auch, der aus einer einzigen Erkenntnis heraus, dass allein Gnade gerecht und gut macht, eine so große innere Freiheit gewann, dass die Macht des Kaisers über Fürsten und Bischöfe und die Macht des Papstes über die Herzen und Gewissen vor seinem freien Wort zerbrachen.

Ein Kirchenreformer, der unermüdlich an Struktur und Organisation der neuen Kirche arbeitete und sich hingebungsvoll kleinsten Fragen allerorten widmete.

Ein leidenschaftlicher Vertrauter seiner Frau, mit der zusammen er für Generationen das Vorbild einer frommen, gastfreundlichen Familie darstellte. Die Liebe gehörte so selbstverständlich mit seinem Glauben zusammen, dass er seine Käthe als das größte Geschenk Gottes an ihn empfand und andersherum über seinen biblischen Lieblingstext, den Galaterbrief, in seiner typisch deutsch-lateinischen Mischung schreiben konnte: "Epistola ad Galatas ist mein epistelcha, der ich mich vertraut habe; ist mein Käth ' von Bora."

Wahrhaftig, eine facettenreiche Persönlichkeit. Hören wir aber zum Schluss noch einmal Goethe. Von seinem letzten Gespräch, am 11. März 1832, kurz vor seinem Tod, überliefert Eckermann die Sätze, die mir genau ins Zentrum zu treffen scheinen: Wir wissen gar nicht ", fuhr Goethe fort," was wir Luthern und der Reformation im allgemeinen alles zu danken haben. Wir sind frei geworden von den Fesseln geistiger Borniertheit, wir sind ( ... ) fähig geworden, zur Quelle zurückzukehren und das Christentum in seiner Reinheit zu fassen. Wir haben wieder den Mut, mit festen Füßen auf Gottes Erde zu stehen und uns in unserer gottbegabten Menschennatur zu fühlen. ( ... ) Je tüchtiger aber wir Protestanten in edler Entwickelung voranschreiten, desto schneller werden die Katholiken folgen. Sobald sie sich von der immer weiter um sich greifenden großen Aufklärung der Zeit ergriffen fühlen, müssen sie nach, sie mögen sich stellen wie sie wollen, und es wird dahin kommen, daß endlich alles nur Eins ist."

Wie nah oder wie fern wir davon entfernt sind, können Sie, verehrte Gäste, wohl so gut ermessen wie kaum jemand sonst. Sie alle, die ich hier eingeladen habe, haben sich zur Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum auf ganz unterschiedliche Weise mit Martin Luther und mit seiner Wirkungsgeschichte beschäftigt und sich um sein Gedenken verdient gemacht. Die Einladung zu diesem Abend heute ist also auch ein Dank, den ich Ihnen aussprechen möchte.

Jetzt freue ich mich mit Ihnen auf das Ensemble Amarcord und die Rezitatorin Nora Gomringer, auf den Luther-Biographen Heinz Schilling, der uns heute die weite Welt zu Luthers Zeit ins Schloss Bellevue holt und auf noch mehr Musik von der Capella de la Torre, die uns einmal mehr hinein versetzen wird in die Zeit um 1517. Eine gegenwärtige künstlerische Auseinandersetzung mit Luther und seinen Texten zeigen die Bilder von Michael Triegel, die nebenan im Schinkelsaal ausgestellt sind.

Ihnen allen also: Herzlich willkommen!