Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 26. Januar 2017

Untertitel: Der Bundespräsident hat am 26. Januar beim Festakt, bei dem ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Paris-Sorbonne verliehen wurde, eine Rede gehalten: "Es gibt Wirklichkeiten, die uns übersteigen, es lohnt sich, etwas aufzubauen, das nicht für uns, sondern erst für unsere Kinder und Kindeskinder wirksam wird. Was Europa groß gemacht hat, ist die Bereitschaft, über das eigene Leben, über die eigene Generation hinauszuschauen und auch jenseits der eigenen Interessen Engagement und Leidenschaft zu entwickeln."
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2017/01/170126-Frankreich-Sorbonne.html


Paris besingt man immer wieder Von Göttingen gibt ' s keine Lieder Und dabei blüht auch dort die Liebe In Göttingen, in Göttingen... Was ich jetzt sage, das klingt freilich Für manche Menschen unverzeihlich: Die Kinder sind genau die gleichen In Paris wie in Göttingen..."

Als die unvergessene Barbara 1964 dieses Lied und damit ihren mutigen Beitrag zur deutsch-französischen Aussöhnung schrieb, da waren für mich, da waren für uns alle drüben in der DDR und in den anderen Ländern hinter dem Eisernen Vorhang, Paris und Göttingen gleichermaßen sternenweit entfernt.

Deswegen ist es für mich wie die Erfüllung eines Traumes, den ich früher nie zu träumen gewagt hätte, hier, im Herzen des alten Paris, auf diese wunderbare Weise empfangen zu werden, und die Ehrendoktorwürde der Sorbonne verliehen zu bekommen. Ich freue mich sehr und bin tief bewegt von dieser Stunde.

Für die Deutschen meiner Generation war und ist Paris die kulturelle Hauptstadt Europas ein Sehnsuchtsort, umso anziehender, je unerreichbarer er schien.

Europa: Das war doch nach dem Zweiten Weltkrieg ein großes Versprechen. Das beginnt mit dem Wunder der deutsch-französischen Aussöhnung. Wir erinnern uns: 1964 sang Barbara in ihrem Chanson davon, dass sich die Kinder in Göttingen nicht unterscheiden von denen in Paris: Da waren ja gerade einmal zwanzig Jahre vergangen, seit Hitler den Befehl gegeben hatte, Paris in Schutt und Asche zu legen, dem General von Choltitz dann Gott sei Dank nicht nachgekommen war. Nein, Paris brannte nicht zum Glück für die Menschen hier und für uns alle, die wir Paris lieben.

Die deutsch-französische Aussöhnung, die die Gründung eines freien und einigen Europas ermöglichte, war bei Licht besehen, wohl weniger ein Wunder als das Ergebnis der engagierten und auch nüchternen Arbeit kluger und verständigungsbereiter Politiker. Und diese Aussöhnung ist auch das Werk der vielen Gelehrten und Künstler, die auf der jeweils anderen Seite des Rheins mit großer Aufmerksamkeit rezipiert worden sind. Wie intensiv wurde nicht, um nur ein einziges Beispiel zu nennen, in Deutschland Albert Camus gelesen!

In den Jahren nach 1989 erstrahlte das europäische Versprechen noch einmal in ganz neuem Glanz: Das Versprechen von Freiheit und Solidarität, von Partizipation und Demokratie, von Liberalität und Rechtsstaatlichkeit, auch ein Erbe der Französischen Revolution, deren 200. Jahrestag wir 1989 gefeiert haben, das alles sollte nun für den ganzen Kontinent gelten und nicht nur für den westlichen Teil. Das war nicht von einer überirdischen Macht gnädig geschenkt worden, sondern das ließen wir Europäer in Wort und Tat Stück für Stück Wirklichkeit werden.

Gegenwärtig aber haben viele von uns das Gefühl, dass vor unseren Augen dieses Versprechen verblasst und dass unter unseren Händen ein Werk zu zerrinnen scheint, das wir alle für so sicher und für so fest gegründet hielten.

Ich möchte in dieser feierlichen Stunde nicht die Fakten aufzählen, die uns mit Sorgen erfüllen. Hier, an der altehrwürdigen Sorbonne, möchte ich vielmehr einiges von dem "inneren Baugesetz" Europas ins Gedächtnis rufen, das sich im Lauf der Geschichte herausgebildet hat und das unsere Art zu leben, unsere Art miteinander umzugehen und unsere Art die Welt zu sehen, stützt und trägt. Ich möchte von dem Kostbaren und dem Wertvollen sprechen, das unser Europa ausmacht. Mir scheint, dass es wenige Orte gibt, die besser von Europa erzählen können als das alte Quartier Latin und seine engere Umgebung.

Beginnen wir mit der Sorbonne selber: Zu den wertvollsten Erfindungen Europas gehören seine Universitäten. An ihnen ist seit ihren Anfängen systematisch erarbeitet worden, was man das kritische Bewusstsein und den wissenschaftlichen Geist nennt. Erinnern wir uns nur an einen der bedeutendsten Gelehrten Europas, an Abaelard, den akademischen Star im Paris des zwölften Jahrhunderts, noch vor der eigentlichen Gründung der Universität.

Er stellte damals als erster den Autoritätsbeweis in Frage. Denn es gab, wie er glasklar sah, bei den Autoritäten, zum Beispiel bei den sogenannten Kirchenvätern, gravierende Widersprüche in zentralen Fragen! Nicht einmal die Bibel, im Streitfall die letzte Instanz, war ja frei von Widersprüchen.

Die wichtigste wissenschaftliche Grundeinstellung wurde deshalb der Zweifel, die wichtigsten Methoden die Textkritik und die scholastische, also regelgeleitete Disputation. Und das immer neu zu schärfende Instrument der Kritik wurde die menschliche Vernunft und Urteilskraft.

Massenhaft kamen die begeisterten Studenten aus ganz Europa, noch ganz ohne Erasmus-Stipendium. Später bildeten ihre Herkunfts- und Sprachgruppen die nationes. Ja, die universitas, also die Vereinigung von Lernenden und Lehrenden in Paris, aber auch in Bologna, Oxford und anderswo, waren so etwas wie "vereinte Nationen" auf der Suche nach Wahrheit, immer auf die Unterscheidung bedacht zwischen Wirklichkeit und Schein.

Es gehört zur Systematik und zur Ehre dieses kritischen Bewusstseins, dass man selber in der Lage ist, gegnerische Positionen klar und verständlich zu vertreten, bevor man sie widerlegt. Und Zweifel hat man vor allem seiner eigenen Meinung entgegenzubringen.

Wir heute können uns die Grundüberzeugung merken: Die Wirklichkeit als solche ist erkennbar und beschreibbar. Und es gibt Wahrheit, und diese Wahrheit erschließt sich der disputierenden Gemeinschaft der Gelehrten: "Denn vom Zweifeln gelangen wir zum Fragen; und fragend erfassen wir die Wahrheit."

Eine sogenannte "post-faktische" Einstellung zur Wirklichkeit oder gar eine Post-Truth-Philosophie ist also für diese blitzgescheiten Intellektuellen so wenig vorstellbar wie später für Enzyklopädisten wie Diderot, für Aufklärer wie Voltaire oder Essayisten wie Montaigne. Und das gilt auch für andere große europäische Denker wie Hume, Locke, Leibniz oder Kant.

Noch etwas lehrt die erste frühe Epoche kritischer Vernunft: Religion braucht Kritik und Selbstkritik und Religion kann Kritik und Selbstkritik vertragen. Eine Religion, die sich Kritik verbietet, traut ihrem eigenen Wahrheitsanspruch nicht. Sie hat sich dann intellektuell erledigt. Um sich dennoch zu behaupten, werden manche ihrer Anhänger gewalttätig im 12. nicht anders als im 21. Jahrhundert. Wir wissen alle, wovon ich spreche.

Wenn Religion sich aber der Vernunft stellt, ist der geistige Samen zur Säkularisierung gelegt. Der lange Weg vom mittelalterlichen Investiturstreit bis zu den klaren und heilsamen Trennungen zwischen Religion und Politik, Kirche und Staat in der jüngeren Geschichte gehört unverlierbar zur europäischen Identität, auch wenn dieses Prinzip in unseren Staaten Frankreich und Deutschland in unterschiedlicher Weise umgesetzt worden ist.

Bevor wir die Universität als lieu de memoire verlassen, erinnern wir uns zudem noch daran, dass Abaelard mit seiner entschiedenen Überzeugung, alle Konventionen und Autoritäten erst einmal bezweifeln zu müssen, ganz konsequent jene Liebesgeschichte erlebt und schriftlich hinterlassen hat, die Anfang und Muster aller leidenschaftlichen Lieben Europas war.

Der Professor und zölibatäre Priester Abaelard und die junge Studentin Heloisa das war stadtbekannt, aber das war eben skandalös, und das durfte nicht sein. So wurden die Liebenden gewaltsam getrennt. Wenn wir die Briefe Heloisas lesen und Abaelards Autobiografie auf uns wirken lassen, spüren wir noch heute die Größe und die Stimmigkeit dieser Liebe.

Es ist die erste reale, nicht-mythologische Liebesgeschichte Europas, die literarisch überliefert ist und sie steht am Anfang jener langen Geschichte, an deren Ende sich dann nach Jahrhunderten endlich die Idee der Liebesehe allgemein durchsetzt: Nur wirklich Liebende sollten zusammen leben, keine Zwangsheirat, keine arrangierten Ehen gehören mehr zur europäischen Kultur und wer sich liebt, soll durch niemand gehindert werden, diese Liebe zu leben.

Wer weiß, ob nicht die sich in ganz Europa herumsprechende Geschichte vom Professor und seiner Schülerin Paris zum ersten Mal den Ruf eingebracht hat, die Stadt der Liebe zu sein. Immerhin: Petrus Venerabilis, der Gelehrte und Priester mit dem höchsten Ansehen in der damaligen Welt, der hochberühmte Abt von Cluny, brachte persönlich Abaelards Gebeine in das Kloster, in dem Heloisa Äbtissin war. So konnten sie später ein gemeinsames Grab bekommen. Inzwischen ist beider Grab ja hier in Paris. Und dort steht geschrieben: "Die Schönheit, der Geist und die Liebe hätten dieses Paar das ganze Leben glücklich machen sollen, doch es war glücklich nur einen Augenblick."

Philosophische Fragen nach der Wahrheit und der Erkenntnis und die nach der Wahrheit der Liebe und des Begehrens, irgendwie hängen sie doch zusammen. Damit verbunden sind Fragen nach der politischen Durchsetzung von Rechten verschiedenster Lebensformen. Sie haben seit dem zwölften Jahrhundert immer wieder das Denken auf dem linken Seine-Ufer bestimmt, bis hin zu Michel Foucault. Immer wieder haben Denker aus den Seminarräumen und Collèges des Quartier Latin die Kultur Europas, ja der ganzen Welt zutiefst geprägt.

Nur ein paar Schritte sind es von hier zur Rue Saint-Jacques, die mit ihrem Namen an den Heiligen erinnert, der ganz am Rande Europas, in Santiago de Compostela, verehrt wird. Im Netz der europäischen Pilgerwege nach Santiago ging eine sehr wichtige Route mitten durch Paris und verband es so mit der damals bekannten christlichen Welt. Es war irgendwie ein Europa in Bewegung, es war ein Kommen und Gehen auf den alten Pilgerwegen. Europa lebte und lebt vom Austausch. Keine europäische Region ist jemals durch Abschottung kulturell aufgeblüht. Und die Kultur der europäischen Städte, es gäbe sie nicht ohne die Straßen, die in sie hinein und aus ihr heraus führen.

Hier waren die Pilger unterwegs, die Schritt für Schritt Europa mit formten. Hier waren die Studenten unterwegs, die neue Ideen verbreiteten, hier waren die Händler unterwegs, ohne deren Wirtschaftskraft es keinen Fortschritt und Wohlstand gegeben hätte, und hier waren die Troubadoure unterwegs, die Klatsch und Wahrheit, Poesie und Musik verbreiteten.

Und, hier waren die Künstler und Baumeister unterwegs, die neue ästhetische Lösungen lernten und weitergaben. Irgendwann kamen sie alle durch Paris und schufen hier Vorbilder für die ganze europäische Kultur. Wie die Kathedrale Notre-Dame, nur wenige Schritte von der Rue Saint-Jacques entfernt.

Während die Intellektuellen am linken Ufer jeden Satz des Glaubens einer Prüfung unterziehen, wächst auf der Île de la Cité mit der Kathedrale Notre-Dame eine mächtige Affirmation des christlichen Glaubens in den Himmel. Ausgehend von Saint-Denis und der Île-de-France entsteht mit einem Mal überall in Europa die erste wirklich neue Architektur: Die gotische Kathedrale steht nicht nur inmitten der europäischen Stadt, sie ist selber so etwas wie eine Stadt mit Toren, Türmen, Zinnen und Wegen, und vor allem mit einem unerhörten, nie gesehenen, geheimnisvollen Licht.

Die Kathedrale ist selber ein ganzer Kosmos: Sie stellt nicht nur das himmlische Jerusalem dar, sondern auch das irdische Leben, von der Landwirtschaft über die handwerklichen Zünfte bis zu den politischen und geistlichen Herrschaften. Über tausend Jahre nach Christi Geburt war Europa eine selbstbewusste christliche Welt geworden.

Aber da wurden auch die, die nicht dazugehörten, wie zum Beispiel die Juden, unterdrückt und verfolgt. Der sogar unter den kritischen Gelehrten beinahe übliche Antijudaismus, eines der dunkelsten Kapitel in der langen Geschichte unseres Kontinents, erreichte dann in Deutschland, meinem Heimatland, mit der Shoah im zwanzigsten Jahrhundert seinen grausamen Höhepunkt.

Ich muss gestehen, dass mich, da wir auf unserem imaginären Gang noch vor Notre-Dame stehen, die Geschichte des kleinen jüdischen Jungen immer wieder bewegt, dessen Eltern deportiert wurden, dessen Mutter in Auschwitz starb, der von katholischen Pflegeeltern aufgenommen wird, sich taufen lässt, Priester wird und dann 1981 zum 139. Erzbischof von Paris ernannt wird. Und der immer seine jüdische Identität bewahrt und der bestimmt, dass bei seinem Begräbnis, bevor in der Kathedrale das Requiem beginnt, vor dem Portal zuerst Kaddisch, das jüdische Totengebet, gesprochen wird.

Als Protestant verneige ich mich vor diesem katholischen Juden und als Deutscher vor dem französischen Einwandererkind mit polnischen Wurzeln, dessen in Notre-Dame ausdrücklich mit seinem jüdischen und seinem christlichen Namen gedacht wird: Aron Jean-Marie Kardinal Lustiger. So viel europäische Geschichte in einem einzigen Leben!

Zurück zum Bau der Kathedrale im zwölften Jahrhundert: Nichts ist zu kostbar, nichts ist zu teuer für die neue, himmelwärts stürmende Architektur der Gotik. Das zeigen besonders die unerhörten Fensterrosen, von denen Paris gleich drei der schönsten hat. Nichts ist technisch zu kompliziert, um nicht ausprobiert zu werden, um es noch eleganter, noch gewagter, noch großzügiger zu bauen. Die Kathedralen und Kirchen von Paris über Mailand und Köln und in vielen anderen europäischen Städten, sie zeigen, wozu Europa in seinen besten Momenten auch fähig ist: zu Ehren des Guten und Erhabenen alle Kunstfertigkeit und allen Esprit aufzubringen.

Gerade in einer Zeit kritischer Debatten über Europa sollten wir uns bewusst machen: Europa kann verschwenderisch und großzügig sein und hat Geduld mit Projekten, deren Realisierung länger dauert als ein Menschenalter. Auch das ist eine Botschaft der Kathedralen, deren Gründer ja nie ihre Vollendung sahen: Es gibt Wirklichkeiten, die uns übersteigen, es lohnt sich, etwas aufzubauen, das nicht für uns, sondern erst für unsere Kinder und Kindeskinder wirksam wird. Was Europa groß gemacht hat, ist die Bereitschaft, über das eigene Leben, über die eigene Generation hinauszuschauen und auch jenseits der eigenen Interessen Engagement und Leidenschaft zu entwickeln.

Diese Einstellung gilt nicht nur für Kunst und Architektur, sondern auch für das soziale Leben. Direkt gegenüber von Notre-Dame, nur ein paar Schritte entfernt, steht das Hôtel-Dieu. An diesem Ort gab es schon seit dem sechsten Jahrhundert ein Hospiz. Die Pflege der Kranken und Sterbenden, die Sorge um die Armen und um die Heimatlosen war von Anfang an ein inhaltliches Erkennungszeichen Europas, die Idee von Europa.

Die biblische Geschichte vom barmherzigen Samariter ist so etwas wie die Ursprungserzählung europäischer Ethik. Unzählige sind diesem Beispiel gefolgt. Und die Kinder in Europa hören seit Jahrhunderten die Erzählungen vom Heiligen Martin von Tours, der mit dem Bettler seinen Mantel teilt, oder von Elisabeth von Thüringen, die gegen alle Verbote ihrer fürstlichen Umgebung den Armen Brot und Hilfe bringt. Aus diesem Geist ist dann später im politischen Raum die Idee der Solidarität erwachsen, die Selbstverpflichtung der Starken für die Schwachen, für die Marginalisierten, für die Unterdrückten.

Europa hat neben dem Guten wahrhaftig viel Schreckliches hervorgebracht und viel Schreckliches erlebt. Alle denkbaren Grausamkeiten sind hier begangen worden. Es gibt ja wahrhaftig keinen Grund, nur ein goldglänzendes Bild von Europa zu malen. Denn es gab ja nie ein goldenes Zeitalter, und das wird es vermutlich auch niemals geben. Aber es gibt den immer wieder neu zu beginnenden Kampf für Humanität, für Freiheit und Recht, für Frieden, für Gerechtigkeit und Demokratie.

Ich möchte unseren kleinen geistigen Rundgang durch das linke Ufer mit einem kurzen Besuch im Hôtel de Cluny abschließen. Hier kann man einem Motiv begegnen, das sehr vieles von dem zusammenfasst, was uns bis hierher begegnet ist.

Ich meine die sechs weltberühmten Wandbehänge der "Dame mit dem Einhorn". In den geheimnisvollen Tapisserien begegnen wir einem schönen Beispiel für eine Kultur der Innerlichkeit: dieses ganz besondere Bei-sich-sein, das konzentrierte Aufnehmen der Welt mit allen Sinnen.

Diese Innerlichkeit ist ja ein entscheidendes Kennzeichen europäischer Kultur und Lebensweise. Etwas zu "verinnerlichen", etwas mit der Seele und dem Herzen zu begreifen und zu tun darum geht es immer wieder. Ob damals in den alten Zeiten in den Predigten Meister Eckharts oder in den Passionen Johann Sebastian Bachs, ob im Lächeln der Gioconda oder im Gewimmel der Demoiselles d ‘ Avignon, ob in den Gedichten Goethes oder in einer Einstellung in einem Film von Jean Renoir: Immer heißt es, vom äußeren Schein zur inneren Wahrheit durchzudringen.

Nicht der große Glanz und die raffinierte Kunstfertigkeit sind wohl das letzte Ziel unserer Kultur. Sondern das Erleben des inneren Reichtums unserer Seelen, des Zaubers der Natur, der Geheimnisse der Welt und eine Ahnung dessen, was uns vielleicht transzendiert. Im Letzten aber ist es die echte Begegnung mit dem Anderen: mit dem scheinbar vertrauten Antlitz des Nächsten und dem scheinbar verstörenden Antlitz des Fremden.

Im Hôtel de Cluny, in dem wir ja auf unserem Rundgang noch sind, stehen wir auch vor den ursprünglichen Köpfen der Königsgalerie von Notre-Dame. Und damit vor dem Wunder, dass sich nach dem festgelegten Schemata der Romanik zwar noch keine wirklichen Porträts, aber so etwas wie individuelle Gesichter zeigen. Vielleicht ein Anfang des Humanismus: Menschengesichter, denen wir begegnen können.

Im zwanzigsten Jahrhundert widmet sich ein Philosoph dem Blick des Menschen und dem Antlitz: Emmanuel Levinas. Er hat die "Andersheit" des Anderen, dem wir begegnen, deutlich herausgestellt: Der Andere bleibt uns gegenüber immer uneinholbar souverän, und sein Blick ist gleichzeitig die Aufforderung, sich ihm gegenüber angemessen zu verhalten. Die vertraute Fremdheit, die uns ethisch verpflichtet: Das ist der Blick, das Antlitz des Anderen. Das ist antiautoritäres Denken in nuce.

In Emmanuel Levinas begegnet uns eine paradigmatische intellektuelle Existenz im Europa des zwanzigsten Jahrhunderts: als Jude geboren im osteuropäischen Litauen, Studienjahre im französischen Straßburg und im deutschen Freiburg. Er lernt von französischen Philosophen, von deutschen auch wie Husserl und Heidegger, verliert seine Brüder und Eltern in den Todeslagern der Shoah, muss selber in deutsche Kriegsgefangenschaft. 1967 wird er Professor in Nanterre, wo 1968 das beginnt, was viele für eine revolutionäre Bewegung halten. Und unbeirrbar entwickelt er seine Philosophie des Antlitzes des Anderen er bekommt dann schließlich seine endgültige Professur. Und wo? Natürlich an der Sorbonne!

Hier sind wir also wieder, nach unserem Rundgang durch das kleine Europa des linken Seine-Ufers: Wir erinnerten uns an das Europa der Poesie und des Chansons, der Kritik und der Wissenschaft, der Leidenschaft und des Glaubens, der großen Projekte und der Eleganz des Gelingens, der Nächstenliebe und der Solidarität, der Freiheit und der Innerlichkeit, des Individuums und des menschlichen Antlitzes.

Ein Europa, das sich zu erinnern und zu bewahren lohnt, weil es nur in seinen über so lange Jahrhunderte erkämpften Werten eine Zukunft hat. Unser kleiner Spaziergang durch das Quartier Latin offenbart mehr Möglichkeiten und Chancen, mehr Ermutigung und Auftrag, wirklich mehr als eine Aufforderung zur Nostalgie und großer Erinnerung.

Vor uns und für uns ist so viel Großes, so viel Schönes und Kostbares erdacht, geschaffen und geschafft worden.

Warum also nicht auch wir? Pourquoi donc pas nous? Paris ou à Göttingen...

Merci beaucoup!