Redner(in): Johannes Rau
Datum: 31. Januar 2000

Anrede: Lieber Herr Präsident Hirrlinger,verehrter Herr Bundespräsident a.D. von Weizsäcker,Herr Regierender Bürgermeister,meine Damen und Herren,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2000/01/20000131_Rede.html


ich kann mich gar nicht erinnern, wie oft ich beim VdK gewesen bin. Auf allen möglichen Ebenen, zu allen möglichen Gelegenheiten, immer wieder hat es Gelegenheit gegeben zu danken, zu ermutigen, rückzufragen, sich zu informieren. Man lebt von solchen Situationen, und im Manuskript der Festrede steht das auch alles.

Aber mir ist heute morgen eine Situation durch den Sinn gegangen, die immer wieder in meiner Erinnerung auftaucht: Es ist vierzig Jahre her, ich war ein junger Abgeordneter und Berichterstatter für einen Paragraphen des Schulpflichtgesetzes, in dem es um Behinderte ging. Ich habe darüber sehr gute Reden gehalten. Bis eines Tages ein sechs- oder siebenjähriges Mädchen im Urlaub auf mich zukam. Es war ein sogenanntes Contergankind. Es gab mir die Hand, die an der Schulter anschloss, und sagte: "Wir haben zusammen Geburtstag. Wollen wir nicht zusammen feiern?"

Ich stellte auf einmal fest: Meine ganze Weisheit über Behinderungen war dahin. Ich hatte Kluges gesagt, ich hatte Bemerkenswertes ausgeführt, aber ich stellte auf einmal fest: Ich bin befangen. Ich bin behindert. Ich weiß nicht, wie man mit einem siebenjährigen Mädchen umgeht, das einem die Hand entgegenstreckt und hofft, dass man selber die Hand gibt; ein Mädchen, das mit einem spielen und sprechen und feiern möchte.

Ich erwähne diese Begebenheit, weil dieser Mensch, dieses Mädchen, nun seit vierzig Jahren meinen Weg begleitet, weil wir miteinander Sorgen austauschen, weil ich von ihr höre: von den Schwierigkeiten der Partnerwahl, von der Entscheidung in der Partnerwahl, von der Geburt des ersten Kindes.

Auf einmal tut sich eine völlig andere Welt auf und wir entdecken, was meine Einsicht seit langem ist - nicht erst seit ein paar Wochen oder Monaten: Die Beamtengesetze gelten, sie müssen eingehalten werden; die Tarifverträge sind gültig, wir müssen um sie kämpfen und sie dann einhalten. Aber eine Welt, in der nur Beamtenrecht gelten und Tarifrecht angewendet würde, die würde zwar funktionieren, aber erfrieren.

Was wir über Gesetze und Tarife hinaus brauchen, ist, dass Menschen sich dem anderen zuwenden, dass ehrenamtliche Tätigkeit, dass Nachbarschaftshilfe und Familienhilfe geschieht und dass wir einander annehmen, so wie wir selber angenommen worden sind von den Menschen, mit denen wir leben und für die wir leben.

Der VdK ist eine der Organisationen, die das in ungezählten Ortsvereinen und Kreisverbänden lebt, mit einer ungenannten Zahl von Selbsthilfegruppen und mit einer Differenzierung der verschiedenen Aspekte von Behinderungen, die nur noch Fachleute verstehen können.

Meine Damen und Herren, der 28. Januar 1950, der Gründungstag des VdK in Düsseldorf, war ein Tag, dem andere Gründungen auf Landesebene vorangegangen waren, zuerst schon 1946 in Bayern. Wer sich der Zeit bis zur Währungsreform 1948 erinnert, als man mit Autos fuhr, auf denen hinten diese großen Kochgeräte angebracht waren, die etwas Benzinähnliches herstellten, der weiß, dass der Weg bis zu einer bundesrepublikanischen Gemeinschaft lang war. So dauerte es denn von 1946 bis zum Januar 1950, bis der VdK als bundesweite Organisation der damaligen Bundesrepublik gegründet wurde.

Wir sind hier heute in dem Saal, in dem am 2. Oktober 1990 Lothar de Maizière die Abschiedsrede der Deutschen Demokratischen Republik gehalten hat. Seit zehn Jahren also ist der VdK zwar nach wie vor der große Sozialverband der Bundesrepublik, aber das ist jetzt die gesamte, die vergrößerte, die vollständige Bundesrepublik. Darüber sich zu freuen, ist wahrlich Anlass. Seit dem 1. Januar 1991 gilt das soziale Entschädigungsrecht auch in den neuen Ländern. Wer selber Kriegsopfer war oder zu den Hinterbliebenen gehörte und in der DDR gelebt hat, musste über 40 Jahre auf diese Gleichstellung warten. Das sollten wir nicht vergessen, daran sollten wir erinnern.

Ich will hier nur einige Zahlen nennen: 1,1 Millionen Mitglieder hat der VdK. Wenn ich das erste Wort im Verbandsnamen "Kriegsopfer" zur Kenntnis nehme, dann gilt es festzuhalten: Es leben derzeit noch 900.000 solcher Kriegsopfer, rund neun Milliarden DM werden jedes Jahr für diese Kriegsopfer im Bundeshaushalt zur Verfügung gestellt.

Wenn ich dann die anderen Zahlen ansehe, Richard von Weizsäcker hat schon das Stichwort "Behindertenbeschäftigung in Betrieben" genannt, dann stelle ich fest: Es gibt in unserem Land derzeit etwa 190.000 arbeitslose Schwerbehinderte. Drei von acht einstellungsverpflichteten Firmen beschäftigen nicht einen einzigen Schwerbehinderten. Es gibt auch Firmen, die das vorzüglich tun; ich kenne auch einige, die das über das Zumutbare hinaus tun, und danke denen dafür. Aber ich füge hinzu: Wenn jeder einstellungsverpflichtete Betrieb in Deutschland nur einen Schwerbehinderten einstellte, gäbe es in Deutschland keinen arbeitslosen Schwerbehinderten. Darum bitte ich alle: Kauft Euch nicht billig frei. Prüft wenigstens, ob es nicht doch geht. Helft doch mit, die unterschiedlichen Gaben und Begabungen einzusetzen, damit Menschen nicht an den Rand gedrängt werden, sondern damit wir die Minderheiten in die Mitte holen. Diesen Appell möchte ich an alle Unternehmer und alle Unternehmen richten.

Ich möchte dem VdK dafür danken, dass er seit dem Beginn der Geschichte der Bundesrepublik den sozialpolitischen Weg nicht nur begleitet hat, sondern mitgegangen ist und dass er das auf den unterschiedlichsten Feldern, mit unterschiedlicher Stärke und Stringenz getan hat: von den ersten Gesetzgebungsprojekten des Jahres 1950 bis zum Pflegegesetz und so fort.

Das Grundgesetz spricht von uns, der Bundesrepublik, als einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat. Wir alle wissen: Das ist noch keine Zustandsbeschreibung, sondern eine Zielbestimmung. Nicht, dass ich es schon ergriffen hätte, ich jage ihm aber nach. Mit der sozialen Gerechtigkeit ist es nun einmal so, dass sie nie ein festgeschriebener Zustand ist. Wir werden immer darum streiten, auch zwischen den Parteien, was soziale Gerechtigkeit ist, und da

müssen die Verbände helfen. Ohne sie würden die großen sozialpolitischen Gesetzeswerke nicht die Gestalt haben, die sie haben oder die wir ihnen wünschen. Das gilt vom Bundesversorgungsgesetz von 1950 über das Schwerbehindertengesetz 1974 bis hin zur Pflegeversicherung.

Ich bin froh darüber, dass zwölf deutsche Behindertenverbände - ich finde es schade, dass es zwölf sind, ich wünschte mir weniger - am 3. Dezember 1999 den Deutschen Behindertenrat gegründet haben - mit Walter Hirrlinger als ihrem Sprecher. Solche Arbeit der Verbände geschieht an den unterschiedlichsten Orten in ungezählten Einrichtungen. So wichtig die Einrichtungen sind und so sehr wir sie stärken müssen, mir liegt daran, deutlich zu machen: Die wichtigste Einrichtung ist die Familie und der größte Dank gilt denen, die Jahre und jahrzehntelang zu Hause helfen und pflegen. Was da vor allen Dingen Frauen leisten, darüber könnte man Bücher füllen. Für diese Arbeit der Stillen im Lande möchte ich von Herzen danken, denn ohne diese Arbeit, die der VdK stützt, wäre die Arbeit an der Spitze des Verbandes, wären die Vorschläge, die Forderungen an die Politik, nicht so glaubwürdig, wie sie es sind.

Am Anfang der Geschichte des VdK hat der Wille gestanden, die Opfer des Kriegs nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Damals war Kriegsopferversorgung das Wichtigste. Heute, fast fünfundfünfzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, haben sich die Arbeitsschwerpunkte des VdK verändert. Für und über manches haben wir gemeinsam gestritten, jahrelang, ich gestehe, auch ich, etwa für ein Pflegegesetz. Nun sage ich, ohne irgend jemand zu kritisieren: Ich bin mir heute nicht sicher, ob mit einer Liste von 21 Verrichtungen auch nur annähernd zutreffend beschrieben werden kann, welches Maß an Pflege jemand braucht. Wichtiger scheint mir, dass den Pflegebedürftigen Zeit und Gelegenheit zum Zuhören geboten wird. Es ist jedenfalls meine Erfahrung, vor allem mit alten Menschen, dass sie, bei aller Hilfe, die sie brauchen, nichts so nötig haben wie jemanden, der zuhört und der antwortet. Ich wünschte mir eine Gestaltung der Pflege, die das möglich macht. Nicht, indem wir neue Zeitkontingente schaffen, sondern indem wir - über das Reglementierte und Vorgeschriebene hinaus - den pflegebedürftigen Menschen einfach Zeit widmen.

Wir wissen, es gibt Barrieren und Vorurteile in vielen Köpfen. Von Theodor W. Adorno stammt die Formulierung, er träume von einer Welt, in der man ohne Angst verschieden sein kann. Ja, das ist gemeint: ohne Angst verschieden sein können, damit man das beste aus den eigenen Möglichkeiten machen kann; damit man nicht angewiesen ist auf den Rhythmus, den Wirtschaft, Maschine, Apparat oder Computer vorgeben. Dazu gehört, dass wir eine Rehabilitation brauchen, die Menschen nicht passiv und abhängig macht, sondern die ihre eigene Verantwortung stärkt und die so viel Selbstentfaltung wie möglich eröffnet.

Wir haben viele richtige Grundsätze in der Sozialpolitik, an die sich alle halten sollten: dass Rehabilitation Vorrang hat vor Pflege und Rente; dass Selbsthilfe Vorrang hat vor Fremdhilfe; dass ambulante Hilfe Vorrang hat vor stationärer Hilfe; in einem Satz: Soviel Normalität wie möglich. Das heißt: Menschen sollen nicht länger als unbedingt im Krankenhaus oder in der Rehabilitation sein. Wir dürfen die Länge einer Behandlung nicht mit Gründlichkeit oder Qualität verwechseln. Vergleiche mit anderen Ländern sind da wahrlich sinnvoll; internationale Studien sagen uns: Wer sechs Monate aus dem Beruf ist, dessen Chancen wieder in Arbeit zu kommen, liegen bei fünfzig Prozent; wer ein Jahr lang aus dem Beruf ist, der hat noch zwanzig Prozent; nach zwei Jahren sind es nur noch zehn Prozent. Darum müssen wir darauf achten, dass die Auszeiten der Menschen nicht zu lang sind, dass wir sie nicht vergessen.

Die große Gefahr der monatlichen Mitteilungen der Arbeitslosenzahlen ist, dass diese Menschen uns nur noch als Zahlen gegenwärtig sind, seien es 3,8 oder 3,9 oder 4,1 Millionen. Ich erinnere an das Mädchen, von dem ich am Anfang gesprochen habe: Erst, wenn man jemanden kennt, erst, wenn es die eigene Familie betrifft, erst, wenn es hineingreift in den persön-lichen Lebensbereich, wird uns deutlich, dass Arbeitslosigkeit nicht nur wirtschaftliche Einschränkung bedeuten, sondern dass sie Mangel an Selbstachtung herbeiführen kann; dass Menschen nicht mehr wissen, was sie mit sich anfangen sollen; dass sie nicht mehr wissen, wozu sie da sind; dass sie ihr Selbstwertgefühl verlieren. Wenn wir bedenken, dass es heute junge Arbeitslose gibt, die schon ihre Eltern nur als Arbeitslose kennen, dann wissen wir, warum wir diesem Krebsübel der Arbeitslosigkeit wahrlich alle Kraft entgegenstemmen müssen und unsere Politik in Richtung Beschäftigung weiter stärken müssen.

Meine Damen und Herren, jeder von uns hat eine Chance mitzuhelfen bei dem, was Politik eigentlich soll: das Leben der Menschen ein wenig menschlicher machen, zu Hause, im Verband, in der Selbsthilfegruppe, in der Nachbarschaft, bei denen, die uns anvertraut sind; damit die Welt nicht erfriert, damit sie menschlich bleibt und menschlicher wird. Glückauf und herzlichen Dank!