Redner(in): Johannes Rau
Datum: 11. Februar 2000

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2000/02/20000211_Rede.html


Ich will heute Abend keine Laudatio auf Sie, Herr Professor Gadamer, halten. Ich will Ihre Biographie nicht referieren und mich auch nicht mit Ihrem Werk auseinandersetzen.

Ich bin kein akademischer Philosoph. Ich bin Politiker. Aber ich habe es für richtig gehalten, heute Abend hier zu sein.

Im Namen der Bundesrepublik Deutschland möchte ich Ihnen meinen großen Respekt aussprechen, meinen Dank für alles, was Sie in mehr als sieben Jahrzehnten für die deutsche Universität und für das deutsche Geistesleben geleistet haben. Ich glaube, dass wir alle Ihnen diese Ehre schuldig sind.

Einen großen Denker ehrt man wohl am besten dadurch, dass man selber nachdenkt. Philosophieren beschränkt sich nicht auf eine akademische Disziplin. Sokrates hatte durch sein lautes Nachdenken auch eine eminent politische Bedeutung in seiner Gesellschaft.

Wenn Politiker nachdenken, dann denken sie in der Regel sehr praktisch. Dafür werden sie gewählt und dafür werden sie gebraucht. Seit alters her gibt es in Deutschland ja die Vorstellung, Geist und Macht müssten getrennt sein oder stünden in einem Konkurrenzverhältnis, ja in einem Gegensatz zueinander.

Das ist nicht ganz falsch. Politiker denken ja tatsächlich zunächst wenig abstrakt. Sie müssen sich praktischen Aufgaben stellen.

Sie denken darüber nach, wie sie eine vernünftige Steuergesetzgebung zustande bringen, wie sie die Renten sichern, wie sie den Staat gegenüber der Eigendynamik der Wirtschaft handlungsfähig halten können.

Sie denken darüber nach, und sie sollten es auch, wie sie Gerechtigkeit stärken, Freiheit lebendig halten und Solidarität praktisch werden lassen können.

Das verlangt tagtägliche Anstrengung, tagtägliche Auseinandersetzung, tagtäglich Entscheidungen. Das Denken wird also - auch wenn es an den Zielen orientiert ist, die ich genannt habe - notwendigerweise etwas kurzfristig angelegt sein.

Politiker denken auch darüber nach, wie sie die nächsten Wahlen gewinnen, wie sie die öffentliche Meinung von ihren Vorstellungen überzeugen, wie sie glaubwürdig für die Ziele werben können, die sie anstreben.

Auch dies Denken ist oft kurzfristig, ist oft allzu taktisch angelegt und immer weniger frei von den Zwängen, in die wir durch die immense Schnelligkeit unserer Medien geraten.

Vor lauter Zwang, auch auf die letzte Tickermeldung, auf die letzte Fernsehnachricht, auf den letzten Kommentar sofort und möglichst clever und möglichst ohne erkennbare Selbstzweifel zu reagieren, gerät das wirkliche Nachdenken manchmal ganz an den Rand.

Doch eines weiß jeder, ob akademischer Philosoph oder nicht: das wirkliche Denken, das Nachdenken, braucht Zeit. Die fehlt den Politikern im Tagesgeschäft oft am allermeisten.

Dennoch möchte ich Sie teilhaben lassen an einigen Gedanken, die mir in den Sinn kommen, wenn ich das zentrale Wort, den zentralen Begriff Ihrer philosophischen Arbeit, Herr Professor Gadamer, ansehe: Verstehen.

Ich will keine neue Lehre vom Verstehen vorstellen, wenn ich Ihrer hermeneutischen Begriffsbildung keine politische Hermeneutik auf ähnlichem Niveau zur Seite zu stellen versuche.

Ich möchte Ihnen aber sagen, warum mir gerade in diesen Zeiten und gerade im politischen Leben der Begriff des Verstehens - nicht nur der Begriff, sondern der Akt, der Prozess des Verstehens so wichtig zu sein scheint.

Zunächst einmal ist es heute offenbar so, dass immer weniger Menschen verstehen, worum es bei vielen politischen Entscheidungen geht, ja was sich überhaupt im politischen Entscheidungsprozeß abspielt.

Nach meiner Auffassung sind es nicht in erster Linie die Skandale - so schwerwiegend sie sind - , die Politikmüdigkeit und Politikverdrossenheit erzeugen, wie man beobachten kann.

Es ist vielmehr die Unübersichtlichkeit dessen, was geschieht.

Wirklich demokratiegefährdend ist es, wenn die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr verstehen, was in der Politik vorgeht - und wenn sie die Sprache nicht mehr verstehen, in der darüber gesprochen wird.

Ich füge in aller Vorsicht hinzu, dass die Sprache mancher akademischen Diskurse, wie man so sagt, nicht unbedingt besser verständlich ist als die der Politiker.

Wenn der Prozess des "Verstehens" eine Aufgabe ist, dann liegt sie auf Seiten der Politik nach meiner Erfahrung darin, sich um Verständlichkeit zu bemühen beim Beschreiben von Aufgaben, beim Argumentieren für die eigenen Vorstellungen.

Erst das, was verstanden werden kann, ist wirklich abstimmungsfähig. Diskutieren, beurteilen und entscheiden kann man nur das, was man wirklich versteht. Und darum ist Verstehen in einem ganz elementaren Sinn eine unabdingbare Voraussetzung aller Demokratie.

Natürlich sind wir dabei - als Politiker und als Bürger - auf die Medien angewiesen. Politiker können sich nur verständlich machen, wenn man ihnen die Gelegenheit dazu gibt. Dazu gehört die Geduld, einen Gedanken, ein Argument auch zu Ende anzuhören - und zu Ende zu senden.

Man kann so komplizierte Angelegenheiten wie die, mit denen wir uns beschäftigen, Euro oder die Erweiterung der EU, aber auch die Bedingungen und Folgen des neuen Staatsbürgerschaftsrechtes nicht in "soundbites" von 30 Sekunden verständlich machen.

Dann werden auch Politiker zu O-Ton-Puppen degradiert.

Verständigung, Verstehen, das braucht mehr Zeit und Geduld, als wir sie uns in der Hetze vieler "Brennpunkte" und "Extras" selber oft lassen. Verstehen braucht etwas von dem, was man früher einmal "Bedächtigkeit" genannt hat. Philologen und Hermeneutiker wissen, wie viel Zeit und wie viel Geduld man braucht, einen fremden Text wirklich für heute zum Sprechen und zum Klingen zu bringen.

Die Theologie, die mir ja nicht ganz fremd ist, ist auch ein wichtiges Feld hermeneutischer Arbeit. Aber für das Verstehen gesellschaftlicher und politischer Prozesse ist das nicht weniger erforderlich.

Im Denken wird jegliches Ding, wenn ich es im Anschluss an Ihren Lehrer Heidegger sagen darf, einsam und langsam.

Sie haben, Herr Professor Gadamer, immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass Verstehen vor allem bedeutet - ich sage es in meinen Worten - , dieZusammenhängezu verstehen.

Das gilt nicht nur für historische Zusammenhänge, in denen Texte geschrieben oder gelesen werden. Das gilt allgemein.

Insofern sind Sie auch ein herausragender Repräsentant der Idee, die man einmal mit den Worten "Universität" oder "Akademie" in Verbindung gebracht hat.

Die Bildungspolitik ist in den vergangenen Jahren von den Parteien und Institutionen in Deutschland - endlich - als ein wesentliches Thema entdeckt worden - und die Zahl der Bildungskongresse und -papiere ist inzwischen unüberschaubar.

Mir scheint aber, dass allzu oft an der Oberfläche diskutiert wird. Über die Zahl der Schuljahre, über die Zahl der Semester, über Studien- oder gar Strafgebühren.

Bei allem Ärger über sogenannte Langzeitstudenten und überfüllte Hörsäle: Ich glaube, dass wir doch tiefer diskutieren müssen.

Es ist im Abendland, wenn ich das Wort einmal benutzen darf, eine zumindest neue Idee, dass Schnelligkeit ein Äquivalent für Qualität in der Bildung geworden ist.

Wir brauchen nicht in erster Linie Akademiker, die das Studium schnell hinter sich gebracht haben. Wir brauchen Akademiker, die sich in ihrem Gebiet gut umgetan haben, die Zeit hatten, darüber nachzudenken, was um sie herum vorgeht.

Viele glauben, dass wir in einer ideologiefreien Zeit leben. Aber viel zu viele erliegen nach meinem Eindruck der Ideologie der Schnelligkeit und der Effizienz.

Aufgabe der Universität müsste es auch sein, für anti-ideologische Aufklärung in dieser Richtung zu sorgen. Es wäre ihre Aufgabe, für "Verstehen" zu sorgen - in einem umfassenden Sinn. Daran muss ich jedenfalls immer denken, wenn ich Unter den Linden in Berlin an der Universität vorbeifahre, die den Namen Wilhelm von Humboldts trägt.

Man löst die Probleme nicht, indem man die Humboldtsche Universität restauriert. Aber die Erinnerung an die Idee, die ihr zugrunde liegt, kann uns immer noch weiterhelfen.

Und darum will ich sagen: Das Geheimnis jeder Bildung, die den Namen verdient, ist es, zu verstehen - und das Verstehen zu lernen. Das braucht Zeit und Geduld.

Nur, wer es gelernt hat, zu verstehen - und das Verstehen zu lernen - weiß auch um die große Aufgabe, selber verständlich zu sein.

Wenn die Fachgebiete, die uns alle angehen und betreffen, immer spezialisierter und enger werden, dann ist nichts wichtiger als Menschen, die darüber verständlich schreiben und reden können. Sonst geht die Transparenz unserer Gesellschaft - und nicht nur unserer akademischen Gesellschaft - verloren.

Verstehen ist schließlich nicht nur ein intellektueller Vorgang, sondern auch eine ethische Verpflichtung. So sehe ich das wenigstens.

Ich war vor knapp zwei Wochen in Davos, beim sogenannten Weltwirtschaftsforum. Zusammen mit anderen Staatsoberhäuptern, mit Verantwortlichen aus der Wirtschaft, mit Intellektuellen aus aller Welt und mit Vertretern der großen Weltreligionen habe ich über Fragen des interkulturellen Dialogs gesprochen.

Hier liegt eine der zentralen Herausforderungen des Verstehens überhaupt. Wir müssen in dieser kleiner werdenden Welt miteinander leben. Das setzt voraus, dass wir zu verstehen lernen, was andere glauben, was sie verehren, was sie für wichtig halten, wovon sie träumen, wie sie menschliches Zusammenleben gestalten wollen.

Im interkulturellen Dialog muss man sicher kontrovers diskutieren, man muss ganz intensiv über ethische Fragen sprechen und auch streiten - aber zuallererst muss man zuhören lernen, verstehen lernen, das Fremde als Fremdes verstehen lernen - und damit eben auch alseineMöglichkeit, die conditio humana zu leben.

Hier verdanken wir Ihnen, Professor Gadamer, dem Lehrer des Zuhörens, sehr viel. Ich bin sicher, dass Ihr Werk auch für alle, die sich auf diesen interkulturellen Dialog einlassen wollen, sehr bedeutsam bleiben wird.

Verstehen - das ist auch eine sehr persönliche Angelegenheit. Natürlich weiß ich, dass Politik immer auch in Strukturen, Organisationen und Institutionen denken muss.

Wer das Soziale organisiert, muss vom Individuum notgedrungen methodisch Abstand nehmen, auch wenn es um dessen Lebenschancen geht.

Politik ist für mich aber immer eine Sache gewesen, die Menschen verbindet - zu einem Projekt, einer gemeinsamen Sache, einer sehr persönlich erfahrenen Solidarität.

Ich habe das immer für die vornehmste Aufgabe der Politik gehalten: die Menschen so zusammenbringen, dass ihre notwendigerweise unterschiedlichen Interessen nicht nur in einen Ausgleich kommen, sondern sich gegenseitig stärken und weiterbringen.

Heute Abend möchte ich hinzufügen, dem liegt ein tiefergreifendes Motiv zugrunde: die Überzeugung, dass wir einander verstehenkönnen- auch in unseren gegensätzlichen Interessen, auch in unseren gegensätzlichen Überzeugungen, in unseren unterschiedlichen Lebenswelten.

Genau zuhören, genau hinsehen, aufeinander eingehen - also: einander verstehen - das ist nicht nur die Aufgabe der Politik, das ist auch die Bestimmung der Menschen, nicht nur der Hermeneutiker, nicht nur der Akademiker, nicht nur der Philosophen.

Das Verstehen ist die praktische Philosophie, die uns allen möglich ist.

Das Verstehen ist der Anfang der Solidarität, die uns als sozialen Wesen gegeben und aufgegeben ist.

Die Suche nach dem Verstehen ist Ihr Lebenswerk, Herr Professor Gadamer, für das wir Ihnen alle dankbar sind, und für das wir - ich sage es noch einmal - Ihnen heute die Ehre erweisen.

Ad multos annos.