Redner(in): Johannes Rau
Datum: 28. Mai 2000

Anrede: Lieber Herr Präsident Flimm,meine Damen und Herren,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2000/05/20000528_Rede.html


Wenn ich mir die Stimmungslage hier im Saal und die publizistische Begleitung anschaue, dann gibt es Klärungsbedarf innerhalb der Theatergemeinde, aber auch Erwartungen an die Politik: Nötig sind Rahmenbedingungen für ihre Arbeit, damit Deutschland auch in Zukunft eine Kulturnation bleibt. Das ist für mich der Kern, um den es in vielen Diskussionen geht. Die Gesellschaft braucht Theater, in guten wie in schlechten Zeiten ". Die Älteren unter Ihnen werden sich noch erinnern, wie es war mit den Anfängen nach dem Zweiten Weltkrieg. Gespielt wurde in Trümmern. In Wuppertal kam nur ins Theater, wer Briketts mitbrachte. Aber die Leidenschaft für das Theater nach Jahren der geistigen Dürre war wieder entbrannt. Diese Leidenschaft darf nicht in Rufen nach mehr Geld - Tarifsteigerungen eingeschlossen - untergehen.

damit sie gar nicht erst reißen. Mit der Wahl Ihres Präsidenten, Prof. Jürgen Flimm, haben Sie eine Persönlichkeit gefunden, die das in hervorragender Weise schaffen kann. Ich wünsche ihm für seine Aufgaben und Ihnen für Ihre weiteren Beratungen gutes Gelingen.

Der Bundespräsident bleibt ein Freund der Bühnen und der Bretter, die die Welt bedeuten.

Lieber Herr Präsident Flimm, meine Damen und Herren, Ein junger Mann wird durch eine Fernsehserie auch deshalb zum Kultstar, weil er den großen Theatermann Shakespeare für einen Dokumentarfilmer hält. Das gibt zu denken!

Haben wir deshalb eine Krise des Theaters oder der Oper?

Gibt es etwa nicht mehr genügend Theatergänger?

Interessiert sich kein junger Mensch mehr für den Beruf des Schauspielers?

Ich erinnere mich, dass mir der ehemalige Intendant des Berliner Ensembles, Wekwerth, zu einer Zeit, wo er Mitglied des Zentralkomitees der SED war, die Klage vortrug, dass die Zuschauer die Bibel nicht mehr kennen. Er meinte, von Shakespeare bis Brecht könne man ohne Bibelkunde vieles nicht verstehen. Ich denke, er hatte Recht.

Wenn die Anmeldezahlen allein für die Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" hier in Berlin nur annährend repräsentativ sind, werden solche Ausbildungsstätten von jungen Leuten überrannt - auch in München, Bochum

Befürchtungen an Theatern oder Opernhäusern, es müsse bald das Schild angebracht werden "wegen Todesfall geschlossen", weil die Zuschauer fehlen, sind völlig abwegig. Die Ränge sind voll, jedenfalls in den meisten Häusern. Aber die Kassen sind leer, jedenfalls die öffentlichen.

Wenn ich mir die Stimmungslage hier im Saal und die publizistische Begleitung anschaue, dann gibt es Klärungsbedarf innerhalb der Theatergemeinde, aber auch Erwartungen an die Politik: Nötig sind Rahmenbedingungen für ihre Arbeit, damit Deutschland auch in Zukunft eine Kulturnation bleibt. Das ist für mich der Kern, um den es in vielen Diskussionen geht. Weltweite Anerkennung erreicht man gewiss auch durch erfolgreiches wirtschaftliches Handeln. Bleibenden Respekt in der Welt erringt aber nur, wer kulturelle Wurzeln und eine unverwechselbare Identität hat. Auch in Deutschland wächst die Erkenntnis, dass attraktive Angebote, leistungsfähige Unternehmen und gut ausgebildete Menschen allein nicht ausreichen, wenn man international erfolgreich sein will. Hinzutreten muss mehr: Die sensible Annäherung an die Kultur des Gesprächs- oder Verhandlungspartners, die Fähigkeit, sich in die Situation des anderen zu versetzen. Aber man sollte ausländischen Partnern auch antworten können, was es beispielsweise an Schau- oder Volksbühne - um in Berlin zu bleiben - Neues gibt, wenn sie danach fragen. Neuigkeitswert für ausländische Wagner-Freunde hat auch, wenn die Oper in Stuttgart den "Ring" inszenatorisch durch mehrere Regisseure in seine vier Teile zerlegt und dadurch in bemerkenswerter Weise auf sich aufmerksam macht.

Der uns allen unvergessene August Everding hat einmal gesagt:

Das Gespenst von der Krise oder gar dem Tod des Theaters, man mag es nicht mehr hören, weil es einem Ritual gleicht, das immer dann in die Debatte eingeführt wird, wenn Positionen in Frage gestellt werden oder in Frage zu stellen sind. Wir brauchen eine ernsthafte Debatte ohne Krisengerede, an deren Ende eine Wegweisung stehen muss.

Mich hat beeindruckt, wie breit und kompetent über das Kunstwerk von Hans Haacke im Deutschen Bundestag gestritten wurde. Viele - auch außerhalb des Parlaments - haben sich daran beteiligt. Die Feuilletons waren voller zustimmender und ablehnender Beiträge. Jetzt ist die Sache entschieden.

Ich weiß, dass die wieder aktuellen Diskussionen um Theater und Oper nicht so leicht zu führen und Entscheidungen nicht so leicht zu treffen sind. Das Feld ist weiter und unübersichtlicher. Wir haben es oft mit über Jahrzehnte gewachsenen Strukturen zu tun. Ich sehe aber auch den einen oder anderen mentalen Schützengraben. Die Verantwortung allein den politisch Handelnden zuzuweisen, greift ebenso zu kurz wie die öffentliche Geringschätzung der Arbeit auf und hinter der Bühne. Natürlich kann man weder Politikern noch Zuschauern Liebe oder Zuneigung zum Theater verordnen, auch ich kann das nicht. Aber Respekt vor der Kreativität und dem Engagement von Theater- und Opermachern kann man erwarten. Darauf können wir um unserer selbst willen nicht verzichten.

Was ist also zu tun, wenn sich der Pulverdampf der hitzigen Debatte verzogen hat? Ich sehe erfreuliche Ansätze, wie die Debatte zu guten Ergebnissen geführt werden kann. Der ' Süddeutschen Zeitung ' ist etwas gelungen, was ich als den Beginn einer Art von "Bündnis für das Theater" bezeichnen möchte. Bündnisse für Arbeit und für den Film gibt es ja schon und sie wirken sich positiv aus, weil miteinander um den richtigen Weg gerungen wird und nicht gegeneinander. An dieser bemerkenswerten Zeitungsdiskussion hat sich der Präsident des Bühnenvereins ebenso beteiligt wie die Politik und die ÖTV. Das lässt aufhorchen. Nicht nur wegen der Zusammensetzung der Diskutanten. Die liegt nahe. Aufhorchen deshalb, weil der Leser ahnt, dass alle Beteiligten wissen, dass sie ihre gegenwärtige Position so nicht ohne Änderungen halten können werden. Das ist ein gutes Zeichen.

Ich möchte daher alle, die für Theater und Oper Verantwortung tragen, dazu ermuntern, die Diskussion weiter auf eine breite Basis zu stellen. Alle, und das schließt die Politik ein, haben die Pflicht, den ' Thespiskarren ' gemeinsam zu ziehen - und zwar an der Deichsel nach vorn und nicht mit einer Umklammerung von hinten.

Einige Themen für die Debatte möchte ich gern beisteuern:

Bühnenarbeit muss ökonomisch solide funktionieren. Ich halte das für eine Bringschuld des Theaters gegenüber dem Zuschauer und der Gesellschaft insgesamt. Nicht alle, die Kultur mitfinanzieren, findet man auch im Theater und im Opernhaus. Und so mancher Gagenpoker wird öffentlich auch wahrgenommen mit Blick auf die Ausstattung von Schule oder Universitäten. Die Kulturnation Deutschland wird nicht dadurch gefährdet, dass eine Gagenforderung mal nicht erfüllt wird. Sie wird aber dann gefährdet, wenn es uns nicht gelingt, beispielsweise in den Schulen die Musik und das Theater zu fördern. Kreativität in diesen Bereichen gehört zur Persönlichkeitsbildung und zur sozialen Kompetenz. Ohne sie kommen wir nicht aus. Wer nie Dinge jenseits des Berechenbaren und Nützlichen kennengelernt hat, der wird auch im Beruf künftig viele Antworten nicht geben können.

Gemessen an den Gesamtausgaben der öffentlichen Haushalte birgt die Summe, die auf die Kultur entfällt, keinen finanzpolitischen Sprengsatz, auch wenn ich die Sorgen mancher Kommunen nicht klein reden will. Bildung, Wissenschaft und Kultur sind unsere einzigen "Bodenschätze". Sie wachsen im eigenen Land. Wir können Qualität und Menge beeinflussen. Unsere Zukunftsfähigkeit hängt entscheidend davon ab, wie wir mit diesen Schätzen umgehen.

Mein Appell geht daher zunächst in Richtung Politik, wenn ich darum bitte, bei Regelungen darauf zu achten, ob sie kreative Räume und Chancen eröffnen und nicht schließen. Dabei geht es nicht um Geld, sondern um mehr Flexibilität, Risikobereitschaft und Verantwortungsbewusstsein.

Das Wort Marketing ist für Sie alle kein Fremdwort. Wenn Dinge nicht schön sind, muss man sie nicht schön reden. Wenn aber Dinge gelingen, und das ist bei der überwiegenden Zahl der Aufführungen in Deutschland der Fall, dann wäre mein Wunsch, dass noch öfter über dieses Gelingen gesprochen wird, auch in den Medien. Da habe ich manchmal die Sorge, dass wir auf dem Rückweg sind und die Berichterstattung noch knapper wird. Ich bin überzeugt davon, dass das Interesse beim Leser oder Zuschauer nicht gering ist. Ich kenne auch sehr viele Hörfunk- und Fernsehintendanten, die begeisterte Opern- und Theatergänger sind. Daraus müsste sich doch etwas machen lassen!

An die Theater- und Opernwelt habe ich die Bitte, dass sie die Zuschauer fest im Blick behält. Ich finde es nicht ehrenrührig, wenn ein Programmheft eine Inszenierung erläutert, vielleicht auch das eine oder andere Symbol beschreibt, das einigen beim Zuschauen vielleicht entgangen ist. Ich sehe einen Vorteil darin, dass Zuschauer und Macher einander näher rücken können, wo sie es nicht schon sind.

Ich wünsche mir von den Verantwortlichen in den Kulturinstitutionen, dass sie Gesprächsfäden dort flechten, wo sie zerrissen sind und stabilere Knoten knüpfen,