Redner(in): Johannes Rau
Datum: 7. März 2000

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2000/03/20000307_Rede.html


Rede von Bundespräsident Johannes Rau anlässlich des 75. Jahrestages der Gründung der Friedrich-Ebert-Stiftung

I. Lieber Herr Präsident Göncz,

lieber Herr Präsident Mogae,

Exzellenzen,

lieber Herr Börner,

meine Damen und Herren,

Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stiftung wünsche ich Glück und Erfolg bei ihrer Arbeit in den kommenden Jahren.

Ich beglückwünsche Sie zu dieser Veranstaltung, die in einer guten, an Sachfragen orientierten Tradition steht: Unsere heutige Gratulationscour ist nur der Auftakt für eine internationale Konferenz, die sich mit der "Demokratie in Zeiten der Globalisierung" beschäftigen wird.

Die Hingabe an die Sache ist ein Vermächtnis des Namensgebers, des ersten demokratisch gewählten Staatsoberhauptes in Deutschland.

Im "Vorwärts" vom 4. März 1925, zwei Tage nach dem Tod Friedrich Eberts, war zu lesen: Das Leben Friedrich Eberts bietet das bisher glänzendste Beispiel für den Aufstieg eines Mannes aus den arbeitenden Massen zu höchsten Leistungen im Dienste der Allgemeinheit. Auf sein Vorbild hinzuweisen, die heranwachsende Generation zur Nacheiferung anzuspornen und besondere Begabungen aus der Jugend des arbeitenden Volkes zu fördern, das ist der Zweck der Friedrich-Ebert-Stiftung."

Damals rief der Parteivorstand der SPD dazu auf, nicht Kränze zu kaufen oder Deputationen zur Trauerfeier zu senden, sondern Geld zu spenden für die neue Stiftung.

Das entsprach dem Wunsch Friedrich Eberts, der seine ganze Kraft dem Aufbau eines demokratischen und sozialen Deutschland gewidmet hatte.

II. Inzwischen ist die Arbeit der nach Friedrich Ebert benannten Stiftung über Studienförderung hinausgewachsen.

Damals sprach Bundespräsident Theodor Heuss, und er sagte damals zur Bedeutung der Arbeit politischer Stiftungen für die Förderung der Demokratie, es gehe im politischen Leben "um das Lebendig-Machen, das Lebendig-Halten der Gesinnungen. Gesinnungen heißt nicht abrichten auf ' Linientreue ' , sondern die Freiheit wahren und den Menschen erziehen im Fragen-Können und im Antworten-Finden. Es kommt dabei gar nicht darauf an, dass die Antwort immer gleich, sondern dass sie frei ist und verantwortet wird."

Soweit Theodor Heuss.

Unsere politischen Stiftungen sind Einrichtungen, die in vielen Ländern als Vorbild gesehen werden. Ihre Arbeit, den Ideen einzelner Parteien verbunden und doch eigenständig, bewegt und stößt an, sie fördert die politische Auseinandersetzung und eine Streitkultur, die sich an der Sache orientiert.

Viel stärker als die Parteien selber haben und schaffen die Stiftungen Zeit und Möglichkeiten, über den Tag hinaus zu denken, neue Politikkonzepte zu entwickeln und die Voraussetzungen und Folgen unterschiedlicher Zukunftsentwürfe zu analysieren.

Ich glaube, dass wir gerade heute solche Oasen des Nachdenkens brauchen, solche Tankstellen für intellektuellen Treibstoff.

Wir erleben zu häufig, dass im politischen Alltag ein Gag und eine schnelle Antwort wichtiger werden als der Inhalt.

Wir leben in einer Zeit, die vom Staccato der Talkshows bestimmt scheint und in der die Geschwindigkeit der Datenübertragung zum Maßstab für politische Entscheidungen zu werden droht.

Umso wichtiger sind Orte und Gelegenheiten, die die Chance bieten, innezuhalten und sich dem Diktat des ' hier und jetzt ' zu entziehen.

III. Das politische Geschehen in unserem Land ist seit Wochen, ja Monaten von fast täglichen Enthüllungen und Krisenmeldungen bestimmt.

Je länger diese Situation sich hinzieht, je größer die Abgründe sind, die sich auftun, desto größer wird die Gefahr, dass manche Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich am Funktionieren unserer Parteiendemokratie zweifeln.

Wenn die Politik Vertrauen zurückgewinnen will, muss sie beweisen, dass sie zu Reformen fähig ist, wo diese nötig sind.

Nur so können wir verhindern, dass politische Rattenfänger Gehör finden, die für alles eine Antwort haben und für nichts eine Lösung.

Ich bin zuversichtlich, dass uns das gelingen kann und wird. Unsere Demokratie ist gefestigt und hat ausreichend Selbstreinigungskräfte.

Die politischen Stiftungen können dabei wertvolle Hilfe leisten.

IV. Wie sah es in Deutschland aus, als die Ebert-Stiftung vor 75 Jahren gegründet wurde?

Und doch wissen wir heute, dass die junge Demokratie auf tönernen Füssen stand. Friedrich Ebert wusste das. Erhat es selber leidvoll erfahren müssen.

Wie wenige andere Politiker hat er versucht, das zerrissene und traumatisierte Land durch Ausgleich und Kompromiss zusammenzuführen. Er hatte klare und feste Überzeugungen und verfocht eine Politik mit Augenmaß.

Auch in den turbulenten Tagen des Jahreswechsel 1918/1919 hielt Ebert an seinen demokratischen Grundüberzeugungen fest. Bei der Eröffnung des allgemeinen Kongresses der Arbeiter- und Soldatenräte in Berlin sagte er am 16. Dezember 1918: ... Auf die Dauer kann es in Deutschland nur eine Rechtsquelle geben: Das ist der Wille des ganzen deutschen Volkes...

Das siegreiche Proletariat richtet keine Klassenherrschaft auf, es überwindet zunächst politisch, dann wirtschaftlich die alte Klassenherrschaft und stellt die Gleichheit alles dessen her, was Menschenantlitz trägt. Das ist der große ideale Gedanke der Demokratie."

Aber genau dieses Bemühen um Integration und Ausgleich wurde ihm vorgeworfen. Die Rechte verhöhnte seine Überzeugungen, die radikale Linke seinen Pragmatismus.

Die Angriffe waren töricht, ungerecht und politisch durchsichtig, aber sie hatten Wirkung.

V. Der Novemberrevolution von 1918 ist gelegentlich vorgeworfen worden, sie habe die große Chance zum geschichtlichen Umbruch verpasst.

Es gibt durchaus Anlass zu Kritik, auch am Verhalten der SPD, die den andauernden Machtanspruch der alten gesellschaftlichen Kräfte offenbar unterschätzt hat.

Man darf aber aus zeitlicher Distanz auch die Möglichkeiten jener Tage und Wochen und die Mittel, die zur Verfügung standen, nicht überschätzen.

Berechtigte Kritik darf auch die tatsächliche Radikalität des Umbruches nicht überdecken: Schon die Person Friedrich Eberts ist ein Symbol für eine revolutionäre Veränderung: Ein Sattlergeselle und Sozialdemokrat an der Spitze des Staates.

Auch die Verfassung ging teils radikal neue Wege. Es hat nicht gemangelt an guten Voraussetzungen, eine funktionierende Demokratie zu errichten.

Nein, das Scheitern der Weimarer Republik war nicht in ihrer Gründung angelegt. Und auch ihre Feinde hätten es allein nicht vermocht, sie zu ruinieren.

Gemangelt hat es ihr stets an Freunden. Der Aufbruch zu Demokratie und Selbstbestimmung hat die Herzen der Menschen nicht erreicht.

Verachtung und Gleichgültigkeit gegenüber der Demokratie speisten sich nicht nur aus dumpfer Tradition und falscher Utopie, sondern auch aus praktischen Erfahrungen.

Woher sollte die Begeisterung für einen Staat kommen, an dessen Anfang eine ruinierte Wirtschaft, eine demoralisierte Bevölkerung und ein in jeder Hinsicht unkluger Friedensvertrag standen?

Friedrich Ebert hielt die Friedensbedingungen "für unerfüllbar, unerträglich und unannehmbar".

Aber er wusste, was möglich war und darum sprach er die schrecklichen Folgen einer Vertragsverweigerung deutlich aus: Ohne innere Ordnung keine Arbeit! Ohne Arbeit keine Vertragserfüllung! Ohne Vertragserfüllung kein Friede, sondern Wiederaufnahme des Krieges! "

Die astronomischen Reparationsforderungen und ihre rigorose Durchsetzung haben die junge deutsche Republik nicht nur wirtschaftlich in die Krise getrieben und unzählige Vermögen vernichtet.

Existenzielle Not und Verzweiflung als Folge der Weltwirtschaftskrise trieben den Gegnern der Demokratie viele Männer und Frauen in die Arme.

VI. Die Fehler von Versailles und ihr Beitrag zum Scheitern der Weimarer Republik sind erkannt und nach 1945 nicht wiederholt worden.

Die Sieger des Zweiten Weltkrieges wussten, dass die Menschen in Deutschland nicht nur innerlich aus den Klauen des Nationalsozialismus befreit werden mussten.

Sie mussten auch frei werden von wirtschaftlicher Not, um Vertrauen zu fassen und den demokratischen Neubeginn aktiv mitzugestalten.

Die Unterstützung durch den Marshallplan war daher mehr als eine großzügige humanitäre Geste. Sie war eine Entscheidung von großer politischer Weitsicht.

So wenig Glück die Deutschen mit ihrer ersten Republik hatten, so viel Glück hatten wir und ganz Westeuropa mit dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg.

Diesseits des eisernen Vorhangs konnten wir seit fünfzig Jahren Freiheit, Demokratie, Wohlstand und sozialen Ausgleich haben und zum großen Teil genießen.

Den Mittel- und Osteuropäern wurden diese großen zivilisatorischen Errungenschaften vierzig Jahre lang vorenthalten. Jetzt sind sie auf gutem Weg, selber in Gesellschaft und Wirtschaft Strukturen zu schaffen, die den Menschen günstige Zukunftsperspektiven bieten.

VII. Ich möchte IhreAnwesenheit, verehrter, lieber Präsident Göncz, zum Anlass nehmen, einige Bemerkungen zur geplanten Erweiterung der Europäischen Union nach Osten zu machen.

Die europäische Einigung und die Erweiterung der Union über Westeuropa hinaus schien lange Zeit ganz selbstverständlich zu sein. Vieles ist aber in jüngster Zeit in die Kritik geraten.

In vielen Mitgliedsländern haben die Menschen Vorbehalte, die Union könne die Erweiterung nicht verkraften. Auch bei uns in Deutschland gibt es kritische Fragen:

Auch wenn manche Kritik billig und ohne Substanz ist: Wir müssen die Fragen und Sorgen ernst nehmen und sie ausräumen.

Kurzfristig wird die Erweiterung selbstverständlich allen Beteiligten Kosten verursachen. Langfristig bedeutet sie aber auch für die heutigen Mitglieder der Europäischen Union einen Gewinn - und zwar in vielfacher Hinsicht.

Erstens haben wir großes Interesses daran, unsere bewährte Gemeinschaft des Friedens und der Sicherheit auch nach Mittel- und Osteuropa auszudehnen. Dafür müssen wir etwas tun. Václav Havel hat recht, wenn er sagt: "Entweder der Westen stabilisiert den Osten, oder der Osten destabilisiert den Westen." Das ist keine Drohung, das ist eine Tatsachenfeststellung.

Die Erweiterung ist ein wichtiger Motor für den Reformprozess in den Ländern Mittel- und Osteuropas. Demokratie und Menschenrechte auch in diesen Ländern - das gibt Europa ein ganz neues Gesicht.

Zweitens können wir uns keine Armutsgrenze in Europa leisten. Sie würde einen Einwanderungsdruck nach Westen auslösen, dem wir nicht standhalten und den wir auch nicht bewältigen könnten.

Ich darf noch einmal Václav Havel zitieren: "Es kann nicht auf Dauer in der einen Hälfte des Zimmers warm sein, wenn es in der anderen kalt ist."

Darum müssen die Menschen Arbeit und gutes Einkommen dort finden können, wo sie zuhause sind.

Und es gibt bereits gute Nachrichten. Einige Beispiele:

Wir können - drittens - auch von der Angebotsseite aus Mittel- und Osteuropa noch wichtige Impulse erwarten.

Manche dringend notwendige Innovation findet erst unter dem Druck der Konkurrenz aus den künftigen Beitrittsländern statt. Die Öffnung der Märkte bringt für alle Seiten mehr Wohlstand, als Abschottung und Protektionismus das täten.

Die Annäherung der Beitrittsländer an die Europäische Union hat weitere positive Konsequenzen:

Beides fördert das Wirtschaftswachstum in den Beitrittsländern und in den Mitgliedsstaaten. Hier wie dort sichert und schafft es Arbeitsplätze.

Den globalen Herausforderungen können wir nur durch größere Wirtschaftsräume und durch Frieden und Stabilität in Europa gerecht werden.

Ein vierter Punkt ist mir besonders wichtig: die Erweiterung nach Osten ist ein Motor für die überfällige Reform der Union selber und ihrer Institutionen. Mit ihrer Selbstverpflichtung von Helsinki zwingen die Mitgliedsländer sich auch dazu, das Gemeinschaftsinteresse nationalen Egoismen voranzustellen und alte Zöpfe abzuschneiden.

Die anstehende Reform kann die Union ihren Bürgern näher bringen. Die Gemeinschaft sollte nur das regeln, was wirklich geregelt werden muss und nur das entscheiden, was auf europäischer Ebene entschieden werden muss. So steht es auch im Maastricht-Vertrag. Nichts anderes ist mit dem Wort "Subsidiarität" gemeint.

Und ich füge in Parenthese hinzu, dass einen Preis verdient, wer ein treffendes deutsches Wort für diesen distanzschaffenden Begriff "Subsidiarität" findet.

Der Erfolg des europäischen Einigungsprozesses hängt natürlich ganz entscheidend von der Bereitschaft und von der Fähigkeit der Beitrittskandidaten ab, die notwendigen Bedingungen für die Aufnahme in die Europäische Union zu erfüllen. Das wird noch ein schwieriger Weg. Aber an Beweisen für die Bereitschaft und Fähigkeit fehlt es schon heute nicht.

Ich denke an Ungarns vorbildlichen Umgang mit seinen Minderheiten, an die entsprechenden Anstrengungen der baltischen Staaten oder an Sloweniens Bereitschaft, seine Verfassung zu ändern, um der Europäischen Union beitreten zu können.

VIII. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen historischen Erfahrungen wollen die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union die Transformationsprozesse in Mittel- und Osteuropa wirtschaftlich und finanziell begleiten. Das stärkt auch Demokratie und Rechtsstaat in diesen Ländern.

Unmittelbar, direkt und ganz praktisch können in diesem Bereich die politischen Stiftungen wirken.

Das Engagement der Stiftungen ist aus dem Aufbau demokratischer Einrichtungen heute nicht mehr wegzudenken.

Sie haben ein Vertrauenskapital geschaffen, das Toleranz und verantwortungsvolle Zusammenarbeit auch zwischen politischen Gegnern fördert. Das ist ein wertvoller Grundstock für die jungen Demokratien.

Das gilt für Mittel- und Osteuropa. Das gilt aber auch für die Arbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung auch in Südafrika, in den neuen Demokratien in Lateinamerika.

Das gilt genauso für die grundlegenden Veränderungen in den 70iger Jahren in Südeuropa.

In Spanien und Portugal hat die Friedrich-Ebert-Stiftung nach dem Zusammenbruch der Diktaturen vorbildliche solidarische Hilfe geleistet.

Die Stiftung kann noch heute stolz darauf sein, dass die Sozialistische Partei Portugals mit Mario Soares an der Spitze in Bad Münstereifel 1973 in einer Einrichtung der Friedrich-Ebert-Stiftung gegründet worden ist. Auch zur Wiederherstellung der Demokratie in Chile hat die Hilfe deutscher Stiftungen maßgeblich beigetragen.

IX. Heute stehen wir vor neuen Herausforderungen:

Ja, Globalisierung kann Fortschritt und Arbeitsteilung, bessere Nutzung von Ressourcen und mehr Wohlstand bedeuten.

Aber Träume und Hoffnungen der Menschen lassen sich mit den Gesetzen unbeschränkten Wettbewerbs nicht erfüllen. Arbeitslosigkeit, Armut und Hunger lassen sich mit Hilfe schrankenloser Marktkräfte nicht bekämpfen.

Wir brauchen die Haken und Ösen des solidarischen Zusammenhalts, sonst reißt das Gewebe unserer Gesellschaften.

Ihre Tagung widmet sich diesen Fragen der "Demokratie im Zeitalter der Globalisierung". Auch die politischen Stiftungen stehen vor neuen Aufgaben. Dafür wünsche ich der Friedrich-Ebert-Stiftung das gleiche Engagement und den gleichen Erfolg, die sie in den zurückliegenden siebeneinhalb Jahrzehnten ausgezeichnet haben.