Redner(in): Johannes Rau
Datum: 11. Juni 2000

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2000/06/20000611_Rede.html


Ich freue mich ganz besonders darüber, heute zum zweiten Mal in so kurzer Zeit eines der bedeutenden Aachener Jubiläen dieses Jahres mit den Aachenern und ihren Gästen feiern zu dürfen.

Vor einer guten Woche war ich mit dem amerikanischen Präsidenten hier, als er den Karlspreis erhielt, der vor fünfzig Jahren zum ersten Mal verliehen wurde. Das ist ein schönes rundes Jubiläum für eine Ehrung, deren Ziel? die Einigung Westeuropas? anfangs eher eine Utopie zu sein schien.

Ein fünfzigster ist aber ein recht junger Jahrestag, wenn man ihn mit den beiden Jubiläen vergleicht, die wir heute hier begehen: das der Krönung Karls des Großen zum römischen Kaiser und das der Errichtung des Doms vor 1200 Jahren. Jedes dieser Jubiläen ist Grund genug zu feiern, und das haben Sie seit Januar hier in Aachen ja auch ausgiebig getan - und werden das hoffentlich auch weiterhin tun.

Nun sind Jubiläen - das wissen die Älteren unter uns aus eigener Erfahrung - nicht nur Gründe zum Feiern. Sie sind auch Anlässe zum Nachdenken, und beide Vorredner haben das deutlich gemacht. Jubiläen sind Schwellen zwischen der Vergangenheit und der Zukunft: Schwellen, die uns dazu bringen, inne zu halten; zurückzuschauen auf das, was geschah, zu bedenken, was davon gut und was nicht so gut war.

Dies Be-Denken des Vergangenen muss nicht allein rückwärts gerichtet bleiben. Vielmehr kann und soll es uns auch dazu ermutigen, den Blick von der Vergangenheit wieder in die Zukunft zu richten und, wenn nötig, Korrekturen vorzunehmen oder gar neue Ziele abzustecken. Jubiläen sind zwar Schwellen, aber keine Hemm-Schwellen: Sie trennen zwar Vergangenheit und Zukunft, schaffen zugleich aber auch eine Verbindung.

Ich habe die Ausstellung, die wir heute hier eröffnen, besonders gern unter meine Schirmherrschaft gestellt, weil sie den Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu ihrem entscheidenden Thema macht. Sie betreibt nicht einfach Rückschau auf vergangenen Glanz. Die gibt es natürlich auch. Aber es gibt nicht bloße Nostalgie.

Die Ausstellung macht die europäische Dimension der Aachener Krönungen ganz bewusst zu ihrem Thema. Sie lenkt dadurch unseren Blick zugleich auf die Wurzeln des heutigen Europa. Ich bin kein Historiker, ich kann und will Ihnen auch keinen historischen Vortrag halten. Das wird gewiss gleich Professor Fuhrmann tun, von dem wir wissen, dass er zu den bedeutendsten Kapazitäten auf diesem Feld gehört.

Ich möchte statt dessen einige Gedanken mit Ihnen teilen, die mir in den Sinn kommen, wenn ich auf Karl den Großen und auf seine Nachfolger blicke, wenn ich mir überlege, was die Geschichte ihrer Krönungen uns heute, kurz nach dem so gewaltsamen 20. Jahrhundert, über die Wurzeln Europas sagen kann.

Betrachten wir für einen Augenblick die Krönung des fränkischen Königs Karl zum römischen Kaiser durch den Papst in Rom: Diese Krönung war, wenn ich es richtig sehe, in gewisser Weise die Anerkennung von Karls politischem Wirken und zugleich die seines politischen Traums: Er wollte das untergegangene christlich-weströmische Kaiserreich der Spätantike wieder auferstehen lassen.

Das war ihm auch auf bemerkenswerte Weise gelungen: Als er gekrönt wurde, umfasste Karls Reich den größten Teil des heutigen Westeuropa: Frankreich, Belgien, die Niederlande, die Schweiz und große Teile Deutschlands und Italiens. Im Osten des Reichs hatte er die Christianisierung weiter vorangetrieben, wie auch immer. Im Südwesten hatte er einen Teil Spaniens in den christlichen Herrschaftsbereich zurückgebracht.

Die "karolingische Renaissance" war ein bescheidener, aber ein bedeutender Versuch, an das kulturelle Niveau der Spätantike anzuknüpfen. Man kann gut verstehen, warum Zeitgenossen Karl nach dem allgemeinen politischen und kulturellen Niedergang der vorhergehenden Jahrhunderte als "Vater Europas" - "pater Europae" - bezeichneten.

Europa hatte gleichwohl mehrere Väter? und natürlich auch Mütter: Hier in Aachen wurden ja auch Königinnen gekrönt, wie uns diese Ausstellung zeigt. Karls Krönung erinnert uns auch daran, dass es damals bereits einen römischen Kaiser gab: den oströmischen, den Herrscher über das byzantinische Reich, Michael I. Er erkannte Karl als Kaiser an? in einem Vertrag, der hier in Aachen geschlossen wurde. Wichtige Voraussetzungen dafür waren Karls Krönung durch den Papst und seine Bereitschaft, dem byzantinischen Herrscher Land abzutreten.

Das lenkt unseren Blick darauf, dass es das oströmische, das byzantinische Reich war, in dem die Kontinuität des römischen Reichs bis ins 15. Jahrhundert hinein ungebrochen fortbestand. Seinem Glauben nach war es christlich, kulturell und sprachlich stand es in griechischer Tradition. Es hatte immensen Einfluss auf die Christianisierung der Völker Osteuropas, der slawischen und der nicht-slawischen.

Dass wir die oströmischen Wurzeln Europas so lange vergessen haben, liegt wohl nicht nur am Untergang des byzantinischen Reichs im 15. Jahrhundert. Es liegt auch an der politisch-ideologischen Spaltung Europas im vergangenen Jahrhundert. Sie hat dazu geführt, dass wir neben den oströmischen auch seine slawischen Wurzeln vergessen haben, obwohl auch diese beiden christlich geprägt waren. Das dritte bedeutende europäische Machtzentrum in der Zeit, um die es in dieser Ausstellung geht, war ja das christlich-slawische Reich von Kiew.

Es gab noch einen anderen Erben der Antike und zugleich Vater Europas, an den uns die Kaiserkrönung Karls erinnert. Zu Karls Reich gehörte damals ja nur ein kleiner Teil Spaniens. Der größte Teil stand lange unter arabischer Herrschaft. Auch Sizilien gehörte lange zur dritten Großmacht im Mittelmeerraum, dem arabischen Reich. Es gehörte dem Islam an, sah sich aber kulturell ebenfalls als Erben der Antike.

Die arabisch-islamische Kultur gehört nicht nur deshalb zu den Wurzeln des heutigen Europa, weil Teile Europas lange Zeit unter arabischer oder später ottomanischer Herrschaft gestanden haben. Die Schriften des großen Griechen Aristoteles haben seit dem 13. Jahrhundert die westeuropäische Kultur wieder nachhaltig geprägt. Diese Schriften waren viele Jahrhunderte in Westeuropa vergessen und allein in arabischen Übersetzungen überliefert. Sie kamen durch arabische und durch jüdische Gelehrte über Spanien erst im 12. Jahrhundert wieder nach Westeuropa.

Das war nur möglich, weil die vielen unterschiedlichen europäischen Kulturen jener Zeit - und die jüdische gehört dazu - zwar oft in Konflikte verwickelt waren, gleichzeitig aber in regem wirtschaftlichen und kulturellen Austausch miteinander standen.

Karl der Große unterhielt diplomatische Beziehungen zum byzantinischen wie zum arabischen Reich, und Friedrich II. von Hohenstaufen sprach fließend arabisch und korrespondierte mit den besten arabischen Gelehrten seiner Zeit.

All das zeigt uns: Wir haben guten Grund, uns an die Vielfalt der Wurzeln Europas zu erinnern. Die sind lange Zeit in Vergessenheit geraten, weil gegenwartsorientierte Interessen uns dazu verleitet haben, die Wurzeln Europas einseitig im lateinisch-christlichen Mittelalter zu suchen.

Diese Einseitigkeit zu überwinden, das könnte ein wichtiger Beitrag zu einer zukunftsorientierten Vorstellung von Europa sein, zu einer Vorstellung, die nicht voraussetzt, dass viele seiner gegenwärtigen oder potentiellen zukünftigen Mitglieder einen Teil ihrer jeweiligen Geschichte vergessen oder verleugnen müssen; zu einer Vorstellung, die sie nicht dazu zwänge, im nachhinein die Geschichte des lateinisch-christlichen Mittelalters als die eigene Geschichte umzudeuten.

Europa kann in meinen Augen nur dann gelingen, wenn wir nicht das spaltende "eureoderunsere Kultur", sondern das versöhnende "eureundunsere Kultur" zu seiner Grundlage machen, wenn wir in seiner Vielfalt keine Gefahr, sondern die Grundlage seiner Einheit sehen. Der Erfolg eines zusammenwachsenden Europa wird davon abhängen, ob wir ein starkes Zentrum haben, das angelegt ist auf Erweiterung, nicht auf Abschottung.

Ich habe kürzlich in anderem Zusammenhang davon gesprochen, dass in einer multikulturellen Gesellschaft wie der deutschen ethnische Minderheiten die deutsche Sprache lernen müssen? im eigenen und in unser aller Interesse. In einem zusammenwachsenden Europa müssen wir Deutschen auch bereit sein, andere Sprachen als unsere eigene zu lernen. Die Ausstellung, die heute hier eröffnet wird, zeigt uns dafür genügend Vorbilder.