Redner(in): Johannes Rau
Datum: 14. Juli 2000
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2000/07/20000714_Rede.html
I. Deutschland hat den dritthöchsten Ausbildungsstand der Welt: 84 % unserer Bürgerinnen und Bürger haben Abitur oder eine abgeschlossene Berufsausbildung.
In den vergangenen zehn Jahren haben wir in Deutschland zwei Bildungssysteme insgesamt sehr erfolgreich zusammengeführt.
Wir haben engagierte Lehrerinnen und Lehrer. Wir haben kompetente Ausbilderinnen und Ausbilder. Und wir haben eine lernbereite, motivierte Jugend.
Trotzdem sind Begriffe wie "Bildungsreform" und "Bildungsoffensive" in aller Munde. Gelegentlich habe ich den Eindruck, manche wollten das Rad neu erfinden. Das brauchen wir nicht. Ich glaube aber, dass wir Reformen brauchen, Reformen, die viel tiefer gehen müssen, als mancher das vermutet.
Ich will das mit einigen Zahlen deutlich machen:
Jede dieser Zahlen muss uns aufrütteln. Jede macht uns deutlich: Wir können nicht einfach so weitermachen wie bisher. Das gilt vor allem, weil sich in Beruf und Alltag so vieles so schnell verändert. Die alte Volksweisheit "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr" erhält angesichts des rasanten Wandels eine ganz neue Bedeutung Heute könnte man sagen: "Hänschen muss lernen, damit Hans weiterlernen kann."
Niemand kann heute genau voraussagen, wie viele Frauen und Männer in zehn oder zwanzig Jahren in welchen Berufen arbeiten werden und welche Befähigungen sie dafür brauchen. Wir wissen aber: Die Anforderungen an die Beschäftigten nehmen kontinuierlich zu, und zwar überall.
Die Bildungspolitik steht deswegen vor einer außerordentlichen, doppelten Herausforderung:
Unser demokratischer Staat muss beide Aufgaben gleichermaßen erfüllen:
Er muss die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sich gesellschaftliche Dynamik entfalten kann und er muss zugleich das Tempo der Veränderungen so beeinflussen, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt, dass die Integrationskraft der Gesellschaft nicht überfordert werden.
II. Bildung zu erwerben ist für die heute nachwachsende Generation sehr viel schwieriger als für frühere Generationen: Die Veränderungen gehen schneller vor sich und sind so umfassend, dass die jeweils "lehrende" Generation ihnen selbst kaum noch folgen kann, sie meist nur unvollkommen versteht, sie nur mit Mühe lernt. Die ältere Generation verfügt nicht mehr, wie sie früher den Jungen gegenüber behauptet hat, über ihre Welt. Und ein großer Teil der jungen Generation hat außerdem das Gefühl, überflüssig zu sein, nicht gebraucht zu werden.
Ich glaube aber, dass sich bei allen Veränderungen die formalen Fähigkeiten und auch das Basiswissen, das man braucht, nicht so schnell wandeln, wie immer wieder gesagt wird. Es gibt auch in Zukunft einen Grundbestand an Wissen, der zum Denken und Verstehen, zum Urteilen und Begründen befähigt. Dazu braucht man nicht den Unterrichtsstoff zu vermehren, man muss lediglich stärker differenzieren. Das ist auch keine Frage der Länge der Unterrichtszeit, sondern der Übung in Konzentration, Ausdauer und Entspannung.
Wir brauchen eine neue Bildungsreform, die sich nicht darauf beschränkt, Erkenntnisse der Organisationslehre und der Betriebswirtschaft auf Schulen und Hochschulen zu übertragen.
Da gibt es gewiss manches zu lernen und neu zu ordnen. Aber so wichtig Organisation, Aufbau und Abläufe sind: Sie dürfen uns nicht den Blick darauf verstellen, dass Bildung kein "Gebiet" und keine politische Zuständigkeit ist wie viele andere.
Wir sollten deshalb Bildung wieder stärker ganzheitlich verstehen. In der Bildung vergewissern wir uns unserer selbst und finden unsere Identität. Bildung ist, wie jede Kultur, die menschliche Form der Weltaneignung und zugleich ihr Ergebnis. Zur Bildung gehören die Vorstellungen und Einstellungen, die Fähigkeiten, die Kenntnisse und die Gewohnheiten, die es dem Menschen ermöglichen, die Welt selbstbestimmt und verantwortlich zu gestalten.
Dafür brauchen wir neuen Schwung und neue Ideen für Schulen und Hochschulen.
Dafür brauchen wir neue gesellschaftliche Prioritäten, die sich auch in den öffentlichen Haushalten niederschlagen müssen.
Es stimmt: Wir geben schon heute viel Geld für unsere Bildungseinrichtungen aus. Gewiss gibt es auch viele Möglichkeiten, das Geld dort noch sinnvoller und effektiver zu verwenden.
Aber es hilft nicht, darum herum zu reden: Die öffentlichen Ausgaben für Bildung und Wissenschaft sind geringer, als wir uns das leisten können.
Schüler, Auszubildende und Studierende sind ja nicht teure Kostgänger des Staates. Bildung und Wissenschaft sind die beste und wichtigste Investition in unsere Zukunft - in die Zukunft jedes einzelnen Bürgers, in die Zukunft unserer ganzen Gesellschaft.
III. Für eine neue Bildungsreform müssen wir die Erfahrungen, die Anregungen und Ideen derjenigen nutzen, die in unseren Bildungseinrichtungen arbeiten, als Lehrende und Lernende.
Erfolgreich kann diese neue Bildungsreform freilich nur sein, wenn sie das Projekt der ganzen Gesellschaft wird. Wir brauchen die Aufmerksamkeit, wir brauchen das Verständnis und wir brauchen die Zustimmung möglichst vieler Menschen. Diese Zustimmung wird umso größer sein, je überzeugender und dauerhafter die Reform gelingt. Was heute reformiert wird, darf nicht morgen schon wieder nachgebessert werden müssen. Die Schule taugt nicht als permanentes Experimentierfeld.
Wir stehen nicht zum ersten Mal vor der Aufgabe, uns über eine Bildungsreform verständigen zu müssen. Mitte der sechziger Jahre ging es vor allem um quantitative Fragen und um die Ausschöpfung von Bildungsreserven. Heute geht es eher um qualitative Fragen. EinZiel aber bleibt gleich: die Begabungen aller erfolgreich zu fordern und zu fördern.
Dazu müssen wir fragen:
IV. Die Anforderungen des Arbeitsmarktes sind heute anders als vor dreißig Jahren und oft auch höher. Dennoch: Wir dürfen Bildung nicht darauf beschränken, junge Menschen auf den Beruf und für den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Wer ausschließlich vom "Bedarf" her denkt, hat schon verfehlt, was mit Bildung eigentlich gemeint ist.
Ziel der Bildung ist nicht zuerst die Befähigung zum Geldverdienen. Bildung schielt und zielt nicht auf Reichtum. Aber sie ist ein guter Schutz vor Armut. Vielleicht sogar der wirksamste.
Bildung ist auch etwas anderes als Wissen. Wissen lässt sich büffeln, aber Begreifen braucht Zeit und Erfahrung.
Was hülfen uns denn Wissensriesen, wenn sie die Gemüter von Zwergen hätten? So hat Hubert Markl, der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, einmal zu Recht gefragt.
Ich beobachte eine Ungeduld, die schnell nach den Früchten der Bildung fragt, ohne zu bedenken, dass eine gute Frucht auch eine Zeit der Reife und eine gute Blüte braucht.
Natürlich kann es nicht darum gehen, jedem Studenten das Prädikat "Spätlese" zu verleihen. Das wäre genauso falsch. Aber ich glaube auch nicht, dass sich die Funktion von Schulen und Universitäten darin erschöpfen darf, Boxenstopp für Blitzkarrieren zu sein.
Selbständig und frei denken zu lernen: darum geht es nach wie vor.
Wer nicht denken gelernt hat, der kann diesen Mangel durch noch so viele Informationen nicht ersetzen, auch nicht durch modernste technische Hilfsmittel.
Denken und Verstehen: das hat zu tun mit dem ganzen Menschen, mit Leib und Seele, mit Herz und Verstand.
Denken und Verstehen: das hat zu tun mit analytischen Fähigkeiten und Phantasie, mit Einfühlungsvermögen und mit der Fähigkeit, sich neue Welten zu erschließen.
Denken und Verstehen: das bedeutet, Orientierung suchen, Orientierung haben und Orientierung geben zu können in einer Welt, die uns mit immer neuen und immer mehr Einfällen, Eindrücken und Einsichten überhäuft.
Die drei bleibenden Ziele von Bildung sind:
Sie stehen nicht unverbunden nebeneinander.
Im Gegenteil:
Die Herausforderungen des technischen und sozialen Wandels führen dazu, dass sich diese drei Hauptziele immer stärker gegenseitig bedingen und wechselseitig ergänzen.
Wir wissen, dass auch für den Erfolg im Beruf die Persönlichkeit und die Gemeinschaftsfähigkeit eine weit größere Rolle spielen, als wir das lange Zeit glauben wollten. Wir brauchen Menschen, die nicht nur darauf aus sind, die eigene Persönlichkeit zu entfalten und zu verwirklichen, sondern die bereit und in der Lage sind, Verantwortung für andere zu übernehmen.
V. Wer wollte bestreiten, dass sich im immer schnelleren Zuwachs an Wissen und Erkenntnis großartige Möglichkeiten persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritts auftun?
Aber es gibt auch eine Kehrseite der Medaille: Das Wissen ist wegen seiner Fülle, wegen seiner dynamischen Entwicklung, wegen seiner Differenzierung und Spezialisierung immer schwerer zu erschließen. Das ist für viele Menschen eine Belastung, vor allem für Ältere. Die Fähigkeit, schnell Wissen parat zu haben, entscheidet immer mehr über persönliche Chancen und im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wettbewerb.
Wer sich im vorhandenem Wissen richtig orientieren kann, wer Informationen richtig auszuwählen versteht, kann selbständig handeln. Wer in der Wissensflut und in den Scheinwelten des Informationsüberflusses versinkt, ist ohnmächtig. Neben solidem Fachwissen werden daher Fähigkeiten wie Eigenverantwortung, Urteilsvermögen und Kreativität immer wichtiger.
Darüber, wie wir in einer demokratischen Gesellschaft, aber auch im Freundeskreis oder in der Familie zusammenleben, entscheiden jene Fähigkeiten, die man gemeinhin als "soziale Kompetenzen" bezeichnet: Teamfähigkeit, Toleranz, die Fähigkeit, Konflikte zu lösen, aber eben auch die Bereitschaft, Verantwortung für andere zu übernehmen.
Solche Schlüsselkompetenzen können Fachwissen nicht ersetzen.
Aber Fachwissen wird erst durch sie fruchtbar.
Deshalb müssen sie in der Bildung ein anderes Gewicht bekommen. Es gilt, soziales und intellektuelles Lernen stärker zusammenführen.
VI. Heute reicht es längst nicht mehr, unseren Kindern in der Schule die klassischen Fertigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Die technologische Entwicklung erfordert zwingend die Kenntnis neuer Kulturtechniken: Nur wer mit den neuen Medien kompetent und kritisch umgehen kann, kann auch das richtige Wissen finden, auswählen und anwenden.
Wer den Umgang mit diesen Techniken beherrscht, hat ungleich bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Wo jedoch kein Zugang zu neuen Medien besteht oder wo die Fähigkeit zum Umgang mit ihnen nicht vermittelt wird, kann Ungleichheit entstehen oder verstärkt werden.
Darum freue ich mich über die großen gemeinsamen Anstrengungen, die der Staat und die Wirtschaft unternehmen, um alle Schulen mit Computern und Internetanschluss auszustatten und die Lehrerinnen und Lehrer entsprechend fortzubilden.
Wenn es um Computer geht, sind die Jugendlichen den Erwachsenen heute allerdings meist weit voraus. Oft kehrt sich das Verhältnis von Lernenden und Lehrenden sogar um. Was aber als Befreiung von erwachsener Bevormundung erscheint, kann auch Belastung werden. Sehr schnell sind gerade junge Menschen leicht Objekte ihrer Computer, vielleicht sogar, ohne dass sie selbst oder Erwachsene das merken.
Der Computer ist ein wunderbarer und intelligenter Knecht, aber er ersetzt nicht menschliche Begegnungen oder Lebenserfahrung.
Gute Pädagogik muss verhindern, dass der Bildschirm die Wirklichkeit ersetzt. Der ' intelligente Knecht ' darf nicht bestimmen, was gefragt und wie gelernt wird, er darf sich nicht zum Herrn aufschwingen.
VII. Europa rückt zusammen und viele Menschen suchen weltweit nach Angeboten und Chancen. Da ist es heutzutage selbstverständlich, dass jeder mindestens eine Fremdsprache versteht und spricht. Ich freue mich darüber, dass die erste Fremdsprache heute schon häufig in der Grundschule unterrichtet wird.
Es kommt aber nicht nur darauf an, Sprachen zu beherrschen: Unsere Jugendlichen müssen vor allem auch neugierig darauf werden, andere Kulturen kennen zu lernen. Begegnung, Reise und Austausch machen das Leben reicher und helfen Vorurteile abzubauen - auch schon in der Schule.
Für junge Gesellen, Facharbeiter, aber auch für Angestellte sollte es nicht weniger selbstverständlich werden als für Studierende, eine längere Zeit in einem anderen Land zu leben und zu arbeiten. Man mag das gegenwärtig noch für unrealistisch halten. Aber denken Sie einmal daran, welch gute Erfahrungen junge Handwerker früher in ihren Wanderjahren gemacht haben!
In einer Gesellschaft, die sich ständig verändert, ist die Fähigkeit mit Wandel umzugehen, Wandel zu nutzen und zu gestalten, eine der wichtigsten. Das setzt bleibende Werte voraus, die es dem einzelnen erlauben, sich persönlich zu orientieren und längerfristige Perspektiven zu entwickeln. Wir sollten wahrnehmen und ernst nehmen, in wie starkem Maße gerade die heranwachsende Generation bei allem Wandel nach bleibenden, beständigen Werten, nach Solidarität, nach Ehrlichkeit, Fairness und Gemeinsinn suchen. Die besten Hilfen bei dieser Suche sind das Gespräch und das eigene, praktische Beispiel.
Zum Wissen und zum Können für morgen gehören auch die Inhalte jener Fächer, die an den Rand zu geraten drohen, wenn wir nur noch nach Nützlichkeit und Verwertbarkeit gehen: Musik, Kunst und Sport. Ich hielte es für einen großen Fehler, sie zu vernachlässigen. In einer Zeit, in der immer mehr Stunden vor dem Bildschirm verbracht werden, ist es besonders wichtig, daran zu erinnern, dass die Schule alle Sinne fordern und fördern soll, dass sie zum Hinhören, zum Hinsehen und zur Bewegung anleitet.
Im Musik- und im Kunstunterricht geht es nicht nur darum, die Geschichte der Formen und Gestaltungen kennen zu lernen und ein Gespür für Qualität zu bekommen. Es geht auch darum, zu lernen, sich nicht nur über das Wort und das Argument mitzuteilen. Die Begegnung mit den Künsten kann verhindern, dass aus Bildung ein trostloses "Fitmachen für..." wird. Erst das "Wohlgefallen ohne alles Interesse", wie Kant es nennt, das jenseits von Funktionalität und Brauchbarkeit steht, macht den Menschen zum Menschen. Eine Schule ohne musische Bildung wäre nicht der menschengemäße Lebensraum, den ich mir wünsche.
Immer mehr Mediziner und Sportlehrer machen darauf aufmerksam, dass vielen Kindern und Jugendlichen einfachste motorische Fähigkeiten fehlen, dass sie zum Teil nicht einmal richtig laufen und werfen können. Vielen gelingt es vor lauter Zappeligkeit nicht, eine normale Schulstunde ruhig durchzuhalten. Im Sportunterricht lernen wir, uns Ziele zu setzen und sie zu erreichen, wir lernen Siegen und Verlieren, und wir begreifen, dass Bewegung und körperliche Anstrengung uns helfen, uns besser zu konzentrieren.
Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der nicht nur die Karriere zählt, sondern die auch Raum lässt und Raum schafft für Phantasie und Kreativität, für Sportlichkeit und Fairness und ich wünsche mir Schulen, die Kinder auf diesem Wege unterstützen und ermutigen.
VIII. Am wichtigsten scheint mir, dass sich alle nach ihren Fähigkeiten entwickeln können. Das sind wir jedem Einzelnen schuldig, und darauf sind wir als Gesellschaft angewiesen. Hüten wir uns vor falschen Alternativen. Bildung heißt: Benachteiligung vermeiden, es heißt aber auch, Begabung, ja auch Höchstbegabung, rechtzeitig zu erkennen und zu fördern. Das sind Ziele, die nicht gegeneinander stehen. Darum dürfen wir sie auch nicht gegeneinander ausspielen.
Wir sollten uns selbstkritisch fragen, ob in unserem Land nicht neue Ideen und mehr Geld besonders da investiert werden müssen, wo früh wichtige Weichen für die Chancen unserer Kinder gestellt werden, nämlich im Kindergarten und in der Grundschule.
Die Grundschule ist, wie der Kindergarten, ein Ort des sozialen Lernens. Sie muss aber auch den Einzelnen gemäß seiner Begabung und Leistungsfähigkeit fördern. Dem Grundsatz der frühen individuellen Förderung widerspricht es, dass Deutschland für Schüler der Klassen 1 bis 6 erheblich weniger Geld ausgibt als zum Beispiel Japan, Österreich oder Dänemark. Ein ganze Reihe von Ländern wendet mindestens 50 Prozent mehr pro Schüler auf, als wir das tun. Der Entwicklungserfolg der sogenannten Schwellenländer ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass dort im Grundschulbereich umfassend und gezielt investiert worden ist.
Was sollten wir von unseren Schulen auch in Zukunft erwarten?
Die Schulen müssen
Ich wünsche mir, dass alle die Chance haben, eine solche Schule zu besuchen.
Manche glauben, was mühsam und anstrengend ist, könne oder dürfe keine Freude und erst recht keinen Spaß machen.
Ich kann nicht verstehen, dass gelegentlich vor einer Spaßschule gewarnt wird.
Ich halte das für ein Missverständnis. Natürlich: Junge Menschen müssen auch in der Schule gefordert werden. Sie müssen etwas leisten - für sich und für andere. Aber Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit gedeihen am besten in Schulen, in denen das Lernen auch Freude macht. Die beste Schule ist doch die, die auch für das weitere Leben Spaß am Lernen vermittelt.
Ein besonders ärgerlicher Zustand an unseren Schulen, den vor allem viele Eltern zu Recht beklagen, ist, dass Unterricht allzu häufig ausfällt. Manche Schüler verlieren bis zu einem Jahr.
Ich habe Verständnis für alle, die sich dagegen wehren und freue mich, dass viele sich bemühen, Abhilfe zu schaffen.
Wenn Bildung, wie wir uns doch einig sind, tatsächlich allerhöchste Priorität hat, dann muss alles getan werden, was gegen den Ausfall von Unterrichtstunden getan werden kann.
IX. Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland beträgt etwa 7,7 % . Das ist immer noch viel zuviel, obwohl es weit unter dem OECD-Durchschnitt von 22 % liegt. Diese vergleichsweise günstige Situation verdanken wir vor allem den Stärken unseres dualen Systems der beruflichen Ausbildung. Für fast zwei Drittel der Jugendlichen ist das nach wie vor der Weg in die Zukunft. Trotzdem meine ich, dass dieses System sich weiter verbessern lässt:
Dass bei uns nur 16 % eines Jahrgangs ein Studium erfolgreichabschließen- in den OECD-Ländern sind es durchschnittlich 23 % - wird bald zu einem großen Problem werden.
Die aktuelle Diskussion über den Mangel an Computerexperten ist nur ein erster Vorbote. Gegenwärtig gibt es in vielen Fächern nicht genügend Studierende, um die Akademiker zu ersetzen, die in den nächsten Jahren aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Zugleich kann man absehen, dass die Nachfrage nach Berufsanfängern mit höheren Qualifikationen rasch ansteigen wird.
X. Aus einer kürzlich vorgestellten Untersuchung wissen wir, dass der Anteil der Hochschulabsolventen an einem Altersjahrgang sich in den vergangenen 20 Jahren kaum verändert hat, obwohl sich der Anteil der Abiturienten seit Anfang der siebziger Jahre mehr als verdoppelt hat. Viele Abiturienten verzichten darauf, zu studieren. Das ist ihr gutes Recht - aber damit bekommen diejenigen Probleme, die ohne Abitur einen Ausbildungsplatz suchen.
Für alarmierend halte ich die große Zahl der Studienabbrecher - und das auch in den Fächern, in denen Unternehmen einen besonderen Absolventenmangel beklagen.
Die Zahlen der Studierenden, die ihren Studiengang abbrechen oder nicht erfolgreich abschließen, sehen an den Universitäten so aus: Im Maschinenbau sind es 40 % , in der Elektrotechnik und in der Physik 50 % , in der Informatik sind es 60 % und in der Mathematik 70 % .
Natürlich gibt es manche Studenten, die ihr Studium abbrechen, weil Unternehmen ihnen ein attraktives Beschäftigungsangebot machen. Natürlich gibt es manche, die feststellen, dass sie sich in ihrer Studienwahl geirrt haben oder dass sie den Anforderungen nicht gewachsen sind oder andere Begabungen haben.
Aber das allein kann diese Zahlen nicht erklären. Es gibt viel zu viele, die bei besserer Beratung, besser strukturierten Studienangeboten und intensiverer fachlicher Betreuung erfolgreich studieren könnten. Um sie müssen sich die Hochschulen stärker kümmern. Die Wissenschaftspolitik muss die Hochschulen dabei unterstützen.
XI. Mädchen und Frauen nehmen heute in gleichem Maße und mit gleichem Erfolg an Bildung teil. Diese Entwicklung wäre ohne den gesellschaftlichen Aufbruch der 60er und 70er Jahre nicht möglich geworden. Trotzdem bleibt die Gleichstellung wichtiges Ziel für alle Bildungsbereiche. Angefangen beim Kindergarten, müssen Bildungseinrichtungen noch stärker einem einseitigen Rollenverständnis entgegenwirken.
An den Hochschulen gibt es heute weit mehr wissenschaftliche Assistentinnen als noch vor zwanzig Jahren. Aber warum wächst der Anteil der Professorinnen nicht entsprechend? Benachteiligungen aufgrund weiblicher Lebensläufe müssen endlich der Vergangenheit angehören. Wir können sicher noch bessere Voraussetzungen dafür schaffen, dass berufliche und private Lebensplanung besser vereinbart werden können.
XII. Lebenslanges Lernen darf nicht auf die klassischen Formen der Weiterbildung beschränkt bleiben. Es muss alle Bildungsbereiche umfassen. Kinder und Jugendliche müssen besser darauf vorbereitet werden, systematisch und eigenverantwortlich ein Leben lang zu lernen.
Dabei müssen wir auch diejenigen erreichen, die die Schule nicht oder nur mit schlechtem Ergebnis abgeschlossen haben, die keinen qualifizierten Berufsabschluss haben. Die Angebote im Bereich des informellen Lernens versprechen hier neue Möglichkeiten.
Wir müssen verhindern, dass ein Bildungsproletariat entsteht, das den sozialen Anschluss verliert. Wer Schule oder Berufsausbildung nicht abgeschlossen hat, hat es heute noch viel schwerer als früher, Arbeit zu finden. Es ist eine ganz wichtige Aufgabe der Bildungspolitik, sozialer Ausgrenzung entgegenzuwirken. Dabei geht es nicht nur um den Lebensweg und das Lebensglück des Einzelnen, es geht auch um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Das ist der Anspruch, dem wir uns stellen müssen.
Besonders schwer haben es junge Ausländer. Häufig bleiben gerade sie ohne Schul- und Berufsabschluss. Hier brauchen wir eine gezielte Förderung.
Zeigen wir, was unsere Zukunft uns wert ist.
Es geht um jeden einzelnen Menschen, um seine Chancen und um die Entwicklung seiner Persönlichkeit, es geht um die Gesellschaft, die nicht auseinanderfallen darf in Bildungsbesitzer und Bildungsverlierer, und es geht darum, die großartigen Möglichkeiten zu nutzen, die uns die Gegenwart bereitstellt.
Leitlinie muss dabei bleiben:
Es gilt, aus der Fülle von guten Vorschlägen und von guten, erprobten Praktiken das Beste zu suchen und konsequent zu verwirklichen. Ich bin gespannt, welche Empfehlungen das Forum Bildung uns präsentieren wird.
Meine Damen und Herren, wir brauchen das Rad nicht neu zu erfinden. Es gibt auch keinen Grund zum Schwarzsehen. An Ideen ist kein Mangel. Vieles wird auch schon getan. Aber die Herausforderungen bleiben groß.
XV. Wenn sich die Schulen dann auch für mehr Kooperation vor Ort öffnen, etwa mit der Wirtschaft, mit Einrichtungen der Jugendarbeit und Jugendhilfe oder anderen außerschulischen Institutionen, wird auch dadurch Qualität gewonnen werden.
Ich habe gesagt, dass es uns bei einer neuen Bildungsreform vor allem um die Qualität der Bildung gehen muss. Qualität ist schwer zu messen. Dennoch müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie wir die Qualität steigern und sichern können. Würde es nicht weiterführen, den Bildungseinrichtungen mehr Eigenverantwortung zu geben? Wäre es nicht gut, wenn Schulen versuchen könnten, ein möglichst eigenes, erkennbares Profil zu entwickeln? Dazu brauchen sie Selbständigkeit und Freiheit. Beratung und Hilfe sind für Schulen künftig genau so wichtig wie die klassische Schulaufsicht.
XIV. Die Erziehung der Kinder stellt vor allem die Eltern heute vor große Herausforderungen. Gerade sie sehen sich häufig mit besonderen Problemen gegenüber. Das darf aber nicht dazu führen, dass sie die Erziehung ausschließlich - und manchmal auch leichtfertig - nur der Schule überantworten. So dürfen wir die Dienstleistungsgesellschaft nicht missverstehen. Erziehung und Bildung beginnen zu Hause. Da braucht man Zeit, da ist Zuwendung gefragt. Wir sind sie unseren Kindern schuldig.
Wir müssen die Aus- und Weiterbildung der Lehrenden und Ausbildenden reformieren. Sonst wird uns die Bildungsreform nicht gelingen. Wer neue Bildungsinhalte und -methoden vermitteln soll, muss rechtzeitig und ausreichend darauf vorbereitet werden. Wer mit den Schülern auf die Datenautobahn gehen soll, muss auch selber den Führerschein haben
Mit steigenden Anforderungen an die Qualität von Bildung steigen auch die Anforderungen an diejenigen, die Bildung gestalten und vermitteln. Wir danken gar nicht genug all denjenigen, die sich Tag für Tag dafür einsetzen, unsere Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen auf das Leben und Arbeiten vorzubereiten. Diese verantwortungsvolle Arbeit ist schwieriger geworden. Viele Lehrer fühlen sich von Politik und Gesellschaft allein gelassen. Wo Lehrerinnen und Lehrer die Motivation und die Freude an ihrem Beruf verlieren, helfen freilich keine noch so guten Bildungskonzepte. Da muss man Mut machen und Rückenwind geben.
XIII. Für das Ziel Integration ist Bildung das A und O. Sie schützt am besten vor Ausgrenzung und Abkapselung, vor Fundamentalismus und Rassismus.
Integration muss in der Aus- und Weiterbildung der Lehrer eine viel größere Rolle spielen als bisher. Viele Lehrerinnen und Lehrer sind gar nicht darauf vorbereitet, in Klassen mit der Hälfte und mehr nichtdeutscher Kinder zu unterrichten. Vor allem Lehrerinnen stehen oft vor großen Schwierigkeiten, wenn sie Verhaltensweisen begegnen, die aus ganz anderen Vorstellungen von Autorität und Geschlechterrollen stammen. Darauf müssen sie vorbereitet sein.
Dabei kommt es entscheidend darauf an, dass Kinder aus zugewanderten Familien die deutsche Sprache gut und sicher beherrschen. Die katastrophalen Sprachdefizite, gerade bei den türkischen Kindern der dritten und vierten Generation, sind die Hauptursache für deren Misserfolge in der Schule. Deswegen ist es auch richtig, wenn Lehrer und Schulleiter darauf achten, dass in der Schule deutsch gesprochen wird. Wo das nicht geschieht, scheitert die Integration von Anfang an.
Wenn ein Drittel aller Schüler einen "Migrationshintergrund" hat, wie man das nennt, dann darf "Integration" nicht nur schmückendes Beiwerk sein. Integration muss ein zentrales Element der Bildung sein - und zwar auf jeder Stufe. Das beginnt beim Kindergarten und setzt sich fort über die Grundschule und die weiterführenden Schulen bis hin zur Berufsausbildung.