Redner(in): Roman Herzog
Datum: 29. August 1994

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1994/08/19940829_Rede.html


Der 13. Welt-Computer-Kongreß macht Hamburg für ein paar Tage zum Athen der Informatik. Nach Athen soll man bekanntlich keine Eulen tragen. Was, so werden Sie sich fragen, kann schon ein Bundespräsident und noch dazu, wenn er Jurist ist, zum Thema "Computer and Communication Evolution: The driving forces" beitragen?

Ich bin Ihrer Einladung nicht gefolgt, um Erwartungen zu erfüllen, die die Informatik an mich als Amtsträger stellen könnte, sondern um Ihnen zu erläutern, welche Erwartungen ich gegenüber der Informatik hege. Es sind in der Tat große Erwartungen, und ich will gleich mit der ersten beginnen.

Sie betrifft das Verhältnis von Technologie und Ökologie. Weder den naiven Fortschrittsglauben des vorigen Jahrhunderts noch romantische Technologieflucht können wir uns erlauben. Daß die Industrialisierung der letzten 200 Jahre mit kaum schätzbaren ökologischen Kosten verbunden war, gehört zu den objektiven Wahrheiten, deren offene Aussprache ich als Aufgabe meines Amtes betrachte. Eine ebenso objektive Wahrheit ist es jedoch, daß dieser bereits eingetretene ökologische Rückschritt nur durch überkompensierenden technologischen Fortschritt wettgemacht werden kann. Ohne die beständige Transformation von neuer Erkenntnis in die Praxis könnten weder die über fünf Milliarden Menschen auf der Welt ernährt noch bisher genutzte industrielle Schadstoffe substituiert, noch das bis auf weiteres unkalkulierbare Risiko von Klimaveränderungen vorbeugend reduziert werden.

Der große Vorteil der Informatik ist, daß sie, anders als die Nuklearphysik, die Chemie oder auch die Biologie selbst, kaum unmittelbare Umweltrisiken birgt, andererseits aber zur Beschleunigung, Vertiefung und Vorbereitung des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses entscheidend beitragen kann. Auch in der Praxis ist ihr ökologisches Potential enorm. Man denke nur an die Energieeinsparungen, die die numerischen Steuerungen von Kraftwerken und Industrieanlagen ermöglichen, oder an das Verkehrsvolumen, das durch elektronische Kommunikation zwischen den bisherigen Ballungszentren und den entlegensten Peripherien überflüssig gemacht werden könnte.

Dank Digitalisierung kann jeder Ort zum Zentrum werden, selbst das traute Heim. Das heißt, auch damit bietet die Informatik ganz neue Möglichkeiten der Zeitsouveränität. Sie erleichtert Teilzeitarbeit und erweitert den Spielraum der Vereinbarung von Familie und Beruf für Frauen mit Kindern. Auf diese Weise werden auch psychologische Brücken gebaut von Zukunftsangst und Technologiefeindlichkeit zur Entdeckung der eigenen Fähigkeiten und zur verantwortlichen Nutzung der Technik.

Mit diesen Beispielen habe ich auch schon die Erwartungen angedeutet, die sich an die Beiträge der Informatik zum Wachstum der Wirtschaft richten. Gewiß, in einer ersten Phase haben wir die mikroelektronische Revolution als ein zweischneidiges Schwert erlebt. An der Wiege des Computers stand der Wunsch nach Rationalisierung. Die Lebensgeschichte von Konrad Zuse, der heute, wie ich höre, unter uns weilt, belegt es. Als Statiker im Flugzeugbau hatte er die ständige Wiederholung vieler gleichartiger zeitraubender Rechenoperationen offensichtlich als langweilig und lästig empfunden. Niemand wird es ihm verübeln! Jedenfalls ließ es ihn nicht ruhen, bis er die ersten programmgesteuerten Computer der Welt gebaut hatte, 1938 auf mechanischer, 1941 auf elektro-mechanischer Basis.

Nach dem Kriege setzte IBM das gleiche Prinzip auf elektronischer Basis um, und in den siebziger Jahren schaffte die Forschungskooperation der japanischen Elektronikfirmen den Durchbruch zu einer globalen mikroelektronischen Revolution mit ungezählten kommerziellen Anwendungen. Die Rationalisierungsgewinne für die Unternehmen und die Preisvorteile für die Verbraucher waren enorm. Aber ebenso enorm war die Zahl der Arbeitsplätze, die durch diese Rationalisierungen verlorengingen.

In der Tat, man muß sich fragen, ob es wünschbar ist, daß wirtschaftlicher Mehrwert in Zukunft durch eine immer kleinere Zahl von hochbegabten oder hochausgebildeten Menschen geschaffen wird, die eine immer größere Zahl von unterbeschäftigten oder arbeitslosen Menschen sozial absichern. Die unvermeidliche Sinnentlehrung des Lebens der zweiten Kategorie würde sozialen Konfliktstoff bergen, vor dem man nur warnen kann.

Aber ich möchte auch sagen, daß dies nicht etwa ein unentrinnbares Schicksal ist. Denn es droht uns nur, wenn wir die Wirtschaft statisch betrachten, das heißt sie als Wirtschaft mit konstanter Nachfrage auffassen, die jetzt eben nur dank der Informatik mit einem rapide abnehmenden Aufwand von Arbeitskräften befriedigt wird. Vielleicht entsprachen die europäischen Volkswirtschaften in den vergangenen Jahrzehnten tatsächlich zu sehr einem solchen statischen Denken.

Daß es aber auch ein dynamisches Modell gibt, das haben uns in den gleichen zwei Jahrzehnten abwechselnd die japanische und die amerikanische Wirtschaft gezeigt. In diesen waren offensichtlich Unternehmer am Werk, die sich nicht an einer gegebenen Nachfrage orientierten, sondern das ungeheure Potential der mikroelektronischen Revolution zur Schaffung immer neuer Produkte nutzten, vom Walkman über den Laptop-Computer bis hin zu den ungezählten Anwendungen der Multimedien. Hier wurden immer wieder Produkte geschaffen, für die es bis dahin noch gar keine Nachfrage gab. Es war stets das Angebot, das sich die eigene Nachfrage schaffte.

Niemand soll sagen, daß dies nur die Japaner können. Denn das Prinzip des die eigene Nachfrage gewissermaßen "erziehenden" Angebots wurde von einem Österreicher vorgedacht, der in Bonn lehrte, bevor er nach Harvard ging: Joseph Schumpeter, einer der größten Ökonomen unseres Jahrhunderts. Wenn es heute in Amerika und Japan in schnellerem Rhythmus zur Schaffung neuer Arbeitsplätze kommt, so hat es vielleicht doch weniger mit der Einzigartigkeit der japanischen oder amerikanischen Gesellschaft zu tun als damit, daß man dort in den letzten drei Jahrzehnten Schumpeters Lehren des Wachstums durch Kreativität beherzter befolgt hat als im alten Europa. Kongresse wie der heutige in Hamburg können dazu beitragen, daß Europa möglichst bald nachzieht.

Netzwerke des Dialogs zwischen Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft sind eine entscheidende "Driving force" für die Verbreitung dessen, was die Wirtschaftswissenschaft die "externen Effekte" der Innovation nennt: die unzähligen Anwendungen, Abwandlungen, Verbesserungen und Weiterentwicklungen einer Erfindung. In der Computerindustrie erleben wir diese Effekte schon seit Jahren in anschaulicher Weise. IBM ist schon lange nicht mehr Monopolist der Informatik.

Die arbeitsplatzvernichtende Phase der Rationalisierung wird abgelöst durch eine zweite Phase der Innovation: die Schaffung neuer Arbeitsplätze für neue Produkte und neue Dienstleistungen. Der Computer verwandelt sich vom "Job-Killer" zum "Job-Knüller". Immer mehr Unternehmer, aber auch Haushalte erkennen, daß es sich lohnt, in Wissen und Information zu investieren. Das Wachstum, das sich aus Investitionen in die Köpfe ergibt, ist unbegrenzt. Es verbraucht wenig Rohstoffe und läßt die Umwelt intakt. Seine Grenze ist allein das stets wachsende menschliche Wissen.

Wie die Mathematik kennt die Informatik keine Klassenunterschiede, keine nationalen Grenzen und keine kulturellen Barrieren. Ihr Potential ist überall emanzipatorisch. Es gibt dem arbeitssuchenden Jugendlichen in Brasilien die gleiche Chance wie dem in Thüringen, Kalifornien oder Indonesien. Informatik vermittelt selbst das Wissen, das zu ihrer Nutzung nötig ist, von der ganz elementaren Anfängerebene bis zum höchstentwickelten Niveau. Sie kann deswegen zur Integration der Randgruppen der Gesellschaft in regionalen, nationalen oder kulturellen Gemeinschaften ebenso gut beitragen wie zum Abbau der wirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen Nord und Süd in der Weltwirtschaft.

Nutzen und Rentabilität der Datenautobahnen wachsen mit ihrer Internationalität, Europäische Netze bieten größeres Potential als deutsche, globale größeres als europäische. So entsteht ein Sachzwang zu internationaler Zusammenarbeit und Arbeitsteilung. So verstärkt sich die Einsicht in den gemeinsamen Nutzen des freien Welthandels und des Abbaus von Handelshemmnissen. So globalisiert sich der schon erwähnte Wachstumseffekt des Dialogs zwischen Forschern, Unternehmern und gesellschaftlichen Institutionen.

Daß die emanzipatorische Qualität der Informatik auch zur globalen Verbreitung der Demokratie beitragen kann, liegt auf der Hand. Die Rolle der grenzüberschreitenden Information bei der Überwindung des Ost-West-Gegensatzes haben gerade wir Deutschen bis zum Fall der Berliner Mauer erlebt. Daß die globale Reichweite der Multimedien auch je nach den vermittelten Inhalten zu politischen und kulturellen Spannungen führen kann, sehen wir an manchen asiatischen Reaktionen. Aber auch sie bedeuten nicht, daß man dort auf die Vernetzung verzichten will. Der Streit geht um die vermittelten Inhalte. Konfuzianische oder islamische Programme wetteifern mit sogenannten "westlichen".

Worauf es ankommt ist, die Freiheit der Information aus allen kulturellen Quellen zu wahren. Entscheidend ist, daß wir deutlich machen, daß es ein weltweites Grundverständnis der Rationalität, der wissenschaftlichen Neugier und des Interesses an technischer Innovation gibt. Traditionen der Aufklärung gibt es in allen großen Kulturen. Nur Fundamentalisten jeder Couleur haben ihnen mit "antiwestlichen" Ressentiments den Kampf angesagt. Daß es auch im "Westen" selbst solche Fundamentalisten gibt, erwähne ich nur der Vollständigkeit halber.

Damit, meine Damen und Herren, komme ich zu der mir wichtigsten Erwartung an die Informatik. Je schneller ihr Potential zum Transport und zur Vermittlung von Informationen wächst, desto größer wird die Verantwortung für den Inhalt der vermittelten Information und die zu erwartende Reaktion des Benutzers. Je mehr im "kybernetischen Raum" der "virutellen Realität" auf den Benutzer einstürmt, desto entscheidender wird die Frage, ob er noch mit dem Kopf - das heißt als freier Mensch - dabei ist, oder ob sich die Signale schon unter Umgehung des Kopfes mit dem Bauch kurzschalten - das heißt dem sprichwörtlichen Ort nicht nur des Lachens, sondern auch der weniger erfreulichen Instinkte, Reflexe und Ressentiments.

Natürlich hoffen wir, daß die Informationen, die immer reichlicher über den Bildschirm unser Auge erreichen, nicht als solche "virtuell" sind, sondern möglich nahe an die Wahrheit, die objektive, von der ich eingangs sprach, herankommen. Natürlich möchten wir die Möglichkeit behalten, uns ein eigenes Urteil über den Wahrheitsgrad der Informationen zu bilden. Natürlich wünschen wir uns kreative Nutzer der Telematik, nicht bloß passive Konsumenten der Multimedien. Natürlich wollen das alle guten Informatiker auch.

Aber - nun komme ich zurück zur Demokratie - wollen es denn auch die, die in der Lage sind, die Multimedien in den Dienst des politischen Machterwerbs zu stellen? Wollen es auch die, die Macht nicht als Mittel zur Wahrung demokratischer Werte, sondern als totalitären Selbstzweck anstreben? Wie wirkt es sich auf die Demokratie aus, wenn die Wirklichkeit der Medien sich allzu weit von der eingangs erwähnten objektiven Wahrheit entfernt?

Ich möchte diese Fragen nicht stellen, um Sie zu entmutigen, sondern im Gegenteil, um Sie anzuspornen. Denn ich bin überzeugt, daß der beste Weg zur Vermeidung des Mißbrauchs der Informatik ihre aktive und verantwortliche Entwicklung ist. Auch die Informatik dürfen wir nicht den Rattenfängern überlassen. Nutzen wir sie alle, sichern wir sie, so gut es irgend geht, im Sinne der kulturübergreifenden Aufklärung und der Demokratie. Das ist die Erwartung, die ich heute aussprechen wollte, und ich danke Ihnen für Ihr Zuhören.