Redner(in): Johannes Rau
Datum: 24. Oktober 2000

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2000/10/20001024_Rede.html


Frau Präsidentin Schwan,

meine Damen und Herren,

liebe Kommilitonen,

was führt mich hierher? Ich gestehe, es ist vor allem pure Neugier, wissenschaftlich formuliert reines Interesse, das mich zu Ihnen führt: Das Interesse an einer Universität, die Europa nicht nur auf dem Briefkopf führt, sondern die Europa als Idee und als Aufgabe in die Köpfe zu bringen sucht, und das Interesse an den Menschen, die hier lehren und lernen und forschen und die damit diese Universität ja überhaupt erst ausmachen - also das Interesse an Ihnen. Darum freue ich mich auf das Gespräch mit Ihnen.

Vor gut einem Jahr war ich schon einmal hier in Frankfurt. Am 1. September, 60 Jahre nach dem deutschen Angriff auf Polen, reichten Staatspräsident Kwasniewski und ich uns auf der Oder-Brücke die Hand. Dieser Händedruck war nicht beklommen, nicht zögerlich. Ich glaube, dass mein polnischer Kollege Kwasniewski und ich mehr Dankbarkeit und Freude darüber empfunden haben, dass Polen und Deutsche heute in Frieden und Freiheit leben und dass sie gute Nachbarn sind. Diese Nachbarschaft ist ein Ergebnis der unglaublichen Chance, die ganz Europa erhalten hat. Es ist die Chance, endgültig mit den Fehlern der Vergangenheit zu brechen und die Zukunft gemeinsam zu gestalten.

Europa ist geprägt von der Philosophie Griechenlands, vom dem staatspolitischen Genie Roms, vom christlichen Glauben, vom Geist der Aufklärung, von der Verwirklichung der Menschen- und Bürgerrechte und auch von mehr als einer industriellen Revolution. Europas Reichtum an Erfinderkraft, an künstlerischer Phantasie, an Tiefe der religiösen Empfindung und an Höhe der intellektuellen Reflektion ist bis heute unübertroffen. Unübertroffen ist aber auch Europas Register der Selbstzerfleischung. Immer wieder ist unser Kontinent durch das ungezügelte Streben nach Macht und Hegemonie verwüstet worden. Dabei ist doch die Stärke Europas gerade seine Einheit in der Vielfalt. Diese alte Welt hatte ihre besten Tage immer dann, wenn beides zusammenkam: Der gegenseitige Respekt vor der Vielfalt der Völker und Staaten und die einheitsstiftende Kraft gemeinsamer Überzeugungen, gemeinsamer Werte und friedlicher Zusammenarbeit. Haben wir Europäer diese Lektion endlich gelernt? Auch wenn uns jeder naive Fortschrittsglaube ausgetrieben worden ist, haben wir Grund zur Zuversicht. Das europäische Einigungswerk seit 1945 ist ein grandioser Erfolg. Es wurde auf Freiheit, auf Demokratie und Recht gegründet und brachte zuerst den Völkern Westeuropas Aussöhnung und wirtschaftliches Wohlergehen. Heute bereitet die Europäische Union Reformen vor, die ihre Handlungsfähigkeit stärken werden, und sie wird neue Mitgliedsstaaten aus Mittel- und Osteuropa aufnehmen. Erst dann wird die Vision der Gründerväter der europäischen Einigung verwirklicht sein: Der Zusammenschluss von ganz Europa in Frieden und Freiheit. Dieser Erfolg steht nahe bevor. Es wird die Aufgabe Ihrer Generation sein, das Einigungswerk zu befestigen und zu vollenden.

Wie bereiten Sie sich am besten darauf vor? Ich habe dafür keine Zauberformel à la Harry Potter. Aber Sie müssen auch gar nicht zaubern können, um Ihren Beitrag zu leisten. Ich mache Ihnen drei Vorschläge für die Vorbereitung auf Ihr Leben als Bürgerinnen und Bürger Europas.

Erstens: Erarbeiten Sie sich zusätzlich zu Ihrem Fachwissen eine solide Allgemeinbildung. Sie erleichtert den Zugang zu neuem Wissen, sie verbessert die Verständigung von Mensch zu Mensch und über Fachgrenzen hinweg. Sie macht es entschieden leichter, sich in der Informationsflut zu orientieren und Neues zu bewerten.

Was gehört zur Allgemeinbildung? Darüber wird im einzelnen gestritten. Aber die folgenden geistigen Güter gehören gewiss dazu: Gewinnen Sie einen guten Überblick über die europäische Kultur- , Geistes- und Staatengeschichte. Dazu gehören unbedingt auch die antiken Grundlagen Europas. Darum habe ich heute im Konzept von Frau Professor Schwan für die Weiterentwicklung der Viadrina voller Zustimmung die Forderung nach der Einrichtung einer entsprechenden Professur gelesen.

Ohne gute geschichtliche Kenntnisse begreifen Sie nicht nur die Welt schlechter, sondern Sie verstehen auch die Menschen schlechter, denen Sie begegnen.

Im günstigsten Fall ist es ja noch lustig, wenn der eine "Piasten" nur als Pralinenmarke kennt und der andere glaubt,"Vormärz" wäre ein anderer Name für den rheinischen Karneval. Im ungünstigsten Fall aber führt Unwissen zu Missverständnissen und zu persönlichen Verletzungen. Darum ist es so wichtig, dass wir Europäer uns der Gemeinsamkeiten unserer Geschichte stärker bewusst werden, dass wir zunehmend aus einem gemeinsamen Fundus an europäischen Geschichtswissen schöpfen.

Lernen Sie mindestens eine Fremdsprache sicher zu beherrschen, besser zwei. Die eigene Muttersprache soll allerdings, entgegen anderslautenden Gerüchten, nicht als zweite Fremdsprache zählen.

Gute Sprachkenntnisse und möglichst auch ein Studienaufenthalt im Ausland sind eine Schlüsselqualifikation, wenn alle Lebensbereiche immer stärker geprägt werden von der europäischen und von der weltweiten Zusammenarbeit. Für den Erwerb dieser Qualifikation bietet gerade die Viadrina exzellente Voraussetzungen; nutzen Sie diese Chancen.

Was gehört noch zur Allgemeinbildung? Lernen Sie verstehen, wie die Europäische Union funktioniert. Auch diese europäische Dimension wird an der Viadrina vorbildlich vermittelt - besonders eindrucksvoll natürlich an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät.

Zur Allgemeinbildung kommt schließlich hinzu, dass Sie sich auf lebenslanges Lernen einstellen. Das ist Lust und Last, aber es ist unausweichlich. Betrachten Sie darum Ihre Tage auf der Universität nur als einen vorbereitenden Intensivkurs - Fortsetzung folgt.

Zweitens: Achten Sie beim Studium Ihres Kernfachs auf dessen Nachbarwissenschaften und üben Sie die Zusammenarbeit auch mit anderen Disziplinen. Oft wird es gerade da besonders interessant und lohnenswert, wo grenzüberschreitende Zusammenarbeit nötig ist. Manche Themen sind überhaupt nur interdisziplinär zu bewältigen - ich denke etwa an die für ganz Europa wichtige Arbeit, die das Frankfurter Institut für Transformationsstudien leistet.

Behalten Sie auch stets im Blick, in welchen ethischen Bezügen und Zusammenhängen Ihre Arbeit steht. Alle Fachrichtungen brauchen diese Rückbindung, denn mit der Vervielfachung des Wissens und des technisch Machbaren haben sich neben den großen Chancen auch die Gefahren vermehrt, Falsches zu tun und sich schuldig zu machen. Darum ist es gut, dass sich an der Viadrina das Interdisziplinäre Zentrum für Ethik gezielt dieser Fragen annimmt.

Drittens: Verstehen Sie das erworbene Wissen und Können als Verpflichtung zum richtigen Wollen. Programmieren Sie sich nicht auf die schnelle Mark oder den schnellen Euro, sondern auf ein gelingendes Leben. Dazu gehört die ethische Dimension, von der ich soeben gesprochen habe, dazu gehört das bürgerschaftliche Engagement in Ihrer Stadt, in Ihrer Nation und im gemeinsamen Europa. Dazu gehört nicht zuletzt auch, dass Sie sich Ihrer sozialen Verantwortung bewusst bleiben.

Bevor Heinrich von Kleist sich an der Viadrina immatrikulierte, hat er sich in einem Aufsatz Gedanken darüber gemacht, wie man den sicheren Weg des Glücks finde. Als Weg zum Glück empfahl er Bildung, um - so zitiere ich - "durch Erfahrungen und Studien aller Art mit der Zeit die Grundsätze des Edelmuts, der Gerechtigkeit, der Menschenliebe, der Standhaftigkeit, der Bescheidenheit fest in unser Innerstes zu gründen". Denn dann, so schloss er, und ich zitiere wieder: "wird die Erde unser Vaterland, und alle Menschen unsere Landsleute sein. Wir werden uns stellen und wenden können wohin wir wollen, und immer glücklich sein. Ja, wir werden unser Glück zum Teil in der Gründung des Glücks anderer finden, und andere bilden, wie wir bisher selbst gebildet worden sind."

Das war Heinrich von Kleist, der Student aus Frankfurt. Er hat für sich persönlich den Weg zum Glück nicht gefunden. Ein Satz in einem seiner letzten Brief lautet: "die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war." Aber er hat uns diesen Weg gewiesen.

Ich finde, dass die Europa-Universität Viadrina eine der Pforten zu diesem Weg ist. Sie haben die Chance, ihn zu gehen.