Redner(in): Johannes Rau
Datum: 25. November 2000

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2000/11/20001125_Rede.html


Herzlich willkommen! Ich freue mich darüber, dass Sie Ihren Gedankenaustausch über Fragen der Zukunft Europas mit einem Gespräch beim Abendessen hier abschließen wollen.

Die Europäische Union ist dabei, ihre geographischen Konturen zu verändern. Die Länder des früheren Warschauer Pakts "kehren nach Europa zurück", oder, wie der estnische Präsident Meri sagt,"Europa kehrt nach Estland zurück". Das könnte man natürlich auch aus der Perspektive der anderen Länder des früheren Warschauer Pakts sagen. Das bedeutet ja nicht, dass Europa seine Essenz oder sein Wesen verändert. Im Gegenteil: Gerade weil wir wissen, welchen Verlust Europa durch die Trennung erlitten hatte, weil wir spüren, wie sehr eine alte Einheit zerrissen worden war, wollen wir Europa wieder zusammenfügen. Damit gewinnt unser Kontinent die Vielfalt zurück, die ihn stets ausgezeichnet und reich gemacht hat. Weil die Staaten Europas sich zugleich enger zusammenschließen wollen, wird die Union sich neu organisieren, sich neu verfassen müssen.

Sie haben sich in den letzten beiden Tagen mit dem Kern dieser Herausforderung befasst: mit der Frage der politischen Finalität und der territorialen Grenzen.

An Ihrer Tagung nehmen Vertreter aus sechsundzwanzig Ländern teil: Aus Slowenien und Litauen, aus Lettland und Finnland, aus Italien und Moldau, um nur einige zu nennen. Was könnte Europa heute anschaulicher machen als die Zusammensetzung dieses Kreises, als das Spektrum der Meinungen, die in ihm vertreten sind, als die Vielzahl der Themen, die Sie bewegen und die Sie diskutiert haben? Hier in diesem Saal wird heute Abend die ganze Vielfalt Europas erfahrbar.

Und genauso wird die Einheit sichtbar, das einigende Band aller Europäer: Die gemeinsamen Elemente unserer nationalen Kulturen, die Werte, die uns verbinden, unsere Verpflichtung auf Demokratie und Menschenrechte, unsere gemeinsame Verantwortung - eben Europa.

Ihre Konferenz illustriert die Stärke Europas: Einheit und Vielfalt müssen sich nicht ausschließen, sie müssen auch nicht passiv geduldet werden. Im Zusammenwirken setzen sie auf einzigartige Weise Kräfte frei für eine gemeinsame Gestaltung der Zukunft. Den Reichtum, der in Einheit und Vielfalt liegt, können wir uns für die Menschen, die in Europa leben, zunutze machen.

Mit der Abschaffung der Nationalstaatenwürde das sicher nicht erreicht. Wir brauchen die Nationalstaaten noch lange. Wir brauchen sie für die Bildungspolitik, für das Rechtswesen, für die sozialen Netze und für die Kulturpolitik. Wir brauchen sie als Rahmen der Demokratie auf der Ebene der Nationen. Wir brauchen sie als Garanten der Vielfalt in Europa.

Mir scheint, dass eine europäische Verfassung am besten imstande wäre, Einheit und Vielfalt zu sichern und zugleich das Vertrauen der Bürger in das große Einigungsprojekt zu bewahren.

Eine solche Verfassung könnte die Europäische Union demokratisch legitimieren.

Sie böte zugleich die Gewähr dafür, dass die Europäische Union auch dann handlungsfähig bleibt, wenn sie beinahe doppelt so viele Mitglieder hat wie heute.

Eine solche Verfassung könnte schließlich sicherstellen, dass eine höhere Ebene sich nur dann mit einer Frage befasst und sie entscheidet, wenn die Antwort auf einer unteren Ebene nicht besser gegeben werden kann.

Eine solche Verfassung müsste aus drei Teilen bestehen:

Sie sollte mit dem Grundrechtskatalog beginnen. Den gibt es bereits im Entwurf. Ich freue mich darüber, dass dieser Katalog auf dem Gipfel in Biarritz von allen akzeptiert worden ist. Ich hoffe, dass unter der schwedischen Präsidentschaft über die Verbindlichkeit des Grundrechtskatalogs für die europäischen Institutionen gesprochen werden kann.

In einem zweiten Teil der Verfassung sollte eine klare Aufteilung der Kompetenzen zwischen europäischer, nationaler und regionaler Ebene das Prinzip der Subsidiarität stärken.

Drittens brauchen wir auf europäischer Ebene eine deutliche Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative. Jede Föderation mit so vielen Mitgliedstaaten braucht ein doppeltes System der Repräsentation: Eines, in dem der Bürger mit einer Stimme zählt, und ein zweites, in dem jeder Mitgliedsstaat unabhängig von seiner Größe und seiner Bevölkerungszahl zur Geltung kommt. Das könnte am besten durch ein Zweikammersystem geschehen, nämlich eine "Bürgerkammer", deren Abgeordnete nach dem Prinzip "one man, one vote" gewählt werden, und eine "Staatenkammer", in der jeder Mitgliedsstaat seine Stimme hat.

Gewiss wird eine eines Tages beschlossene europäische Verfassung das Ergebnis zahlreicher Kompromisse sein müssen. Das ist bei so vielen unterschiedlichen Ländern auch völlig normal. Wichtig ist jedoch, dass man mit der Einigung über die Grundprinzipien dieser doppelten Legitimation bald beginnt.

Wenn Sie mir bis hierher gefolgt sind, dann ahnen Sie schon: Ich kann mir Europa nur als eine Föderation der Nationalstaaten vorstellen. Und ich nehme an, das hätten Sie von einem ehemaligem Ministerpräsidenten eines Landes der Bundesrepublik Deutschland wohl auch nicht anders erwartet. Natürlich weiß ich, dass dem noch nicht alle zustimmen. Die französische Präsidentin des Europäischen Parlamentes, Frau Fontaine, hat mir vor kurzem anvertraut, dass sie das Wort Föderalismus in Frankreich nicht mehr gebrauche, weil es vielen Franzosen Alpträume bereite.

Der Begriff weckt zwei Arten von Ängsten, die sich allerdings widersprechen. Die einen fürchten die Konzentration der Macht und die anderen ihre Fragmentierung. Die einen fürchten den Superstaat, die andern den Verlust der Souveränität.

Ich halte beide Ängste für unbegründet. Die Schweiz ist eine Föderation, aber offensichtlich kein Superstaat. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind eine Föderation, aber niemand wird behaupten, sie leide unter einem dramatischen Verlust an nationaler Souveränität.

Eine föderale Verfassung Europas hätte den unschätzbaren Vorteil, dass die bewährten Verfassungen der Mitgliedsstaaten - seien sie nun einheitsstaatlich oder bundesstaatlich - unangetastet blieben. An der inneren Ordnung der Mitgliedsländer würde sich nichts ändern, wichtige Aufgaben blieben ihnen vorbehalten - gerade solche, die die Vielfalt sichern.

Glücklicherweise gibt es inzwischen auch einflussreiche Franzosen, die für eine Föderation der Nationalstaaten eintreten. Denken Sie an Jacques Delors. Da zeichnet sich so etwas wie eine kopernikanische Wende ab. InLe Mondeerschien schon ein Kommentar mit dem Titel: "Die Wiederkehr des Föderalismus", wohlgemerkt in Frankreich!

Helmut Schmidt greift in seinem neuen Buch noch einmal den Begriff de Gaulles vom "Europa der Vaterländer" auf. Er sagt, der Begriff gefalle ihm, denn er, Helmut Schmidt, glaube, dass wir noch sehr lange unser jeweiliges Vaterland brauchten. Aber ist es nicht an der Zeit, so fragt Helmut Schmidt, dass wir unsere jeweilige nationale Identität um eine gemeinsame europäische Identität erweitern?

Sie haben mit Ihrer Konferenz einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass wir eine gemeinsame Vorstellung von Europa entwickeln können und dass daraus ein Teil unseres Selbstverständnisses wird.

Wir alle werden uns daran gewöhnen müssen, dass jeder von uns nicht etwa nureineIdentität hat, die er wie einen Stempel auf der Stirn trägt, sondern unweigerlich eine ganze Reihe von Identitäten in sich vereinigt, die sich überlagern. Ich bekenne mich zu den Identitäten des Wuppertalers in Berlin, des Protestanten, des Deutschen, des Europäers. Das sind schon vier Identitäten, und mir fallen, wenn Sie alles wissen wollen, noch weitere ein. Die europäische Identität schließt die nationalen, religiösen, lokalen und anderen Identitäten keineswegs aus. Im Gegenteil, sie erlaubt ihnen "zu atmen".

Europa hat die Chance, auf ganz eigene Art eine ihm angemessene Form der Föderation zu schaffen. Es gibt auf der Welt keine zwei Verfassungen, die genau übereinstimmen. Jede Verfassung ist einzigartig. Auch die europäische wird es sein.

Ich finde es gut, dass wir uns gemeinsam ans Werk machen.