Redner(in): Johannes Rau
Datum: 16. Dezember 2000

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2000/12/20001216_Rede2.html


Wussten Sie, daß Berlins beliebteste Tätowierungen religiöse Symbole sind?

Engel und: das Kreuz!

Ich habe festgestellt, dass es - je nach Suchmaschine - im Internet zwischen 2000 und 200.000 Treffer für die Verbindung von "Religion und Berlin" gibt.

Religion ist in Berlin ein Thema.

Und nicht erst in unserer Zeit.

Berlin steht in einer langen religiösen Toleranztradition:

Das staatliche Toleranzgebot Friedrichs des Großen ist zu einem Quellpunkt geworden

Und es wäre interessant, darüber zu sprechen.

II. Aber wenn ich das Thema richtig verstehe, dann soll es heute Abend weniger um Religion in dieser Stadt gehen, so wie andernorts um "Religion und Wittenberg", um "Religion und Rom" oder um "Religion und Jerusalem". Sondern ich verstehe das Thema so, daß wir miteinander über die Aufgabe der Religion im demokratischen und säkularen Deutschland des 21. Jahrhunderts sprechen wollen.

Denn dass es ein Thema des 21. Jahrhunderts sein muß, erkennt man leicht am fehlenden Artikel. Es heißt nicht "DieReligion und Berlin", sondern "Religion und Berlin".

Es heißt heute Abend also nicht "Christen und Berlin", sondern "Gläubige und Berlin".

Damit, so meine ich, ist die Aufgabe benannt:

Welche Beiträge dürfen wir von den Religionen erwarten für das Miteinander unserer Gesellschaft?

Ich glaube, dreierlei:

Erstenswird in Zukunft die Bereitschaft zum Dialog ein wesentliches Thema für die Religionen sein. Die Religionen werden sich besonders an ihrem konstruktiv-kritischen Beitrag zum friedlichen Miteinander messen lassen müssen. Die Zeit der kriegerischen Glaubenskämpfe und schrecklichen Religionskriege muß vollends der Vergangenheit angehören. Der Dialog und die Gesprächsbereitschaft sind die Kriterien. Dabei denke ich nicht bloß an das interkonfessionelle oder interreligiöse Gespräch, sondern auch an das Gespräch der Religionen mit der Gesellschaft und ihren Teilbereichen: etwa der Wissenschaft oder der Wirtschaft.

Der zweite Punkthängt mit dem ersten zusammen:

Die Bereitschaft zum Dialog zielt nicht auf die Preisgabe des eigenen Standpunktes. Im Gegenteil: Dialog wird erst dann möglich, wenn die Gesprächspartner sich selber über das eigene Denken und Tun klar verständigt haben. Toleranz meint ja nicht, es mit der eigenen Überzeugung nicht so genau zu nehmen, sondern Toleranz ist das schwere Aushalten und Tragen des anderen trotz seines anderen Standpunktes, trotz seiner anderen Haltung.

Ich glaube eben nicht, dass man an der Anzahl der Tätowierungen den religiösen Pegel einer Gesellschaft ablesen kann. Insofern ist es ein Unterschied, ob man über spirituelle Erfahrungen spricht oder über Religion.

Religion hat mit Tradition zu tun, auch mit Überlieferung. Ihr öffentlicher Anspruch widerspricht der verbreiteten Praxis - je nach Bedarf - einzelne Dinge steinbruchartig und eklektizistisch herauszubrechen. Religion hängt auch nicht einfach Gefühlen nach. Sie ist an bestimmte Regeln gebunden und hat doch die Freiheit im Blick.

Wenn ich sage: "Ich bin Christ!", dann ist das nicht gegen andere gerichtet, dann ist das keine Drohung, sondern es beschreibt einen verlässlichen Standpunkt im abendländischen Denken.

Darf ich es sagen? Gerade bei den Kirchen fehlt mir bisweilen diese verlässliche Erkennbarkeit, auf deren Basis das Dialoggespräch mit Andersgläubigen oder Nichtgläubigen ja erst beginnt.

Nur wer eine geklärte kulturelle Identität hat, findet sich multikulturell zurecht.

Der dritte Punktbezieht sich auf die horizontale Ebene der Religion: auf die Ethik. Religion ist dem Menschen zugewandt. Deshalb hat sie sein Leben und seine Lebensumstände in den Blick zu nehmen. Religion ist eine Kraft zur Gestaltung einer gerechten Gesellschaft. Sie erinnert vor dem Hintergrund der eigenen Überlieferung an das Menschengerechte wie an das Sachgemäße.

Diese Aufgabe ist in unserer Zeit nicht geringer geworden, sondern größer:

Das sind einige der Felder, in denen die Dinge in einem Prozess der Veränderung sind, dessen Folgen wir weitgehend noch nicht absehen können.

Hier haben die Religionen einen Auftrag und eine Pflicht.

Wenn James Watson, der diesjährige der Nobelpreisträger für Medizin, öffentlich fordert, die Schaffung des Menschens in Zukunft Gott nicht mehr allein zu überlassen, dann sind gerade sie auf den Plan gerufen ( FAZ 26. 09. 00 ) .

Und ich bin froh, dass sie sich dazu bereits geäußert haben. Religion und Bildung "," Religion und Kultur " sind weitere Themen, deren Bedeutung für das Zusammenleben der Menschen gar nicht überschätzt werden kann.

Ich glaube, sie werden in Zukunft wichtiger, nicht unwichtiger.

III. Religion und Berlin - Das ist ein Thema weit über Berlin hinaus. Ein Thema für unser Land, ein Thema auch für das Europa des 21. Jahrhunderts.

Die Christen im Land werden sich darauf einstellen müssen, dass sie Gläubige neben Andersgläubigen sein werden; aber sie sollen deswegen ja nicht aufhören, fröhlich und selbstbewusst Christen zu sein. Das gilt auch für andere Religionen hier in Berlin und in Europa.

Ich bin gespannt auf diesen Abend und ich danke der Deutschen Nationalstiftung für dieses Forum der Verständigung.