Redner(in): Johannes Rau
Datum: 23. Februar 2001
Anrede: Sehr geehrter Herr Rektor,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/02/20010223_Rede.html
Hoher Senat,
meine Damen und Herren,
ich bin nicht nur Wuppertaler, Freund der Vereinten Evangelischen Missionen, evangelischer Christ und einer, der die Batak-Kirche seit sechzig Jahren kennt, sondern auch Bundespräsident. Als solcher muss ich auch über das sprechen, was unser gemeinsames Anliegen ist - als Christen, Moslems, Hindus, Buddhisten, Juden oder auch als Agnostiker.
Also will ich die Frage stellen, wie sich das verhält: Politik und Religion, politische Wissenschaften und Glaube. Ist das nicht ganz unvereinbar: hier die Macht mit all ihren Schwächen, dort die Religion mit ihrer Offenbarung? Meine Antwort darauf ist ganz klar: Politik und Glaube kommen aus unterschiedlichen Quellen, aber sie sind nicht beziehungslos; die Brücke zwischen ihnen ist die Ethik. Und zur Ethik gehört die Toleranz.
Ich bin beeindruckt von der Tradition der Toleranz, die es in Indonesien gibt. Ich habe sie im Gespräch mit Präsident Wahid und mit anderen Führern dieses Landes erfahren können. Mir scheint, sie herrscht hier seit langem. Am Ende des 19. Jahrhunderts hat der deutsche Philosoph Ernst-Erich Haeckel nach einem Besuch in Sumatra voll Staunen von der "segensreichen Folge des religiösen Friedens" geschrieben, die er "der Toleranz der verschiedenen neben einander bestehenden Konfessionen" zuschreibt.
Ich bin aber auch tief erschrocken, das will ich Ihnen gestehen, von der Heftigkeit, mit der inmitten des allgemeinen religiösen Friedens auch Konflikte ausbrechen können, die zumindest äußerlich auf religiöse Gegensätze zurückgeführt werden.
Sie kennen die Stichpunkte besser als ich: Ob Papua, Ost-Timor, Molukken oder jetzt Borneo: Immer wieder gibt es die Gefahr, dass mit religiösem Vorwand andere Konflikte ausgetragen werden.
Ich sage das ohne europäische Überheblichkeit, die es ja auch gibt. Der Blick auf unsere eigene europäische Geschichte sollte uns bescheiden werden lassen in der Beurteilung des Geschehens auf anderen Erdteilen. Jahrhundertelang haben religiöse Auseinandersetzungen im Zentrum militärischer Konflikte zwischen den europäischen Mächten gestanden. Und oft war die Religion nur der Spiegel ganz anderer Auseinandersetzungen, bei denen es um wirtschaftliche Probleme, um soziale Not oder um die Instrumentalisierung solcher Probleme und Notlagen durch politisches Machstreben ging.
Solche Vorgänge wiederholen sich heute weltweit auf vielfache Weise. Jeder Fundamentalismus versucht, eine im Menschen natürlich angelegte Furcht vor dem Fremden für seine Interessen und Zwecke auszunutzen. Fundamentalismen gibt es in vielen Staaten und in allen Religionen: im Christentum wie im Islam, im Buddhismus, im Hinduismus, im Judentum oder im Konfuzianismus. Die Gefahr liegt immer darin, dass die Menschen durch die Macht missbraucht werden.
Was geschieht eigentlich, wenn zwei monotheistische Religionen aufeinandertreffen, die, wie das Christentum und der Islam, daran glauben, dass ein einziger Gott für alle Menschen in der Welt da ist? Was geschieht, wenn die Missionare beider Religionen sich begegnen? Indonesien ist ein Land, in dem es diese Begegnungen jahrhundertelang gegeben hat, ohne dass dieses Land zum Muster des "Clash of Civilizations" geworden wäre.
Ich nehme den Eindruck mit nach Hause, dass wir von Indonesien einiges lernen können. Die indonesische Tradition des Zusammenlebens von Religionen ist älter als die deutsche und die europäische, wenn wir von den unterschiedlichen christlichen Konfessionen einmal absehen. Wir in Deutschland erleben heute das Zusammenleben unterschiedlicher Religionen ganz neu. Das begann in den sechziger Jahren mit den ersten Deutschen, die sich zum Hinduismus bekannten, meist jungen Leuten, die man in auffälligen Gewändern in unseren Straßen sah. Dann kamen die Muslime. Heute sind es drei Millionen, fast vier Prozent der Bevölkerung. Es gibt übrigens auch 200 000 Buddhisten in Deutschland.
Die Deutschen hatten fremde Religionen und Kulturen bis dahin vor allem auf Reisen kennen gelernt. Jetzt erlebten sie diese Begegnung im eigenen Land oft als neu und verwirrend. Inzwischen ist sie Gewohnheit geworden, aber dennoch nicht selbstverständlich. Es fällt dem, der alteingesessen ist, dem Bürger, der seine Kultur und Religion kennt, immer schwer, den neu Hinzukommenden die gleichen Rechte zu geben, die er selbst hat.
Die Begegnung der Kulturen und Religionen ist ein Lernprozess. Zunächst muss man zur Kenntnis nehmen, dass es die andere Kultur, dass es den anderen Menschen gibt.
Man muss zur Kenntnis nehmen, dass auch der andere Mensch in seiner Religion Geboten untersteht, die er befolgen sollte. Wer selbst solchen Geboten folgt, wird das viel eher verstehen als jemand, dem alle Werte gleichgültig sind. Denn Toleranz ist Anerkennung der Unterschiede in Kenntnis der Unterschiede. Toleranz ist nicht Beliebigkeit und Gleichgültigkeit.
Toleranz, die auf gegenseitiger Kenntnis beruht, weiß, dass Mission ein Wesenselement der Religionen ist, dem sich der Glaubende nicht entziehen kann. Mission im christlichen Sinne ist "Sendung", um Zeugnis zu geben für den, der selber den Glaubenden berufen hat. Das Zeugnis ist ein Angebot an den mündigen Menschen, der selbst entscheidet, ob er es annimmt. Es ist keine Proselytenmacherei. Und hier gibt es durchaus Beziehungspunkte zwischen Christentum und Islam: Die islamische Entsprechung zur Mission ist - Sie wissen das natürlich - die "Da ' wa", die "Einladung". Auch das ist, richtig verstanden, Angebot und keine Verführung und kein Zwang. Hier haben wir etwas gemeinsam.
Wer selbst unter einem Gebot steht, der wird die Angehörigen einer anderen Religion, die er in der gleichen Situation sieht, viel ernster nehmen können. Er wird mit dem anderen auch über das Trennende ein Gespräch führen können. Nur wenn alles gleichgültig ist, gibt es keinen Raum für das Gespräch.
Wer versteht, dass es Werte, dass es Gebote gibt, der findet auch den richtigen Weg zum Umgang mit dem anderen. Wer die Unterschiede nicht überwinden kann, der sucht nach dem gemeinsamen Nenner, nach dem gemeinsamen ethischen Minimum.
Und dann stößt er auf den Satz, den man in Variationen und unterschiedlichen Formen bei Kant genauso findet wie bei Konfuzius, in der Bibel genauso wie in den Sprüchen Mohammeds. Im dreizehnten Hadith von An-Nawawi heißt es: "Keiner von euch ist ein Gläubiger, solange er nicht seinem Bruder wünscht, was er sich selbst wünscht." Und im Matthäus-Evangelium, im siebten Kapitel, steht: "Alles was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut ihr ihnen auch."
Das heißt: Behandle den Fremden, behandle den Andersgläubigen so, wie du selber behandelt werden möchtest. Tu ihm keine Gewalt an, weder physisch noch geistig.
Und hier kommen wir zum Schluss noch einmal auf das Werk von Ludwig Nommensen zurück: Was er geleistet hat, ist Mission im eigentlichen christlichen Sinne: Er fühlte sich gesandt, Zeugnis zu geben. Aber das war kein feindliches Eindringen in eine fremde Kultur, das war keine Eroberung, sondern ein Angebot, das es jedem freistellt, es anzunehmen.
So wohnen zwei missionarische Kulturen wie die christliche und die islamische miteinander in einem Land. Ich wünschte mir, dass das auf der ganzen Welt so sein könnte.
Das ist nicht nur ein Thema der Religionen. Auch in der internationalen Politik ist diese Kultur der Nachbarschaft und der gegenseitigen Achtung eine Maxime, der nachzustreben es sich lohnt. Sie hat sich im Europa der Nachkriegszeit durchgesetzt und eine jahrhundertealte Periode von Kriegen und Konflikten abgelöst. Sie wird auch die Vorgabe für das Zusammenleben in den heutigen Konfliktregionen bilden müssen. Denken Sie an den Nahen Osten, wo konkurrierende Ansprüche auf Land und Rechte es so schwer machen, Frieden zu finden. Auch dort wird man in scheinbar unauflösbaren Problemstellungen nur mit dem Grundsatz der Nachbarschaft und der gegenseitigen Achtung die Lösung finden können, die beiden Seiten noch am ehesten gerecht werden kann.
Ich habe als Beispiel diesen Konflikt gewählt, weil er in aller Munde ist und weil er uns in Europa zur Zeit die größten Sorgen bereitet. Ich hätte jeden anderen Konflikt wählen können: im Kaukasus, im Kongo, in Kaschmir.
Nicht nur Geographie lässt uns zu Nachbarn werden. Moderne Kommunikation, die grenzübergreifenden Umweltprobleme, schnelle Kapitalbewegungen: All diese Entwicklungen der jüngsten Zeit verbinden Menschen über Grenzen hinweg, die sich früher nie als Nachbarn gesehen hätten.
Wer da noch glaubt, sich abgrenzen, andere ausgrenzen zu müssen, der lebt im Grunde nicht in der Gegenwart. Deshalb sage ich den jungen Menschen, den Studenten und Studentinnen unterschiedlicher Religionen, die an dieser Universität leben und lernen, die sich heute auf die Welt von morgen vorbereiten: Eine Kultur der Gewaltfreiheit und der gegenseitigen Achtung ist die einzige Versicherung für einen nachhaltigen Frieden: innerhalb der Staaten und zwischen den Staaten. Und Bildung ist eine Voraussetzung zur Überwindung von Hass und Gewalt. Bildung macht Toleranz möglich. Deswegen bin ich gerne an diesen Ort der Bildung gekommen, um Sie zu ermutigen, auf dem Weg gegenseitigen Respekts weiterzugehen.