Redner(in): Johannes Rau
Datum: 21. März 2001
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/03/20010321_Rede.html
I. Manchmal wünschte ich mir mehr Zeit für eine Veranstaltung wie diese. Als ich das Programm Ihrer Tagung sah, hätte ich mich gern in die ein oder andere Arbeitsgruppe gesetzt, manchen Vorträgen und Gesprächen zugehört, mit Ihnen über Ihre Erfahrungen geredet.
Ich hätte gerne mehr darüber gehört, welche Arbeit in Projekten mit gewaltbereiten Jugendlichen geleistet werden kann, wie der Alltag in Schulen mit einem hohen Anteil rechtsextremer Jugendlicher aussieht, welche Erfolge sich mit Streitschlichtung, Toleranztraining oder bei der Arbeit in Sportvereinen erzielen lassen.
Nun kann ich nicht immer so über meine Zeit verfügen, wie ich das gerne täte. Umso wichtiger war es mir aber, zumindest heute zu Ihnen nach Leipzig zu kommen. Ich freue mich darüber, dass wir nachher noch Zeit zum Gespräch haben werden. Thomas Krüger wird mir anschließend von den Ergebnissen Ihrer Tagung berichten.
II. Ich bin der Bundeszentrale für politische Bildung sehr dankbar dafür, dass sie diesen Kongress organisiert hat. Er hat drei wichtige Ziele:
Das ist keine leichte Aufgabe und auch keine Aufgabe, die rasch erledigt werden könnte. Wir wissen, dass es dieeineErklärung nicht gibt und dass es daseinePatentrezept nicht gibt, einer Situation Herr zu werden, die uns beunruhigen muss und die von uns mehr verlangt als Mitgefühl mit den Opfern rassistischer Gewalt und Hilfe für sie, so wichtig beides ist.
III. Gelegentlich wird gesagt, dass unser Ansehen im Ausland aufgrund der extremistischen und gewalttätigen Vorfälle Schaden nehme. Das mag sein und das darf uns auch nicht gleichgültig lassen - aber davon darf unsere Entschlossenheit nicht abhängen, den demokratischen Grundkonsens unserer Gesellschaft zu verteidigen.
Wenn wir uns Hass und Gewalt entgegenstellen, dann tun wir das um unserer selbst willen, um unserer Selbstachtung wegen.
Nicht bloß unser Ansehen - unsere Würde nimmt Schaden, wenn wir es zulassen, dass die Würde anderer Menschen mit Füßen getreten wird.
Ich weiß, dass die ganz große Mehrheit der Menschen in Deutschland das genauso sieht.
In den letzten Monaten sind viele neue Initiativen und Projekte entstanden, die sich nicht abfinden wollen mit rassistischen Hetzparolen und menschenverachtender Gewalt. Viele haben sich an Demonstrationen und Kundgebungen beteiligt und Verfolgten geholfen.
Jugendliche Gewalttäter sind in einer Reihe von Fällen erfreulich schnell angeklagt und verurteilt worden. Das ist wichtig, denn gerade bei jungen Menschen müssen Tat und Strafe in einem zeitlich engen Zusammenhang stehen.
Die Regierungen im Bund und in den Ländern haben gehandelt: Neue Aktionen wurden ins Leben gerufen und in den öffentlichen Haushalten stehen zusätzliche Mittel zu Verfügung, um bestehende und neue Vorhaben zu unterstützen.
Wir alle wissen: Mit schnellen Erfolgen ist nicht zu rechnen. Aber es hat sich viel bewegt in unserem Land. Dafür stehen auch Sie, die Sie sich hier getroffen haben, mit Ihren Projekten, mit Ihren Erfahrungen und Ihrem Engagement; dafür steht diese Tagung.
IV. Wenn wir auf die Monate seit dem vergangenen Sommer zurück schauen, müssen wir uns allerdings auch fragen, ob wir mit der Herausforderung immer angemessen umgegangen sind, vor der wir stehen.
Alarmismus statt Aufmerksamkeit, Hysterie statt ruhiger und sachlicher Analyse, Schönfärberei statt Wachsamkeit - das ist gefährlich.
Es stimmt etwas nicht, wenn Unaufgeregtheit zum Vorwurf gemacht werden kann. Empörung darf weder selbstgefällig sein noch zur kleinen Münze im politischen Alltagsgeschäft werden.
Hüten wir uns davor, dass nicht mehr danach gefragt wird, wie etwas war oder ist, sondern nur noch danach, wie es hätte sein können!
In vielen Zeitungen und in Fernsehsendungen hat es besonnene Diskussionen darüber gegeben, wie die Entwicklung einzuordnen ist und was getan werden kann. Oft genug folgte die Berichterstattung in wichtigen Medien allerdings auch dem vom Konkurrenzkampf diktierten Prinzip, dass sich alles dramatisch zum Schlechteren entwickeln muss, weil nur grelle Schlagzeilen gute Schlagzeilen sind, weil nur schlechte Nachrichten Auflage und Quote machen.
Das verstellt nicht nur den Blick auf Ursachen und Hintergründe, das regt bekanntlich auch zur Nachahmung an. Ein Drittel der Straftaten des vergangenen Jahres wurden in den Monaten begangen, in denen besonders breit über den Rechtsextremismus berichtet wurde.
Auch bei der Berichtserstattung über rechtsextremistische Straftaten kommt es auf das richtige Maß und auf den richtigen Ton an.
Untertreibung und Überzeichnung - beides ist falsch. Nur wenn wir ein zutreffendes Bild der Wirklichkeit zeichnen, wird es dauerhaft die notwendige breite Unterstützung gegen Hass, gegen Gewalt und gegen rechtsextreme Irrlehren geben.
Zur angemessenen Wahrnehmung der Entwicklung gehört auch der besonnene Umgang mit Zahlen und Statistiken. Wenn die Zahl rechtsextremer Straftaten ansteigt, dann muss uns das beunruhigen. Wir müssen diese Entwicklung aber auch einordnen können:
Wie verhält sich diese Zahl zur Gesamtzahl registrierter Gewalttaten?
Steht dahinter vielleicht auch die höhere Aufmerksamkeit von Medien, Polizei und Öffentlichkeit?
Hat sich möglicherweise nicht so sehr die Zahl der Taten verändert als die Zahl der bei der Polizei angezeigten Taten?
Haben sich möglicherweise die Erfassungskriterien geändert?
Wir sollten auch sorgfältig abwägen, wie wir auf rechtsextremes Handeln und Verhalten reagieren. Repression ist nötig, weil die Demokratie sich nicht jede Provokation gefallen lassen muss und darf. Aber bestimmte Lästigkeiten müssen wir auch aushalten. Überreaktionen sind gefährlich, sie werden - oft zu Recht - als Zeichen von Unsicherheit gedeutet, und Druck erzeugt bekanntlich stets auch Gegendruck.
Sicher: Politische Kostümierungen können der Einschüchterung oder der Provokation dienen.
Wer aber das Tragen bestimmter Kleidung verbieten will, läuft Gefahr, sich in eine Dauerdebatte zu verstricken.
Ich will nicht für oder gegen Schuluniformen plädieren, aber interessanter als die Debatte über einVerbot finde ich die - ja auch von Jugendlichen geführte - Debatte, ob es nicht besser wäre, sich auf einGebot zu verständigen: nämlich darauf, eine gemeinsame Schulkleidung zu tragen.
Wenn das Demonstrations- und Versammlungsrecht zu weit eingeschränkt wird, dann gibt das rechtsextremen Akteuren die Chance zu immer neuen Provokationen. Wir müssen auch sorgfältig im Auge behalten, wann möglicherweise die Substanz von Grundrechten berührt ist. DenndieseÜberlegenheit unserer demokratischen Ordnung dürfen wir doch keinesfalls preisgeben: Innerhalb der gesetzlichen Grenzen gelten unsere Freiheits- und Bürgerrechte unterschiedslos für jeden und für jede.
Der Kampf gegen den Rechtsextremismus darf in unserem Rechtsstaat nur mit rechtsstaatlichen Mitteln geführt werden. Sonst gäben wir genau das auf, was wir doch schützen wollen.
Die selbstbewusste Demokratie sollte niemandem die Chance geben, sich dadurch interessant zu machen, dass er sich als Opfer angeblicher Verschwörungen und politischer Verfolgung stilisieren kann.
Auch eine ständig eskalierende Sprache wird rasch an die Grenzen ihrer Wirkung kommen. Dienen starke Sprüche nicht in erster Linie der Selbstbestätigung? Wir müssen uns fragen: Ist das rechtsextreme Milieu für verbale Ächtung überhaupt empfänglich? Rechtextreme seien, so habe ich neulich gelesen,"dumme, feige Kleingeister und asoziale Elemente unserer Gesellschaft." Das mag man für richtig halten oder nicht. Eine solche Stigmatisierung, so fürchte ich aber, wird doch eher dazu führen, dass sich die Gemeinten in ihrer Ausgrenzung bestätigt fühlen und sich noch enger zusammenschließen.
Wir dürfen die Situation weder verharmlosen noch beschönigen. Gewalt und Verfolgung, Verhöhnung und Leugnung historischer Ereignisse sind weder zu entschuldigen noch zu rechtfertigen. Aber wir müssen den Blick für dieganzeWirklichkeit gewinnen. Erst dann werden wir verstehen, warum rechtsextreme Gesinnung - oder eben bloß: Attitüde - sich mancherorts so hartnäckig hält oder sogar ausbreitet, warum rechtsextremes Gehabe gewissermaßen Bestandteil der Jugendkultur wird - trotz vielfältiger Bemühungen, dem entgegenzuwirken.
V. Natürlich gibt es jene rechtextremen Ideologen und zynischen Stichwortgeber, die man durch verständnisvollen Umgang, durch Dialog und Aufklärung nicht oder nur in seltenen Fällen erreichen kann. Auch darüber haben Sie auf Ihrer Tagung gewiss gesprochen. Hier haben Jugendarbeit und Pädagogik besonders wichtige Aufgaben: Wo kann akzeptierende Jugendarbeit erfolgreich sein und wo wird sie naiv, weil sie zynisch ausgenutzt wird?
Neben den Schreibtischtätern und den Unbelehrbaren gibt es aber auch die vielen Mitläufer, die gewaltbereit und sensationslüstern sind und denen dafür viele Begründungen willkommen sind. Und schließlich gibt es auch junge Menschen, die mit ihrem Verhalten auf ihre tatsächlich oder vermeintlich aussichtslose Situation aufmerksam machen wollen. Die dürfen wir nicht als hoffnungslose Fälle abschreiben. Wollen wir sie erreichen und wollen wir verhindern, dass andere Jugendliche ihnen folgen, dann müssen wir fragen: Was sind die Ursachen für ihre Bereitschaft, Gewalt anzuwenden und sich selber auszugrenzen? Wir müssen uns die Frage Ihrer Tagung stellen: Handelt es sich um Verirrung, um Provokation oder Protest?
Oft genug, so ist zu vermuten, wird der Irrweg eben nicht aus Überzeugung eingeschlagen, sondern um einen Tabubruch zu begehen. Wer Naziaufmärsche nachäfft oder den Arm zum sogenannten "Führergruß" hebt, der will oft gegen den letzten großen verbliebenen Konsens unserer Gesellschaft verstoßen: Die Verurteilung menschenverachtender Diktatur und die Entschlossenheit, in einer freien demokratischen Gesellschaft miteinander zu leben.
Welcher Tabubruch bliebe den Angehörigen einer jungen Generation, die ihre Eltern weder durch Kleidung noch durch Haartracht schockieren kann, weder durch "freie Liebe" noch durch Haschischkonsum, weil das die Tabubrüche sind, die ihre Eltern womöglich selber schon begangen haben? Welcher Tabubruch wäre in den neuen Ländern größer als der Verstoß gegen den antifaschistischen Ehrenkodex, der zum staatlich verordneten Selbstverständnis der DDR gehörte?
Dass nur um der Provokation willen provoziert wird, diese Erklärung griffe gewiss zu kurz.
Wogegen wird dann aber protestiert?
Was läuft in unserer Gesellschaft falsch?
Wo gibt es Defizite?
Welche sozialen Problem missbrauchen rechtsextreme Ideologen für ihre Zwecke?
Welches geistige Vakuum füllen sie?
Gewalt, darauf wird oft genug hingewiesen, ist häufig Ausdruck mangelnden Selbstbewusstseins. Das fehlt jenen, die chancenlos sind - oder die sich als chancenlos sehen. Wie sehr müssen sie sich in einer Gesellschaft herausgefordert und ausgegrenzt fühlen, die in Medien und Werbung dem Leitbild zu folgen scheint: "Ich und mein Maximum!"
Es geht letztlich nicht darum, ob jemand tatsächlich chancenlos ist oder sich lediglich so fühlt. Viele Menschen haben Angst vor der Globalisierung und davor, dass demokratische Politik und staatliches Handeln immer stärker von wirtschaftlicher Macht bestimmt werden. Manche empfinden Angst um den Arbeitsplatz und um ihre materielle Existenz. Sie haben das Gefühl, dass sie immer weniger Einfluss auf Vorgänge und Entscheidungen haben, die ihr Leben bestimmen. Die Welt, in der sie leben, erscheint ihnen immer fremder.
Wir sollten deshalb sehr sorgfältig darauf achten, ob das, was sich als Rechtsextremismus äußert, nicht auch Anzeichen eines tiefergehenden gesellschaftlichen Wandels ist, ob die Gewaltexzesse nicht der "Aufstand angstvoller Unterprivilegierter" sind, wie das jüngst ein kluger Beobachter formuliert hat. Manches spricht dafür, dass viele der Gewalttäter nicht von gefestigten ideologische Überzeugungen geleitet sind, sondern von einem ohnmächtigen Zorn über ihre ungewisse materielle Existenz und von mangelnder Orientierung. Wer nicht bei sich selbst ist, kann auch nicht bei Anderen sein," hat Wolf Biermann einmal gesagt. Wo Halt und Orientierung fehlen, da sind wesentliche Kontrollmechanismen außer Kraft gesetzt. Angst kann dann in Wut umschlagen, Wut über ein vermeintlich oder tatsächlich ungerechtes Schicksal als Verlierer. Dann ist der Weg nicht mehr weit in die Gewalt. Wer selber keine Anerkennung findet, der erkennt oft auch andere Menschen nicht an.
Wir müssen die Sorgen derer benennen und ernstnehmen, die sich in dem verunsichert fühlen, was für sie Identität, Tradition und Heimat bedeutet. Wer das Gefühl hat, dass seine Anliegen und Sorgen in der politischen Auseinandersetzung nicht zur Sprache kommen, wird nicht bereit sein, sich für die Demokratie einzusetzen.
Nun lebt jede Selbstfindung bekanntlich von der Unterscheidung. Der Wunsch, verschieden sein zu wollen, ist nicht nur verständlich, sondern auch wichtig. Jede und Jeder muss allerdings akzeptieren, dass Unterscheidung nie Verachtung heißen kann und darf.
Vor allem dürfen wir Patriotismus nie mit Nationalismus verwechseln. Ich wiederhole: Ein Patriot ist einer, der sein Vaterland liebt. Ein Nationalist ist einer, der die Vaterländer der anderen verachtet.
VI. In den zurückliegenden Wochen hat es eine - nicht immer sachliche - Debatte über die regionale Verteilung rechtsextrem begründeter Gewalt gegeben. Es ist unbestreitbar, dass es in den neuen Ländern weit mehr solcher Straftaten gibt als im Westen. Dafür gibt es verschiedene Erklärungen. Manche Ursachen liegen sicher in der unterschiedlichen Geschichte vor 1989. Darauf will ich hier nicht eingehen. Wichtig scheint mir, den Blick auf die Entwicklung seit der Vereinigung zu richten und auf die Situation seither.
Die Anstrengungen, die unternommen wurden, um die Situation im Osten Deutschlands zu verbessern, sind enorm. Ich denke hier nicht nur an die eindrucksvollen Transfersummen, sondern genauso an die großen Aufbau- , Lern- und Änderungsleistungen, die die Menschen in den neuen Ländern erbracht haben. Insgesamt hat es eindrucksvolle Fortschritte gegeben.
Die wirtschaftliche Situation in den meistern Teilen der neuen Länder ist aber unverändert weit schwieriger als im Westen. Ich will nur einen einzigen Aspekt nennen: die Zahl der jugendlichen Arbeitslosen ist in den letzten beiden Jahren bundesweit spürbar zurückgegangen - in den neuen Ländern hat sie dagegen um 12 % zugenommen! Sie läge noch deutlich höher, gäbe es nicht die erheblichen Anstrengungen der öffentlichen Haushalte.
Da kann es nicht überraschen, dass viele Menschen in den Westen abwandern. Es gehen vor allem junge Menschen, die mobil und gut ausgebildet sind, die vielleicht auch risikofreudiger sind als andere. Und der junge Bauzeichner, der fortzieht, hat in seiner Freizeit vielleicht die Jugendband geleitet, die Erzieherin, die geht, weil ihr Kindergarten geschlossen wurde, war vielleicht eine engagierte Trainerin im Sportverein. So verschwinden mit den Menschen auch die Träger sozialer Strukturen.
Die wirtschaftlichen Aussichten derer, die bleiben - die vielleicht auch aus einer besonderen Verbundenheit bleiben - , bessern sich nicht. Für ihre Freizeit gibt es immer weniger Angebote, in denen sie die Chance hätten, sich zu behaupten und anerkannt zu werden. Kann es da verwundern, dass bei Vielen Verbitterung entsteht, ja eine Spirale der Frustration und dass Enttäuschung und Ärger bei Manchen in Zerstörungswut oder gar in Gewalt gegen Schwächere umschlägt?
Nichts ist damit entschuldigt, und bekanntlich sind durchaus nicht alle Jugendlichen, die durch rechtsextremes Verhalten auffallen, ohne Arbeit oder ohne Ausbildungsplatz. Wir dürfen aber die Augen nicht verschließen vor den Zusammenhängen zwischen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung. Wir dürfen uns selber, wir alle, in Ost und West, nicht aus unserer gemeinsamen Verantwortung für unser ganzes Land entlassen. Wir müssen auch in Zukunft bereit sein zu helfen. Es geht eben nicht um "ein Fass ohne Boden" oder um die Finanzierung von sozialen Nischen - ich kenne diese herablassenden Schlagworte! Es geht um notwendige Solidarität in unserem vereinten Land, um Hilfe zur Selbsthilfe."Wir sind ein Volk!" - das muss mehr sein als ein fernes Echo aus dem Herbst 1989. VII. Extremes Verhalten am Rand der Gesellschaft ist oft genug ein Symptom für größere Missstände in der ganzen Gesellschaft. Wir dürfen deshalb vor allem die materiellen Sorgen nicht einfach abtun, die viele Menschen in unserer reichen Gesellschaft haben - in Ost und in West. Es kann uns doch nicht gleichgültig lassen, dass die Zahl der Sozialhilfeempfänger in unserem Land von 1973 bis 1998 von 800.000 auf 2,8 Millionen gestiegen ist - in den Jahren 1999 und 2000 ist die Zahl erfreulicherweise zurückgegangen, aber noch lange nicht genug! Darunter sind mehr als eine Million Kinder! Das lässt sich auch nicht durch die Vereinigung erklären. 2,7 Millionen Haushalte in Deutschland sind überschuldet.
Diese Zahlen führen uns auch vor Augen, wie schwierig die Situation in vielen Familien ist. Aber es ist nicht nur die materielle Situation der Eltern, die aus Kindern gewaltbereite Jugendliche machen kann. Wie viele von ihnen haben erfahren müssen, dass die Eltern keine Zeit für sie hatten! Wie vielen fehlte Zuwendung! Weil die Eltern erfolgreich sein wollten, oder weil sie nicht wussten, wie sie mit den Kindern umgehen sollten. Weil ihnen die eigene Lebensperspektive abhanden gekommen ist. Weil sie es selber nie anders erfahren haben.
Damit alle Eltern sich ihren Kindern widmen können, müssen auch materielle und rechtliche Voraussetzungen erfüllt sein. Manches ist schon geschehen, vieles muss noch geschehen, damit Deutschland ein kinder- und familienfreundliches Land wird. Dazu brauchen wir aber auch die Bereitschaft der Eltern, eigene Interessen und Ziele zurückzustellen - und wir brauchen die Bereitschaft der Gesellschaft, das zu honorieren.
Nun ist es ja wahrlich nicht so, dass jeder, der in seiner frühen Kindheit unter Lieblosigkeit hat leiden müssen, zum Gewalttäter programmiert ist. Es kommt entscheidend darauf an, dass im späteren Kindes- und im frühen Jugendalter die Weichen richtig gestellt werden, durch Menschen und Gemeinschaften: Durch Lehrer, Trainer oder ältere Jugendliche, in Schulen und Sportvereinen, in der Jugendfeuerwehr oder bei sozialem Engagement. Ich finde es besonders wichtig, dass auf Ihrer Tagung auch darüber beraten worden ist: Was kann man gegen Leerlauf tun und wie kann man verhindern, dass Menschen auf Irrwegen gehen?
Nur durch solche Angebote werden wir die Vielen erreichen, die gewaltbereit sind oder bereit, falschem Vorbildern zu folgen. Sie müssen eine Alternative, sie müssen Wege jenseits von Gewalt und Wege aus der Gewalt sehen. Sie müssen erfahren können, dass Stärke nicht gleichbedeutend ist mit körperlicher Kraft, mit Bewaffnung und machohaften Auftreten. Sie müssen begreifen können, dass blinder Gehorsam und bedingungslose Gefolgschaft keine Tugenden sind, sondern dass sie mit Selbstaufgabe und Untertanengeist zu tun haben.
VIII. Wenn es uns gelingt, jungen Menschen Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit zu vermitteln und das Gefühl, anerkannt zu sein, wenn wir ihnen die Chance geben, sich zu bewähren und sich im positiven Sinne auch "auseinander zu setzen", dann können wir die Voraussetzungen und die Bereitschaft schaffen für selbständiges und kritisches Denken und Handeln.
Wer als Kind in der Familie, im Freundeskreis und in der Schule die Erfahrung macht, dass er mit seinen Schwächen und Fehlern als Persönlichkeit geliebt und respektiert wird, der wird von der Würde der eigenen Person überzeugt sein - und damit am ehesten auch von der Würde Anderer. Wer das erfahren hat, der wird besonders sensibel dafür sein, wann die Rechte Anderer verletzt werden.
Wer in Konflikt und Auseinandersetzung gelernt hat, sich zu behaupten, wird am ehesten den Mut aufbringen, für seine Überzeugungen auch in der Minderheit oder gegen Widerstand einzutreten. Darauf kommt es doch an! Sich auch unter schwierigen Umständen für das für einmal als Recht Erkannte einzusetzen - ohne diese Zivilcourage kann unserer Gesellschaft nicht leben.
Zivilcourage beginnt damit, sich im Bekannten- und Kollegenkreis gegen rohe Sprüche und fremdenfeindliche Bemerkungen zu wenden.
Zivilcourage ist gefordert, um sich schlimme Witze über Juden, Polen oder Türken zu verbitten.
Zivilcourage heißt, nicht schweigend zuzuschauen, wenn im Bus, in der Bahn oder auf dem Schulhof Pöbeleien oder Gewalt drohen.
Zivilcourage heißt, als Lehrer oder Lehrerin, jenseits des eigenen Faches über Anstand, über Feigheit und Menschenwürde zu sprechen. Ja, es gehört Courage dazu, den Meinungsführern einer Klasse ein paar angeblich altmodische Wahrheiten zu sagen!
Das macht es auch nötig, sich mit Fakten und Argumenten auszustatten, um die inhaltliche Auseinandersetzung führen zu können. Das bedeutet, anders Denkende - selbstdieseanders Denkenden - nicht einfach nur zu verurteilen und zu beschimpfen, sondern sie zu überzeugen suchen - durch das bessere Angebot, die bessere politische Lösung, die ehrlichere Perspektive.
Wir müssen Irrlehren Fakten gegenüberstellen, wir müssen - und das ist vielleicht das Wichtigste - gegen das rechtsextremistischen Weltbild die demokratischen Werte im Alltag leben.
In einem Satz: Es gilt, nicht nurgegenetwas einzutreten - gegen Rechtsextremismus, gegen Fremdenfeindlichkeit, gegen Gewaltverherrlichung,
sondern auchfüretwas: Für Toleranz, für die Achtung der Menschenwürde, für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.