Redner(in): Johannes Rau
Datum: 24. Juni 2001

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/06/20010624_Rede.html


Mein Damen und Herren,

Ich bin jetzt zwei Jahre in dem Amt, das mir anvertraut ist. Ich weiß nicht, wie oft ich Präsident Kwasniewski schon getroffen habe, aber ich weiß, dass ich heute schon zum zweiten Mal in Danzig bin, in dieser wunderschönen Stadt.

Wenn ich alle Bürger Danzigs und alle Ehrenbürger begrüße, dann habe ich Hans Koschnick schon mitbegrüßt, denn er ist einer der Ehrenbürger dieser Stadt. Danzig und Bremen - zwei Städte, die schon im 14. Jahrhundert gemeinsam Mitglieder der Hanse waren und seit 25 Jahren Partnerstädte sind. Was sind 25 Jahre? Das ist eine knappe Zeit, in der mehr als tausendjährigen deutsch-polnischen Geschichte. Aber in dieser Zeit und erst recht in den zehn Jahren seit der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages haben wir viel miteinander zustande gebracht an Brückenbauten und an Freundschaft.

Inzwischen gibt es 730 deutsche und polnische Städte, die durch Partnerschaften miteinander verbunden sind. Diese Partnerschaften sind zum Teil ganz ungewöhnlich, denn einige von ihnen stammen noch aus der Zeit, in der man in Deutschland viele Städte in Polen als deutsche Städte ansah. Die Partnerschaft von Wuppertal und Liegnitz ist ein solches Beispiel. Dass die Partnerschaft durchgehalten hat bis heute und dass sie weiter existiert, das ist ein Zeichen der Veränderung, die wir in Europa erleben.

Das Staunen über diese Veränderung hört überhaupt nicht auf, und wir in Deutschland staunen immer noch über den 9. November 1989, und über den 3. Oktober 1990, den Tag der deutschen Einheit. Wir wollen uns das Staunen und die Freude nicht nehmen lassen, auch wenn es noch ein langer Weg ist, bis die Deutschen auch innerlich wieder zueinander gefunden haben.

Das, was wir jetzt erleben und was wir heute feiern, das wäre nicht denkbar ohne die Ungenannten und die zu Nennenden, die zwischen Bremen und Danzig eine solche Partnerschaft aufgebaut haben. Den Bürgermeistern danken wir ganz besonders herzlich, aber nicht nur den Bürgermeistern, sondern auch den Schulkindern und Sportvereinen, den Lehrern und Chören, Menschen unterschiedlichster Art, die sich nicht damit abfinden wollten, dass es so willkürliche Grenzen in Europa gab.

25 Jahre, das lenkt den Blick zurück auf das Jahr 1976. Heute kommt uns das sehr weit weg vor, aber ich erinnere die Polen daran: Damals gab es in Polen kräftige Erhöhungen der Lebensmittelpreise, und die Regierung schlug heftig zu. Es gab Anlass zu großen Unruhen. Ich erinnere die Deutschen: 1976, da wurde Wolf Biermann ausgebürgert aus der damaligen DDR, weil er ein Konzert in Köln gegeben hatte, bei dem er missliebige Texte gesungen hat. Beide Situationen - Regierungshandeln gegen Volkszorn, Ausbürgerung eines Künstlers- beide Situationen können wir uns heute nicht mehr vorstellen. Es ist gut, dass unsere Vorstellungskraft nicht ausreicht, sich so etwas für die Zukunft zu denken, denn die Zukunft soll anders sein als die Gegenwart jener Tage gewesen ist. Dass gegen solche Strömungen in Polen und in Deutschland die Bremer und die Danziger zusammengefunden haben, das ist ein Anlass zu heller Freude und zu großer Dankbarkeit.

Wir hätten in Deutschland das, was wir 1989/90 erlebt haben, nicht erleben können ohne Prager Frühling, ohne Solidarnosc in Polen, ohne ungarische Renitenz. Wir haben herzlich dafür zu danken, denn dass die Deutschen eine Revolution zum Gelingen brachten, zum ersten Mal in ihrer Geschichte, das war nur möglich, weil vorher andere diese Revolution möglich gemacht haben. Deshalb sind wir in einem europäischen Verbund der Dankbarkeit. Das feiern wir heute.

Aber jetzt darf es nicht beim Feiern bleiben, sondern jetzt muss es voran gehen mit der Einigung Europas, jetzt muss Europa auch als Institution neue Mitglieder gewinnen. Da gibt es Skepsis. In Polen, in Deutschland, in Slowenien, in Tschechien, in Ungarn, aber auch in Spanien und Portugal. Wir müssen die Skepsis mit Argumenten widerlegen und uns auf den Weg machen zu einem neuen, größeren Europa, das friedlich bleibt und das Frieden in seinen Grenzen, in seinen veränderten Grenzen sichert.

Es ist ja keine Selbstverständlichkeit, dass inzwischen die Grenzen in Polen und Deutschland nicht mehr umstritten sind. Ich habe noch Wahlkämpfe in Erinnerung, da war das ein heißes und hartes Thema.

Wir haben davon gesprochen, als 1978 zum ersten Mal ein Pole zum Papst gewählt wurde. Hans Koschnik wird es erlebt haben, wie da die Ministerpräsidenten zusammensaßen und der saarländische Ministerpräsident Röder sagte: "Da habe ich es ja doch richtig gemacht, als ich den Ostverträgen zugestimmt habe."

Man muss sich heute bewusst machen, was das für Schritte gewesen sind, aber jetzt kommt es darauf an, dass wir die nächsten Schritte tun. Einer der nächsten Schritte ist der Weg Polens in die Europäische Union. Ich gehöre zu denen, die diesen Schritt für zwingend halten und die sich wünschen, dass er bald möglich ist, und das beide Seiten alles tun, damit er gelingen kann.

Präsident Kwasniewski und ich sind zu Fuß hierher gekommen und ich hatte einen hervorragenden Begleiter, der mir vieles hier in den Straßen dieser schönen Stadt erzählt hat. In Wirklichkeit war dieser Fußweg aber auch ein Stück deutscher Heimatkunde. Überall begegneten uns Menschen, die grüßten und die sagten: "Ich komme aus Bielefeld" und "Ich komme aus Augustdorf","Ich komme aus Stuttgart". Die Stadt ist voller deutscher Touristen. Man freut sich, denn deutsche Touristen im Ausland sind immer freundlicher als Deutsche bei uns.

Vor allen Dingen freut mich die Selbstverständlichkeit, mit der wir uns heute begegnen. Die Selbstverständlichkeit und die Unbefangenheit, die ist nicht selbstverständlich. Nach der deutsch-polnischen Geschichte des letzten Jahrhunderts, aber auch nicht nach der polnischen Geschichte der letzten vier- , fünfhundert Jahre mit den schrecklichen Teilungen und mit den schrecklichen Versklavungen von Teilen Polens.

Dies stolze Volk der Polen hat in den Deutschen gute Freunde. Das soll so bleiben und dem sollen nicht nur die Präsidenten und die Kanzler dienen, sondern auch die, die Städtepartnerschaften nicht nur gründen, sondern beleben, nicht nur protokollieren, sondern erfüllen mit dem Geist der Freundschaft, der Neugier und des Zusammenwachsens.