Redner(in): Johannes Rau
Datum: 30. Juni 2001
Anrede: Meine Damen und Herren,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/06/20010630_Rede.html
herzlich willkommen und herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Jubiläum.
Es gibt noch ein anderes, kleineres Jubiläum. Seit fast dreißig Jahren gibt es den "Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten" : Jedes Jahr ein neues Thema. In diesem Jahr ging es um des Verhältnis zwischen Mensch und Tier. Es hieß: "Genutzt - geliebt - getötet. Tiere in unserer Geschichte."
Da haben mehr als 7000 Schülerinnen und Schüler 1600 Aufsätze eingereicht. Soviel wie nie in den vergangenen zehn Jahren. Ganz offensichtlich hat dies Thema den Nerv der jungen Menschen getroffen.
Ich konnte mir schon vor der Entscheidung über die Preisträger, die im August fallen soll, einige der eingereichten Arbeiten ansehen. Ich bin froh über das große Engagement genauso wie über die hohe Qualität der Aufsätze.
Die jungen Menschen haben sich viele gute und interessante Gedanken gemacht über den Schutz und über den Umgang mit Tieren, die für mich unsere Mitgeschöpfe sind.
Da schreibt eine Schülerin aus Mainz: "Der Mensch nutzt das Tier, und an dessen Wohlbefinden ist er gewöhnlich nur in dem Maße interessiert, in dem es die Effizienz seines Wirtschaftshandelns erhöht."
Weiter: heißt es: "Tiere sind keine maschinenhaften, automatenhaften Wesen, das weiß jeder. Dennoch", so schreibt die Schülerin,"wird das Nutztier nur noch als Ware betrachtet."
Das beschreibt leider einen großen Teil unserer Wirklichkeit.
Das liegt gewiss auch daran, dass sich die meisten Menschen mit dem Schicksal von Nutztieren gar nicht beschäftigen wollen. Bewusst wollen sie das nicht. Sie wissen oder sie ahnen zumindest, dass sie sonst von ihrem schlechten Gewissen erreicht würden. Nach meinem Eindruck wird da viel, viel zu viel verdrängt.
So kommt es, dass auch viele Menschen, die zu Hause ein Haustier ganz selbstverständlich zur Familie zählen, unbesehen die billigsten Produkte an der Fleischtheke kaufen, ohne zu fragen: Unter welchen Bedingungen hat dies Tier gelebt?
Zwischen Haustieren und Nutztieren wird künstlich unterschieden.
Das Verhältnis des Menschen zum Tier ist außerordentlich schwer zu fassen. Schon in der Antike haben sich viele Philosophen daran versucht. Das geht über Platon, Aristoteles und Cicero bis zu Ovid und Seneca. Ich lese nichts davon vor.
Es gibt ganze Anthologien über das Tier im abendländischen Denken. Trotzdem haben wir auch im 21. Jahrhundert weder rechtlich noch ethisch ein abschließendes Urteil gefunden, das alle anerkennen.
Für den Kirchenvater Augustinus und für Thomas von Aquin hatten Tiere keine unsterblichen Seelen und konnten deshalb auch nicht Träger von Rechten sein. Allerdings lehnten auch die beiden Tierquälerei entschieden ab.
Ganz anders Franz von Assisi: Er predigte den Tieren. Wir alle kennen sein Gedicht an die Sonne. Er empfand sie als Brüder und Schwestern. Er sah in den Tieren nicht nur ein Objekt der Nutzung, sondern Schutzbefohlene, die ein Recht darauf haben, angemessen behandelt zu werden. Für Franz von Assisi waren Liebe und Barmherzigkeit gegenüber den Tieren auch ein Zeichen der Menschlichkeit.
Als Vater des modernen Tierschutzes gilt häufig Arthur Schopenhauer. Für ihn unterschied sich der Mensch vom Tier nur durch den höheren Intellekt, durch die Vernunft und durch die Fähigkeit, abstrakte Begriffe zu bilden.
Grundsätzlich sah Schopenhauer eine Wesensgleichheit zwischen Mensch und Tier, und diese Wesensgleichheit verpflichte den Menschen.
Heute widerspricht niemand mehr dem Ziel, Tiere zu schützen. Was das aber konkret bedeutet, wie weit die Verpflichtungen von Menschen gegenüber Tieren gehen, das wirft nach wie vor viele Fragen auf, die unterschiedlich beantwortet werden.
Es gibt nur wenige, die hier zu schnellen Urteilen kommen und die wissen, was absolut richtig ist und was absolut falsch ist. Wir müssen Grenzen setzen. Das tut das Tierschutzgesetz. Aber dieses Gesetz muss weiterentwickelt werden.
Zu selten machen wir uns die Dimensionen bewusst, über die wir sprechen. In Deutschland leben über 140 Millionen Nutztiere: Schweine, Rinder, Hühner, Schafe und Pferde. Dazu kommen mehr als 90 Millionen Haustiere.
Allen die sich für den Schutz und für die Rechte unserer Mitgeschöpfe einsetzen, denen sage ich meinen großen Respekt. Sie machen sich verdient um eine bessere Gesellschaft.
Professor Grzimek, den wir alle, die Älteren jedenfalls, noch in Erinnerung haben, hat das einmal so gesagt: "Der Mensch ist Teil der Natur und kann ohne sie nicht leben. Deshalb ist Naturschutz auch Menschenschutz". Ich finde, er hat Recht.
II. Wir hatten eine BSE-Krise, in Wirklichkeit eine Krise unserer Form von Ackerbau und Viehzucht. Ich habe die Diskussion um das Aufkaufprogramm der Europäischen Union wie viele von uns hier mit Sorge und vielen Vorbehalten gesehen.
Ich bin in gewisser Weise froh darüber, dass das Programm kein Erfolg war. Es sind nicht 400.000 Rinder geschlachtet worden, sondern - zumindest bislang - nur 80.000. Ein guter Teil des wertvollen Fleisches ist nicht sinnlos vernichtet worden, sondern kann als Nothilfe nach Nordkorea gehen. Das wäre richtig.
Aber ein solches Programm muss eine einmalige Angelegenheit bleiben. Eine solche Situation darf sich nicht wiederholen.
Darum muss die konventionelle Landwirtschaft zu einer standortgerechten und angepassten Bewirtschaftung finden. Aus vielen Briefen und Gesprächen weiß ich, dass auch die Landwirte daran interessiert sind. Auch sie wollen in ihrer großen Mehrheit keine industrielle Massentierhaltung und keine "chemische Keule".
Verbraucherinnen und Verbraucher müssen aber mitziehen: Qualität hat ihren Preis. Wir brauchen ein neues Bewusstsein für die Qualität und für den Wert von Nahrungsmitteln.
Mit der Devise "Immer höhere Erträge zu immer niedrigeren Kosten" sind wir ganz offensichtlich am Ende einer Sackgasse angekommen.
Es geht nicht darum, dass alle Bauernhöfe zu Öko-Bauernhöfen werden oder dass wir alle Vegetarier oder gar Veganer werden. Meine Sache ist das jedenfalls nicht. Ich bin auch nicht der Auffassung, dass alle Landwirte Ökobauern werden müssen. Menschen essen auch Fleisch. Vielleicht liegt das in ihrer Natur, wie es auch in der Natur vieler Tierarten liegt.
Wir brauchen also Nutztiere. Das darf aber nicht bedeuten, dass das Schlachtvieh quer durch Europa transportiert werden muss, dass es artwidrig ernährt und dass es auf engstem Raum zusammengepfercht wird. Hier gibt es Grenzen, die in der Vergangenheit jedenfalls nicht von allen beachtet worden sind. Wir dürfen unseren Wohlstand nicht auf dem Leid der Tiere aufbauen.
Unser Ziel kann nicht die Bauernhofidylle unserer Urgroßeltern sein, die ja oft im Rückblick idyllischer erscheint als sie tatsächlich war. Unser Ziel muss der Schutz der Tiere sein und der Schutz der Menschen vor Nahrungsmitteln, die krank machen.
Dafür müssen alle Verantwortung übernehmen.
III. Am 12. April dieses Jahres habe ich das "Gesetz zur Bekämpfung gefährlicher Hunde" unterschrieben.
Viele haben mir vor der Unterzeichnung und auch noch nach der Unterzeichnung geschrieben. Jeden Samstag kommt eine Demonstration vor unsere Wohnung in Berlin. Die haben mich alle mehr oder weniger deutlich darum gebeten, das Gesetz zu verhindern.
Das waren häufig ganz verzweifelte Menschen, - ich habe am vergangenen Samstag mit ihnen diskutiert - , Menschen, die seit vielen Jahren mit einem Tier zusammenleben, das ihnen ans Herz gewachsen ist wie ein Familienmitglied. Viele Photos habe ich bekommen, zum Beispiel von Pitbull-Terriern, die friedlich mit Kindern oder Enkelkindern spielen.
Plötzlich soll dieses Familienmitglied ein gefährlicher "Kampfhund" sein? Das ist für die Betroffenen schwer zu verstehen.
Wenn aber ein Hund nicht mehr Gefährte, nicht mehr Haustier ist, sondern Waffe, dann muss der Staat handeln. Dass ein Sechsjähriger von Hunden zerfleischt wird und ein 73-Jähriger schlimm entstellt wird, das kann man nicht einfach mit Bußgeld ahnden. Da musste die Schärfe des Gesetzes her.
Das heißt nicht, dass alle Hunde der im Gesetz genannten Rassen aggressiv oder bösartig sind. Das heißt auch nicht, dass diejenigen, die sich vor dem Inkrafttreten des Gesetzes einen Hund aus diesen Rassen gekauft haben, verantwortungslos sind. Das wäre falsch und das diskriminierte die ganz große Mehrheit der verantwortungsbewussten Hundehalter.
Es gibt aber auch verantwortungslose Hundehalter, die einen Hund zur Waffe machen. Diese Hundehalter dürfen wir nicht gewähren lassen. Was sie tun, das ist in meinen Augen Tierquälerei.
Ob das Bundesgesetz in der bestehenden Form und die Landesgesetze das angemessen verhindern können, das wird noch lebhaft diskutiert. Hier kann es gewiss auch Änderungen geben.
Lassen Sie mich hinzufügen: Für meine Unterschrift unter ein Gesetz kommt es nicht darauf an, ob ich es für richtig oder falsch halte. Ich bin verpflichtet, ein Gesetz zu unterschreiben, wenn es ordnungsgemäß beschlossen worden ist und wenn es nicht offensichtlich gegen unsere Verfassung verstößt.
IV. Nun habe ich schon zwei unpopuläre Themen erwähnt, da will ich auch vor einem dritten nicht zurückschrecken: Dem Thema der Tierversuche.
Die Vivisektion war eine der wesentlichen Ursachen, die zur Gründung von Tierschutzvereinen in Deutschland geführt hat. Seither hat sich vieles zum Besseren gewendet, auch dank des großen Engagements der Tierschützer.
Der grundsätzliche Konflikt bleibt aber bestehen: Die grundgesetzlich verbriefte Freiheit von Forschung und Wissenschaft auf der einen Seite und der im Grundgesetz nicht oder noch nicht festgeschriebene Tierschutz.
Tierversuche haben ohne Zweifel zum wissenschaftlichen Fortschritt in der Humanmedizin beigetragen. Ohne Zweifel brauchen wir in der Humanmedizin auch weiteren Fortschritt.
Wir brauchen aber auch verstärkte Forschungsanstrengungen, damit möglichst viele Tierversuche überflüssig werden. Darin sehe ich eine ganz wichtige wissenschaftliche Aufgabe. Dafür haben die Forscher meine uneingeschränkte Unterstützung.
Ich appelliere an alle, die heute noch Tierversuche durchführen:
Tiere sind keine Sachen, mit denen wir nach Belieben verfahren können. Tiere sind Lebewesen, Mitgeschöpfe, die unsere Aufmerksamkeit und unser Mitleid verdienen. Tiere empfinden Schmerzen. Das gilt nicht nur für die 40 Millionen Haustiere, das gilt auch für die 1,6 Millionen Versuchstiere ( Stand 1999 ) . Das sollten wir nie vergessen!
V. Carl Friedrich von Weizsäcker, der Philosoph und Physiker, dem ich sehr viel verdanke, hat einmal zu Recht gesagt: "Wer im Tierschutz selbstkritisch genug ist, der erkennt auch die Gefahr, dass der Kampf für die Gerechtigkeit im Pathos des Hasses" auftreten kann.
Die Wut über das, was Menschen aus oft niedrigen Beweggründen den Tieren antun, lässt Menschen als Unmenschen erscheinen.
Trotzdem darf sich niemand in die Rolle des Menschenfeindes drängen oder gar zum potentiellen Terroristen werden; wenn Zorn über unmenschliche Tierquälerei in einen Hass umschlägt, der das Mitgefühl mit den Opfern und unsere Hilfsbereitschaft übersteigt, dann gehen wir für den Tierschutz verloren: Die gequälten Tiere brauchen uns als Anwälte und als Helfer, nicht als gewalttätige Rächer!
VI. Tiere können viele Bedürfnisse von Menschen erfüllen. Die enge Beziehung zu einem Tier kann das Bedürfnis nach Zuneigung befriedigen und kann in schwierigen Lebenssituationen Trost geben. Ich selber könnte davon erzählen und ich gerate ins Schwärmen, wenn ich von meinem Hund berichte.
Tiere haben besonders auf Kinder große Anziehungskraft. Der Wunsch, ein Tier zu besitzen, steht auf vielen Wunschlisten an oberster Stelle.
Der Umgang mit Tieren - die tägliche Zuwendung, das Füttern, das Pflegen, das Spazieren gehen - fördern die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu verantwortungsbewussten Menschen.
Ich bitte aber die Eltern, bevor sie den Wunsch nach einem Tier erfüllen, wirklich über die Konsequenzen und Pflichten nachzudenken, die daraus erwachsen, und darüber mit den Kindern zu sprechen und verbindliche Verabredungen zu treffen.
Das war auch für die Schülerinnen und Schüler des Wettbewerbs der Körber-Stiftung ein wichtiges Thema.
Leverkusener Schüler haben dazu geschrieben: "Leider machen sich die wenigsten Menschen über die Bedeutung der Haustierhaltung Gedanken, und so landen jedes Jahr zur Urlaubszeit die tierischen Weihnachtsgeschenke - Hunde, Katzen, Meerschweinchen - im Tierheim."
Ich fürchte, die Schüler haben Recht.
Weil heute das Wochenende ist, an dem die Ferien in einigen Ländern der Bundesrepublik und in Belgien beginnen, wir merken es ja am Straßenverkehr, darum sage ich noch einmal: Es ist schrecklich, dass jedes Jahr Tausende Haustiere zur Urlaubszeit ausgesetzt werden. Das ist verantwortungslos. Das ist auch nicht durch den Wunsch nach Erholung und Entspannung zu rechtfertigen. Es gibt ja Lösungen, wenn man sich nur ein wenig bemüht. Darum bitte ich Sie von hier aus: Seien Sie mitfühlend, bevor Sie in Urlaub fahren.
Der Deutsche Tierschutzbund organisiert seit einigen Jahren die Aktion "Nimmst Du mein Tier, nehm ich Dein Tier". Ich finde, das ist eine tolle Sache. Dafür sage ich Ihnen meinen herzlichen Dank.
Ich erwähne diese Aktion stellvertretend für die vielen guten Aktionen und Kampagnen, die der Deutsche Tierschutzbund in den nunmehr 120 Jahren seines Bestehens gemacht und angestoßen hat.
Ich habe viele Jahre und in unterschiedlichen politischen Ämtern die Arbeit des Deutschen Tierschutzbundes beobachtet und begleitet. Sie haben mit vielen guten Vorschlägen die Politik und auch das Bewusstsein der Menschen verändert.
Ich bin sicher: Wenn es zur Feier des 120. Geburtstages des Deutschen Tierschutzbundes eine Konferenz der Tiere gäbe, dann würde die Arbeit der Tierschützer so gewürdigt, wie sie das verdient und wie auch ich das für richtig halte.
Im Deutschen Tierschutzbund engagieren sich 700.000 Menschen in 715 Vereinen für einen besseren Schutz von Tieren und damit auch für mehr Menschlichkeit in unserer Gesellschaft. Die meisten von Ihnen tun das ehrenamtlich.
Unsere Gesellschaft lebt von der ehrenamtlichen Arbeit vieler Frauen und Männer. Ohne die Ehrenamtler wäre unser Gesellschaft kälter und herzloser. Vieles von dem, was sie tun, kann der Staat nicht leisten oder jedenfalls nicht so gut leisten.
Ich weiß, dass die Tierschutzvereine in den Städten und Gemeinden auch öffentliche Aufgaben wahrnehmen, die Geld kosten. Ich weiß auch, dass es da manchmal Probleme mit den Städten und Gemeinden gibt.
Darum wünschte ich mir, dass manche Kommune trotz der bekannten finanziellen Probleme, die sind mir natürlich auch nicht fremd, etwas mehr Entgegenkommen zeigte.
Das könnte die Arbeit des Deutschen Tierschutzbundes in den nächsten 120 Jahren vielleicht ein bisschen leichter machen und es könnte die vielen ehrenamtlichen Mitstreiterinnen und Mitstreiter ermutigen, sich auch in Zukunft zu engagieren.
Ich sage Ihnen für die Arbeit, die Sie alle in den vergangenen Jahren geleistet haben, meinen herzlichen Dank und ermutige Sie, nicht müde zu werden.
Herzlichen Dank.