Redner(in): Johannes Rau
Datum: 11. Juli 2001

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/07/20010711_Rede.html


Die Fünfzig, die wenigsten hier werden das wissen, die steht in der Bibel. Im vierten Buch Mose steht, so die Männer in Israel fünfzig Jahre alt werden, sollen sie nicht mehr arbeiten. Kaum jemand kennt diesen Text und kaum jemand weiß, wie es dann weitergeht. Noch mal: So die Männer in Israel fünfzig Jahre alt werden, sollen sie nicht mehr arbeiten, sondern ihren Brüdern dienen. Das ist die Pointe.

Mit Fünfzig, da kann man aufhören sich um sich selber zu drehen. Da kann man aufhören, am eigenen Bild zu schnitzen. Da kann man für die Brüder da sein. Und wo wäre das schöner und leichter, als in einer Organisation, wie der UNESCO.

Nun ist die UNESCO ja älter als Fünfzig. Aber wir, die Deutschen, damals die Westdeutschen, wir sind seit fünfzig Jahren dabei - und das ist doch ein besonderes Datum.

Wenn man sich die historische Situation von 1951 noch einmal in Erinnerung ruft: Der Krieg war sechs Jahre vorbei. Die Bundesrepublik ist zwei Jahre alt. Noch nicht einmal im Trotzalter angekommen. Sie hat kaum Konturen gewonnen. Wie wird dieser neue deutsche Staat sich entwickeln und wie wird er mit seiner Vergangenheit umgehen?

Sechs Jahre nach dem deutschen Zusammenbruch, nach der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus und sechs Jahre nachdem die Vereinten Nationen eine Organisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur gegründet haben, nämlich die UNESCO.

Dieser Initiative lag die Einsicht zu Grunde, dass Friede nicht allein gegründet werden kann auf politische und auf wirtschaftliche Abmachungen von Regierungen. Ein Friede der fest verankert, der dauerhaft sein soll, muss, so heißt es im Gründungsdokument der UNESCO, auf der Grundlage der geistigen und moralischen Verbundenheit der Menschen errichtet werden. Und aus diesem Geist heraus ist damals die Bundesrepublik aufgenommen worden und damit hat sich deutschen Bildungsexperten und Wissenschaftlern, Künstlern und Journalisten wieder die Möglichkeit eröffnet, zum ersten Mal internationale Kontakte zu knüpfen, Anerkennung zu finden, außerhalb Deutschlands.

Ich habe gerade gestern einen Gesprächspartner gehabt, der erzählte jungen Leuten von seiner Zeit während des Nationalsozialismus. Und er sagte: ich hatte nie was anderes als deutsche Radiosendungen, nie was anderes als deutsche Zeitungen, nie was anderes gelesen, als was damals konform war. Und er erzählte dann, wie die Öffnung nach 1945 sein Leben verändert und ihn zuerst völlig verwirrt hat.

Das war damals ein großartiger Vertrauensvorschuss für Deutschland, der mitgeholfen hat, den schwierigen Weg der Versöhnung wirklich zu gehen.

II. Wir Deutschen haben der UNESCO viel zu verdanken. Während der vielen Jahre der Teilung unseres Landes haben wir erfahren: Auch die UNESCO hilft mit, dass der innerdeutsche Gesprächsfaden nicht nur erhalten, sondern ausgebaut wird.

Es war die deutsche und es war die polnische UNESCO-Kommission, die 1972 einen Vertrag abschlossen, mit dem eine gemeinsame Schulbuchkommission für Geschichte und Geographie eingerichtet wurde. Dem ein oder anderen hier wird der Name Georg Eckert etwas sagen. Ich kann mich gut daran erinnern, wie wir damals zusammengesessen und deutsche und polnische Bücher verglichen haben. Was wissen wir Deutschen von den Polen, was wissen die Polen von uns. Welche Wahrheiten werden da zu Irrtümern erklärt und welche Irrtümer als wahr ausgegeben.

Die Arbeit dieser Kommission ist nicht einfach gewesen. Aber die Mühsal der Kärrnerarbeit hat sich gelohnt. Heute haben Schülerinnen und Schüler eine bessere Chance, als ihre Eltern und Großeltern, sich ein Bild vom Nachbarn zu machen, das zutrifft und dass umfassend ist.

Heute versucht Deutschland nun im Rahmen der UNESCO mitzuhelfen, dass Vertrauen und Verstehen da wächst, wo Nachbarn sich bisher voller Misstrauen und Missverständnis gegenüber stehen.

Ich will dafür zwei Beispiele nennen:

Gemeinsam mit der deutschen Wirtschaft will die UNESCO im Internet gelungene Projekte des kulturellen Dialogs vorstellen. Dazu gehört der Einsatz eines Internetservers in Sarajevo. Der ist in Stuttgart ausgetüftelt worden, und mit Hilfe dieses Servers sollen Schüler aus allen Bevölkerungsgruppen Zugang zu gleichen Bildungsinhalten bekommen. Inzwischen hat das Projekt bewiesen: Das Internet kann albanisch, kann serbisch, kann kroatisch, kann bosnisch sprechen und man muss nicht warten bis zur Genehmigung neuer Schulbücher, um interessante Lernmaterialien auf neuen Wegen zu verbreiten.

Ein anderes Beispiel, und das liegt nun heute besonders nahe zu erwähnen, ist die Kooperationsvereinbarung, die die israelische und die palästinensische UNESCO-Kommission vor vier Jahren mit der deutschen Kommission getroffen haben. Seitdem haben in Deutschland, in Israel und in Palästina Dutzende von Begegnungen stattgefunden. Da sind Jugendliche, da sind Lehrerinnen und Lehrer aller drei Seiten zusammengekommen, um gemeinsam zu lernen. Ich bin ein paar mal dabei gewesen und ich weiß, wie fruchtbar das sein kann.

Gegenwärtig - wir wissen alle, wie die Situation ist - ist diese Möglichkeit eingeschränkt, aber sie ist nicht völlig verschüttet. Und darum möchte ich an die Initiatoren appellieren, machen sie weiter so, so bald das wieder geht!

III. Den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland in die UNESCO hat seinerzeit, also vor 1951, die deutsche UNESCO-Kommission mit vorbereitet. Sie wurde im vergangenen Jahr fünfzig. Und bis heute lebt diese Arbeit vom ehrenamtlichen Einsatz der deutschen Partner der UNESCO. Von denen sind heute viele hier und denen möchte ich herzlich danken für ihr großes Engagement. Sie haben in fünf Jahrzehnten geduldig, beharrlich und mit klaren Zielen viele Maschen in dem weltweiten Netz der Zusammenarbeit und des Vertrauens geknüpft, auf das wir angewiesen sind.

IV. Sehe ich mir das Verhältnis von Nord und Süd an, dann hat die UNESCO auch dort wichtige Brücken geschlagen. Sie hat in den Ländern der Dritten Welt Erziehungsprojekte vorangebracht, von der Alphabetisierung bis zur Informatik. In aller Welt sind junge Leute in Projektschulen dabei, die Ziele der UNESCO zu verwirklichen. Und ich glaube, diese Schulen und die Liste des kulturellen Welterbes, gehören zu den erfolgreichsten Programmen der UNESCO überhaupt. Sie fördern die Neugier der Menschen aufeinander, das Interesse am anderen und das Bewusstsein dafür, dass wir in der einen Welt leben.

Im Bemühen, das gemeinsame kulturelle Erbe der Menschheit zu bewahren, gibt es eindrucksvolle Erfolge, es gibt aber auch tragische Rückschläge. Denken Sie an die großartige Kampagne zur Rettung der Denkmäler in Abu Simbel. Aber wer kann das Bild vergessen, von den Felslöchern in Bamiyan, aus denen die Buddhastatuen herausgesprengt worden sind, von Fundamentalisten. Der Fundamentalismus ist immer der eigentliche Feind des Glaubens, nicht sein Fundament. Die UNESCO hat alles versucht, um die Frevel zu verhindern.

In beiden Fällen, in Abu Simbel wie in Bamiyan ist deutlich geworden: die UNESCO istdieWeltinstanz zur Wahrung unseres gemeinsamen kulturellen Erbes. Und sie hat mitgeholfen dazu, dass wir heute alle spüren: Es gibt ein gemeinsames Weltkulturerbe und das darf, wenn es um Schutz oder Hilfe geht, nicht die Angelegenheit des jeweiligen Staates sein, auf dessen Gebiet das Erbe sich befindet.

Gerade weil es immer wieder Rückschläge gibt, müssen wir versuchen, uns zu verständigen über die Unterschiede der Kulturen und über die Gemeinsamkeiten. Für mich ist eine der wichtigsten außenpolitischen Aufgaben der Dialog der Kulturen. Und ich bin fest davon überzeugt, nur wenn wir den führen, können wir bestehende Konflikte lösen und verhindern, dass sich an den Bruchlinien von Religionen und Kulturen neue Spannungen gewaltsam entladen.

Inzwischen ist dieser Dialog eine feste Einrichtung geworden. Zwölf Staatsoberhäupter aus dem westlichen und aus dem islamischen Kulturkreis unterstützen gemeinsam wissenschaftliche Arbeiten in ihren Ländern die mithelfen sollen, Vorurteile abzubauen und Konflikten vorzubeugen.

Dieser Dialog will Mut machen. Die Geschichte gewalttätiger Konflikte ist kein unentrinnbares Schicksal und der Crash der Zivilisation ist nicht vorherbestimmt, ist nicht zwangsläufig.

Gustav Heinemann hat einmal gesagt, das Wort zwangsläufig ist eine atheistische Kategorie. Mir hat das gut gefallen.

V. Wo wir das Gespräch, wo wir die Begegnung und den kulturellen Austausch suchen, da gibt es eine Chance der Verständigung. 1978 hat die UNESCO eine Erklärung über Rasse und über Rassenvorurteile verabschiedet. In der steht der Satz: "Alle Menschen haben das Recht anders zu sein." Zwanzig Jahre später wurde dieser Satz, leicht abgewandelt, zum Motto des europäischen Jahres gegen Rassismus: "Alle sind gleich, alle sind anders."

Ich finde, dass es sich für dieses Ziel zu streiten lohnt:

VI. Am Anfang des neuen Jahrtausends bleibt die UNESCO ihren Zielen verpflichtet - aber sie macht sich gleichzeitig zu neuen Ufern auf. Wir in Deutschland wollen sie dabei auch in Zukunft unterstützen. Und ich bin froh darüber, dass wir Deutschen heute, nach Japan, der zweitwichtigste Beitragszahler der UNESCO sind. Wir verdanken ihr viel und wir sind davon überzeugt, dass wir eine starke UNESCO brauchen, eine UNESCO die von der ganzen Staatengemeinschaft unterstützt wird.

Und so wünsche ich Ihnen alles Gute und viel Erfolg bei dem Bemühen, Brücken zu schlagen zwischen den Menschen. Seien Sie noch einmal ganz herzlich hier im Bellevue willkommen.