Redner(in): Johannes Rau
Datum: 4. September 2001
Anrede: Sehr geehrter Herr Premierminister,sehr geehrte Frau Bundesministerin,sehr geehrte Minister,sehr geehrter Herr Kommissar,sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin,sehr geehrter Herr Vorsitzender,sehr geehrter Herr Generaldirektor,meine Damen und Herren!
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/09/20010904_Rede.html
I. Lieber Dr. Pinstrup-Andersen, in der vergangenen Woche sind Sie als "World Food Prize Laureate" des Jahres 2001 geehrt worden. Zu dieser hohen Auszeichnung gratuliere ich Ihnen herzlich.
Die Wissenschaft und die Forschung haben uns in den letzten einhundert Jahren technische Fortschritte gebracht, die niemand vorher für möglich gehalten hat.
Jules Vernes phantastische Romane zum Beispiel sind längst Wirklichkeit geworden, ja sie haben die Wirklichkeit sogar überholt. Heute ist es keine Sensation mehr, in 80 Tagen um die Welt zu reisen. Heute erregt nicht einmal mehr ein Flug zum Mond große Aufmerksamkeit. Manche versprechen sich vom Weltraumtourismus ein Riesengeschäft.
Heute sind es multinationale Unternehmen und nicht Königreiche, in denen die Sonne nicht untergeht. Heute werden in jeder Sekunde Milliardenbeträge rund um den Globus gejagt. Das alles ist völlig selbstverständlich geworden.
Damit ist auch ein globales Bewusstsein entstanden, wie man sagt. Ein Bewusstsein weltweiter Verantwortung. Wenn es irgendwo auf der Welt eine Naturkatastrophe gibt, eine Überschwemmung oder eine Sturmflut oder monatelange Dürre, dann sind wir gern bereit zu spenden, um die größte Not zu lindern. Das ist richtig, das muss auch so bleiben.
II. Aber bei allen Fortschritten, die wir erreicht haben, haben wir es bis heute nicht geschafft, den Hunger auf der Welt zu besiegen. Die Zahlen sprechen eine deutliche, eine erschreckende Sprache. Den Angaben der FAO ( Food and Agricultural Organisation ) zufolge, und wir haben es eben, Herr Vorsitzender, von Ihnen gehört,
Und wenn man jetzt ausrechnete, wie viel Menschen während meiner Rede sterben werden, dann möchte man nicht weitersprechen. 24.000 Hungertote jeden Tag - das heißt, Frau Oberbürgermeisterin, eine Stadt wie Bonn wäre innerhalb von 14 Tagen ausgestorben. Die Zahlen sind alarmierend, aber sie alarmieren uns nicht, man liest und hört wenig darüber. Oder man hört darüber hinweg. Das hat einen einfachen Grund: Das Normale, das Alltägliche ist für die Medien uninteressant. Offenbar haben wir uns als Weltgesellschaft daran gewöhnt, dass jeden Tag 18.000 Kinder unter fünf Jahren verhungern. Aber das ist nicht normal. Das ist kein unveränderbares Schicksal. Das können wir ändern.
Manchmal gewinnt man den Eindruck, wir hätten resigniert und den Kampf gegen den Hunger auf der Welt schon aufgegeben. Die Teilnehmer der Welternährungskonferenz von 1974 haben noch geglaubt, den Hunger innerhalb von zehn Jahren besiegen zu können. Dieser Optimismus ist verflogen.
Die erste Frage, die sich mir und anderen stellt, lautet: Warum ist der Hunger nicht verschwunden? Ist nicht genug getan worden, oder ist das Falsche getan worden?
Zunächst muss man festhalten, dass bei der Bekämpfung des Hungers doch einige Erfolge erzielt worden sind. die Verbesserung der Wasserversorgung in der Kilimandscharo-Region Kenias, ein Kleinstkredite-Programm in Bangladesch, den Schutz der einzigartigen natürlichen Ressourcen im Norden Malawis. das Promotoren-Modell, mit dem das Land Nordrhein-Westfalen die Bildungs- und Informationsarbeit der Eine-Welt-Gruppen hier bei uns fördert. Diese Initiative steht für eine Vielzahl nicht-staatlicher Organisationen, denen ich ausdrücklich für ihre engagierte Arbeit danken möchte.
III. All unsere Anstrengungen reichen aber offensichtlich nicht aus. Und darum drängt sich mir die zweite Frage auf: Ist das Problem überhaupt lösbar, können wir das ehrgeizige Ziel erreichen, das sich der Welternährungsgipfel 1996 gestellt hatte, nämlich die Zahl der Hungernden bis zum Jahr 2015 um die Hälfte zu verringern?
Mir scheint eine positive Antwort auf diese Frage immer noch möglich, aber dafür sind immense Anstrengungen notwendig. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung spricht davon, dass die Verdoppelung der Nahrungsmittelproduktion innerhalb der nächsten fünfundzwanzig Jahre nötig wäre, um das Ziel zu erreichen.
Viel wird davon abhängen, ob es gelingt, die landwirtschaftliche Produktivität noch zu steigern. Ich kenne die Empfehlung der Vereinten Nationen, hierzu auch Biotechnologie als Instrument und als Hilfsmittel einzusetzen. Aber ich weiß auch, dass diese Methoden keinesfalls unumstritten sind. Die Diskussionen unter den Fachleuten und den Politikern über die Auswirkungen großflächigen Anbaus gentechnisch modifizierten Saat und Pflanzenguts sind noch nicht beendet.
Es wird wichtig sein, die 400 Millionen Kleinbauern zu beraten und zu fördern. Denn von ihrer Arbeit vor Ort hängt der Erfolg entscheidend ab. Es bleibt auch nötig, ein übergroßes Bevölkerungswachstum einzudämmen, denn nur so kann die wachsende Umweltzerstörung und kann die Verknappung von Nahrungsmitteln gestoppt werden.
Aber noch mehr hängt von unserer Bereitschaft ab, bisher gültige Handelsregeln zu ändern. Das heißt in erster Linie, dass wir unsere Märkte weiter öffnen müssen. Wir müssen auch mehr Geld für die Entwicklungszusammenarbeit bereitstellen.
Ich freue mich über die Initiative der Europäische Union, die unter der Kurzform "Alles außer Waffen" bekannt geworden ist. Sie wird neunhundert landwirtschaftliche Produkte für die am wenigsten entwickelten Länder von Einfuhrzöllen befreien.
Für halte ich den Beschluss der G7 / G8 bei ihrem Treffen in Genua für ermutigend. Sie wollen bei der 4. WTO-Ministerkonferenz in Qatar darauf hinarbeiten, dass die Bedürfnisse der Entwicklungsländer maßgeblich, also stärker als bisher, berücksichtigt werden. Vor allem die Märkte für Produkte aus den Entwicklungsländern sollen weiter geöffnet werden. Auch die Fortschritte bei der Verwirklichung der Kölner Entschuldungshilfe sind gewiss positiv zu sehen. Sie hat bisher ein Volumen von dreiundfünfzig Milliarden US Dollar, an ihr nehmen gegenwärtig dreiundzwanzig hochverschuldete Länder teil.
IV. Ein Erdteil bereitet uns allen Sorge: Afrika. Dieser Kontinent gilt vielen als hoffnungsloser Fall. Es gibt zwar in Asien mehr chronisch Hungernde, aber das Ausmaß des Hungers ist in den Ländern Afrikas südlich der Sahara eindeutig am größten.
Afrika, das ist einer der potentiell reichsten Erdteile und zugleich der ärmste Kontinent, so schreiben es die Autoren der Neuen Afrikanischen Initiative.
In Afrika leben 340 Millionen Menschen in extremer Armut. Diese 340 Millionen Menschen müssen mit weniger als einem Dollar pro Tag, pro Person auskommen. Da ist kein Fortschritt eingetreten, die Lage hat sich entweder verschlimmert, oder sie stagniert. Hier ist die Gesamtzahl der Hungernden und ihr prozentualer Anteil an der Bevölkerung gestiegen.
Afrika ist der Erdteil mit den geringsten Ernteerträgen.
Hunger, das wissen Sie alle, Sie wissen es besser als ich, hat viele Ursachen. Krieg, ethnisch bedingte Konflikte sind gewiss die schwerwiegendsten. Afrika war und ist der Schauplatz vieler militärischer Auseinandersetzungen, da haben Millionen von Menschen ihr Leben verloren, und noch viel mehr wurden und werden ihrer Lebenschancen beraubt.
Da hatten viele Jahre sogenannte Stellvertreterkriege getobt, das war ein Ausfluss des Ost-West-Konfliktes. Der Westen ist nicht frei von Schuld. Jahrzehntelang hat er um angeblicher Stabilität willen in Zaire einen Diktator unterstützt, der eines der reichsten Länder ausgeplündert hat wie selten ein Politiker in der Geschichte der Menschheit überhaupt. Ich will aber auch auf die unverantwortliche Regierungspolitik in einem Land des südlichen Afrika heute hinweisen, die gute Chancen verschüttet, die Ernährungsgrundlage der Bevölkerung zu stabilisieren.
Und hinzu kommt, dass bis vor kurzem Afrika noch als "der vergessene Kontinent" erschien. Das hat sich glücklicherweise geändert. Da denke ich an den Genua-Plan der G7 / G8, mehr noch denke ich an die Neue Afrikanische Initiative, die ich soeben zitiert habe. Die Neue Afrikanische Initiative geht auf Ideen der Präsidenten Südafrikas, Algeriens, Nigerias und des Senegal zurück. Sie umfasst also das englischsprachige genauso wie das arabische und das frankophone Afrika. Präsident Mbeki sieht, so hat er mir bei unserem Gespräch im Juni 2001 gesagt, innerstaatliche Reformen hin zu Demokratie und Rechtsstaat als Voraussetzungen für eine erfolgreiche Entwicklungspolitik im weitesten Sinn. Die Verfasser der Initiative wollen die regionale Integration und Kooperation stärken. Ich glaube, das ist ein vielversprechender Ansatz. Hunger und Armut sind ja auch - und manchmal in erster Linie - politische Probleme, und die müssen mit politischen Mitteln angegangen werden. Darum finde ich es richtig, dass sich die G7 / G8 in Genua zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit den Staaten dieser Initiative bereit erklärt haben und dass sie sie unterstützen.
V. Sie sehen, auf internationaler Ebene sind also positive Ansätze da. Ich wäre froh, wenn auch bei uns noch mehr geschähe. Dem international vereinbarten 0,7 Prozent-Ziel sind wir seit Jahrzehnten leider nicht näher gekommen. Das ist kein gutes Zeugnis für uns. Ich finde, dass wir uns dringend auf dieses Ziel zubewegen müssen.
Es gibt Fortschritte in den letzten Jahren beim Kampf gegen die Verletzung der Menschenrechte. Es gibt Fortschritte beim Umweltschutz.
Diese Fortschritte sind auch deshalb möglich geworden, weil diese Themen in der nationalen und in der internationalen Öffentlichkeit inzwischen fest verankert sind.
Dass Verbrechen gegen die Menschenrechte geahndet werden, das ist auch eine Konsequenz des Drucks durch die internationale Öffentlichkeit.
Inzwischen haben Menschenrechte und Umweltschutz ihre Lobby in der ganzen Welt, aber die Bekämpfung der Armut und des Hungers hat das noch nicht.
Es muss noch viel stärker ins öffentliche Bewusstsein, dass weltweite Armut und weltweiter Hunger ein Skandal sind, den wir nicht hinnehmen dürfen.
In der Präambel der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" heißt es, und nun zitiere ich,"dass die der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnende Würde... die Grundlage... des Friedens in der Welt bildet." Soweit das Zitat. Ein Mensch, der hungert, ist in seiner Würde verletzt. Und damit sich das ändert, darum muss der Kampf gegen Hunger und Armut weltweit auf Platz Eins der politischen Tagesordnung.
Ich hoffe, dass Ihre Konferenz hier in Bonn dafür wichtige Impulse gibt. Sie sollten mehr bewirken als den Verbrauch von Holz, Wasser und Farbe für den Druck eines weiteren Konferenzdokuments. So wichtig das ist, es gibt Wichtigeres. Ich wünsche Ihnen eine gute, eine erfolgreiche Konferenz.