Redner(in): Johannes Rau
Datum: 11. September 2001
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/09/20010911_Rede.html
Frau Staatspräsidentin, verehrte Gäste,
ich hatte Sie eingeladen, anlässlich meines Staatsbesuchs hierher zu kommen, ein heiteres und beschwingtes Konzert zu hören, damit wir uns miteinander freuen an der deutsch-finnischen Freundschaft in europäischer Verbundenheit. Aber dieser Tag hat die Welt verändert.
Ein schreckliches Ereignis, dessen Ausmaß wir noch nicht kennen. Wir hören Zahlen von Toten, aber ob die Zahlen 3- oder 4-stellig sind, ob man die Täter ergreift, ob man Mittel gegen den Terror findet, das Leid, das heute über Menschen gekommen ist, ist nie ungeschehen zu machen.
Wir wissen nicht, welche politischen, welche gesellschaftlichen Auswirkungen das hat, was heue geschehen ist und was wir auf den Fernsehschirmen gebannt und erschrocken und, kaum des Nachdenkens fähig, verfolgen.
Wir denken an Mütter, die ihre Kinder verloren haben, wir denken an Kinder, die ihre Eltern nie wiedersehen und wir wissen, in den nächsten Wochen werden die Bilder und die Nachrichten darüber rund um die Welt gehen. Und irgendwann wird der Alltag uns dann wieder einholen.
Ich fürchte, das wird schneller geschehen, als uns jetzt im Schrecken bewusst ist. Aber fröhliche Gesänge passen nicht zu diesem Abend. Darum bitte ich Sie herzlich um Verständnis. Wir möchten jetzt an die Menschen denken, die Leid tragen und an die Menschen, die Gewissheit suchen über das Schicksal ihrer Angehörigen.
Die Gruppe, die wir mitgebracht haben, damit sie uns mit Musik erfreut, wird gleich einen Trauergesang anstimmen, der stammt aus dem Mittelalter. Er erinnert uns daran: Das Leid ist nicht neu, das Leid hat die Menschen immer begleitet.
Die Nachricht, die uns diese Leidensgesänge vermitteln wollen, ist älter als das Mittelalter und älter als unser Leben. Diese Nachricht heißt: Hass zerstört die Welt und Hass vernichtet Menschen. Darum geht es überall, in Finnland und in Deutschland, in Europa und in Amerika, im Nahen Osten und im fernen Asien: Dem Hass zu widerstehen und der Nächstenliebe Raum zu schaffen. Wer nicht hasst, sagt auch Nein zur Gewalt. Wer Nein zu Gewalt sagt, macht das Leben unserer Kinder erst möglich.
Wo immer unsere Gedanken sein werden, wenn wir in den nächsten Minuten ernste Musik hören, ob wir mit unseren Gedanken oder ob wir mit unseren Gebeten die Menschen zu erreichen versuchen, die jetzt Leid tragen, wir sollten uns an diesem Abend versprechen, dass wir und unsere Völker so in Freundschaft zusammenstehen, wie wir das in den letzten Jahren und Jahrzehnten gelernt und gern getan haben.
Für 20 Uhr habe ich Sie und viele Gäste zu einem Empfang gebeten, der auch der fröhlichen Begegnung untereinander gelten sollte. Ich bitte Sie um Verständnis dafür, dass ich angesichts der ungezählten Toten und des schrecklichen Geschehens von heute nicht selber zu diesem Empfang komme und ich kann alle verstehen, die dann an die Fernsehgeräte gehen wollen und sehen wollen, was geschehen ist und wie das Leben weitergehen kann.
Umso dankbarer bin ich dafür, dass viele finnische Gäste dem Chef des Bundespräsidialamtes und dem Botschafter der Bundesrepublik bei diesem Empfang begegnen werden und ich bitte Sie, diese beiden Herren für meine Stellvertreter an diesem Abend zu halten, wenn Sie verstehen, wie mir jetzt ums Herz ist.
Ich danke Ihnen allen für die Helligkeit dieser Tage und Ihrer freundschaftlichen Gastfreundschaft. Wir sollten uns versprechen, dass wir auch in dunklen Stunden und an dunklen Tagen einander nicht aus dem Blick verlieren, sondern einander beistehen. Wir wünschen den Leidtragenden, dass sie Trost finden und wir versprechen, für den Frieden einzustehen, gegen Gewalt und gegen Hass. Ich danke Ihnen.