Redner(in): Johannes Rau
Datum: 20. September 2001

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/09/20010920_Rede.html


Meine Damen und Herren, vielen wird es so gehen wie mir, dass die Gedanken bei den Bildern sind, die sich eingeprägt und eingebrannt haben seit neun Tagen, dass man ratlos ist und helfen möchte, dass man nicht weiß, ob man die richtigen Worte findet.

Ich bin dankbar dafür, dass gestern eine so gute und besonnene Debatte im deutschen Parlament gehalten wurde und dass eine so gute und besonnene Entscheidung gefallen ist. Ich denke, dass wir miteinander vor großen Herausforderungen stehen, von denen ich hoffe, dass wir sie gemeinsam annehmen und bewältigen werden.

Ich habe versucht, am Freitag der vergangenen Woche bei der Kundgebung in Berlin von Solidarität zu sprechen und gleichzeitig von dem, was jetzt geschehen muss, damit Hass uns nicht blendet und wir dennoch entschlossen und solidarisch handeln.

I. Ortega y Gasset, der spanische Philosoph hat einmal gesagt, vier Fünftel des "geistigen Besitzes" seien allen Europäern gemeinsam, nur ein Fünftel variiere mit dem jeweiligen Vaterland. Ich habe das nicht nachgerechnet, aber dass den Schwachen und Hilfsbedürftigen zur Seite zu stehen eine der großen gemeinsamen Traditionen ist, die unsere europäische Identität ausmachen, das glaube ich auch.

Zum Bewährten, das es gemeinsam zu bewahren gilt, gehört das lebendige Zentrum jeder karitativen Arbeit: nämlich das freiwillige Ehrenamt. Wir haben verschiedene Formen der Professionalisierung und sie sind wichtig, sie dürfen uns aber niemals dazu verführen, dass wir soziale Arbeit nur noch delegieren oder bezahlen wollen. Staat und Gesellschaft bleiben hier aufeinander angewiesen.

Erst vor wenigen Monaten konnte ich zusammen mit Ministerpräsident Beck hier in Rheinland-Pfalz einen großen Europäer ehren, der in einem kleinen Moselstädtchen aufgewachsen ist: ich spreche von Nikolaus von Kues. Am Ende des Mittelalters hat er sich weitsichtig den Herausforderungen einer neuen Zeit gestellt. Er hat Grenzen, die bis dahin in der Naturwissenschaft und in der Theologie selbstverständlich waren, neu bedacht.

In seiner Heimatstadt steht bis heute ein Zeugnis sozialer Arbeit, das auf seine Initiative zurückgeht, ein frühes Modell von Pflegeversicherung und Altenhilfe: das Cusanus-Stift. Es gilt als das älteste Pflege- und Altenheim Deutschlands.

Für mich hat Cusanus damit schon im 15. Jahrhundert ein Zeichen gesetzt für Werte, die in Europa grenzübergreifend gelten: Menschen können ihre Arbeitskraft verlieren, sie können ihre Gesundheit verlieren oder die Möglichkeit, den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Aber eines verlieren sie nie: den Anspruch, als Menschen und nicht als Last behandelt zu werden.

II."Gestaltung des Sozialen - Herausforderung für Europa" : Unter diesem Motto finden auf Ihrem Kongress viele unterschiedliche Initiativen, Träger und Werke zusammen. Die Errungenschaften im Sozialbereich zu bewahren und sie für die Zukunft zu gestalten - das ist eine der drängendsten Herausforderungen, denen wir uns in Europa stellen müssen. Daher freue ich mich besonders darüber, dass Sie diese Tagung von vorne herein gemeinsam mit europäischen Partnern organisiert haben.

In den letzten vierzig Jahren haben wir in Europa eine wirtschaftliche und politische Einigung erzielt, die einzigartig ist und des Staunens wert. Gleichzeitig müssen wir aber feststellen, dass es bei vielen Bürgerinnen und Bürgern neben breiter Zustimmung zum europäischen Einigungsprojekt auch Skepsis, ja Misstrauen bis hin zu Ablehnung gibt. Das ist kein Wunder. Allzu oft ist versäumt worden, die europäische Öffentlichkeit über Ziele und Inhalte bevorstehender Integrationsschritte zu informieren und sie an der politischen Debatte zu beteiligen.

Die Sorgen der Menschen in Europa hängen in hohem Maße auch mit den Fragen zusammen, die auf der Tagesordnung dieses Kongresses stehen.

III. Die Menschen können nur dann überzeugte Europäerinnen und Europäer werden, wenn sie erleben, dass die europäische Integration nicht auf Kosten von Solidarität und sozialer Gerechtigkeit geht. Dabei stehen wir vor der schwierigen Aufgabe, gleichzeitig auch wirtschaftliche Belange berücksichtigen zu müssen; und zwar so, dass sich die gefundenen Lösungen im globalen Zusammenhang bewähren.

Nun wird niemand im Ernst Einspruch dagegen erheben, dass knappe Mittel möglichst effizient genützt werden müssen. Soziale Arbeit, die ineffizient ist, wird keinen Bestand haben. Eine Ökonomie aber, die soziale Anliegen aus ihren Kalkulationen verbannt, funktioniert nicht auf Dauer.

Auf europäische Ebene übertragen heißt das: Ohne Wirtschaftlichkeit halten wir die Integration nicht durch. Ohne Menschlichkeit aber halten wir sie nicht aus. Das vereinigte Europa will im globalen Wettbewerb nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial erfolgreich sein.

IV. Die sozialen Dienste sind in Europa unterschiedlichen Trägern auf unterschiedliche Art anvertraut. Wir erleben, dass in manchen Ländern stärker auf staatliche Institutionen, in anderen mehr auf Verbände und freie Träger gesetzt wird; einige nehmen die Zivilgesellschaft besonders in die Pflicht, andere hoffen, dass der Wettbewerb zwischen gewerblichen Anbietern zu einem guten Ergebnis führt.

Die Vielfalt der Sicherungssysteme und die unterschiedlichen Modelle sozialer Arbeit sind ein großer Reichtum Europas, der uns die Chance bietet, voneinander zu lernen. Beim gegenwärtigen Stand der europäischen Integration besteht Konsens darüber, dass es weder wünschenswert noch sinnvoll ist, die unterschiedlichen Konzepte ohne Rücksicht auf nationale und regionale Besonderheiten zu vereinheitlichen. Das europäische Sozialmodell soll Ausdruck der bestehenden Vielfalt von Kulturen und Traditionen bleiben.

Deshalb müssen wir besonders sorgfältig darauf achten, dass dieser Konsens nicht schleichend untergraben wird. Diese Gefahr besteht, wenn Gesetze aus anderen Bereichen der europäischen Integration sich auf die Sozialpolitik auswirken. Die für das Gemeinwohl tätigen Organisationen sollten alle Möglichkeiten nutzen, auf die europäische Gesetzgebung Einfluss zu nehmen und frühzeitig auf Fehlentwicklungen aufmerksam zu machen.

V.

Auch wenn wir die unterschiedlichen sozialen Systeme Europas nicht vereinheitlichen wollen, so stehen sie doch längst im direkten Vergleich miteinander. Die Transparenz, die durch die Integration erreicht wird, führt zu einem Wettbewerb, den wir nützen können. Er dient den Menschen. Es muss uns alle interessieren, welche "besten Verfahren" sich dabei herauskristallisieren.

Wenn wir unterschiedliche Konzeptionen, sei es der Daseinsvorsorge, des Umgangs mit Obdachlosigkeit, der Gewaltprävention, der Stadtteilarbeit oder der Arbeitsmarktpolitik miteinander vergleichen, dann sollten wir uns allerdings nicht zu einer Art Rosinenpicken verleiten lassen.

Wer europaweit von den Initiativen seiner Nachbarn lernen möchte, der wird eben auch das erkennen: Modelle der sozialen Arbeit sind keine Module, die man einfach umstecken kann, sie sind vielmehr intensiv mit bestimmten nationalen oder regionalen Traditionen verwoben. Gelegentlich habe ich den Eindruck, dass manche - scheinbaren - Erfolgsrezepte zu leichtfertig in den Ring geworfen werden.

Es gibt eine beeindruckende Fülle von guten und erfolgreichen Initiativen sozialer Arbeit in Europa, die es zu Recht verdienten, auch außerhalb ihres Landes beachtet zu werden. Lassen Sie mich in diesem Sinne einige nur scheinbar kleine und beliebige Beispiele herausgreifen:

In der Behinderten- und Altenhilfe gilt, wie Sie wissen, in Deutschland der Grundsatz "ambulant vor stationär". Nun zeigt aber ein Blick auf die Praxis in diesem Bereich, dass die Ressourcen zu einem ganz überwiegenden Teil in die stationären Angebote fließen. Hier stellt sich die Frage: Wäre einem beachtlichen Teil der über 800 000 behinderten, alten oder pflegebedürftigen Heimbewohner nicht möglicherweise besser geholfen, wenn sie qualifiziert ambulant versorgt würden?

Das darf nicht heißen, die Arbeit von Pflegekräften in Heimen in Misskredit zu bringen. Das wäre schlimm und falsch. Es geht aber um die Frage, ob unsere Art, alten und behinderten Menschen zu helfen, auch wirklich die beste ist.

Schweden zum Beispiel hat offenbar gute Erfahrungen damit macht, geistig behinderte Menschen in aller Regel nicht in Heimen unterzubringen. Bei unssind über 80 Prozent der Behinderten stationär untergebracht. Nach Schätzungen der Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe könnte fast jeder fünfte von ihnen bei guter Betreuung auch selbstständig leben.

Ein weiterer Bereich, in dem wir, wie ich meine, von erfolgversprechenden Ansätzen bei unseren Nachbarn profitieren können, betrifft das Spannungsverhältnis von Arbeitsmarkt und Arbeitslosigkeit. Darüber ist in der Bundesrepublik in den letzten Jahren unter den Stichworten "Arbeit statt Sozialhilfe" oder "Integrierte Hilfe zur Arbeit" diskutiert worden und es gibt erfolgreiche Beispiele dafür in vielen Städten und Kreisen.

Unstrittig ist: Sozialhilfeempfänger, die erwerbsfähig sind, können nur dann wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden, wenn sich ihre Lage umfassend stabilisiert, wenn wir also auch soziale und psychische Faktoren berücksichtigen.

Für eine innovative Arbeitsmarktpolitik ist das ohne Zweifel eine große Herausforderung und da hilft es, auf die Erfahrungen in europäischen Nachbarländern zu schauen. Nicht zufällig wird in den Debatten immer wieder auf das "angelsächsische", das "skandinavische" oder das "Schweizer Modell" des Sozialsystems verwiesen. Bei der Bewertung der verschiedenen Vorbilder dürfen wir indes eines nie aus dem Auge verlieren: Im Vordergrund steht immer der Mensch. Der ist stets mehr als ein Produktionsfaktor oder eine Variable im fiskalischen Kalkül.

Als letztes Beispiel dafür, dass es sich lohnt, über bestehende Grenzen hinaus zu schauen, möchte ich die Suchtprävention an unseren Schulen nennen. Lehrerinnen und Lehrer berichten mir, dass der Konsum von Cannabis bei den Jugendlichen zunimmt. Grund zur Sorge macht ihnen insbesondere, dass legale Drogen wie Alkohol gleichzeitig mit illegalen Drogen und sogenannten Partydrogen eingenommen werden. Die Jugendlichen zeigen sich hier in hohem Maß risikobereit.

Ich weiß, dass viele Kollegien sich sehr gewissenhaft mit der Problematik auseinandersetzen. Schulen regen an, in den Kommunen runde Tischen zu bilden, damit alle Verantwortlichen an einem Strang ziehen; in grenznahen Regionen suchen sie die Zusammenarbeit mit ihren Nachbarn. Immer mehr Städte und Gemeinden öffnen am Wochenende ihre kommunalen Sportstätten: Sie stellen sie den Jugendlichen nachts für Musik- und Spielveranstaltungen zur Verfügung. Eine gute Sucht- und Drogenprävention muss in den Kommunen ansetzen.

Ich würde mich freuen, wenn von diesem Kongress gerade auch in diesem Bereich die Botschaft ausginge: Wir können viel voneinander lernen. Das würde all jene ermutigen, die sich in der Suchtbekämpfung engagieren und es würde den betroffenen Jugendlichen zugute kommen.

VI. Die Vielfalt der hochentwickelten sozialen Systeme in Europa ist Ausdruck unserer europäischen Wertegemeinschaft. Zu Recht ist das "Europäische Sozialmodell" den Wirtschafts- und Sozialsystemen anderer großer Industrienationen immer wieder gegenüber gestellt worden.

Die Präambel der europäischen Charta der Grundrechte fasst diese Gemeinsamkeit in wenigen Worten zusammen. Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit werden hier als gemeinsame Werte aller Europäer genannt. Daneben steht das ausdrückliche Bekenntnis zur Achtung der Vielfalt der Kulturen und Traditionen Europas sowie der nationalen Identitäten.

Daher wird hier auch das Subsidiaritätsprinzip erwähnt: Die Europäische Gemeinschaft soll nur dann tätig werden, wenn sich ein Ziel oder Vorhaben auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht besser verwirklichen lässt. Subsidiarität wahrt die Rechte und Zuständigkeiten der nationalen Regierungen, der Regionen, der Sozialpartner, der Körperschaften, der Wirtschafts- und Wohlfahrtsverbände.

Die Subsidiarität in der Wohlfahrtspolitik ist ein Markenzeichen Europas. Wir können europäische Identität entwickeln, ohne unsere nationalen und regionalen Identitäten aufzugeben.

Das Europa der Zukunft muss mehr sein als eine stabile Währung - es wird sich auszeichnen durch Rücksicht auf die Schwächeren, durch Mitgefühl für jene, die der Hilfe bedürfen, durch Solidarität.

Wir haben schon Beachtliches erreicht. Wir müssen aber auf dem europäischen Weg noch weiter vorankommen. Wir wollen dem Euro eine soziale Prägung mitgeben, denn wir wissen: Nur ein soziales Europa werden die Bürgerinnen und Bürger als "ihr" Europa annehmen.

Das wünschen wir uns das wünschen wir ihnen.