Redner(in): Johannes Rau
Datum: 12. Oktober 2001
Anrede: Meine Damen und Herren,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/10/20011012_Rede.html
I. Ich möchte mich sehr herzlich bei Ihnen allen für Ihr Interesse an der Publikation "Friede als Ernstfall" bedanken. Als Professor Lutz sie zu Beginn dieses Jahres herausbrachte, konnten wir nicht ahnen, wie aktuell sie werden würde.
Es fällt nicht leicht, dass zu beschreiben, was wir seit vier Wochen erleben. Es geht nicht um Krieg, es ist, wie Erhard Eppler sagt,"Privatisierung der Gewalt".
Vor wenigen Tagen hat die Auseinandersetzung mit den Tätern und Hintermännern der terroristischen Anschläge von New York und Washington begonnen. Die amerikanische Regierung hat sie - entgegen mancher Erwartung - überlegt und mit Umsicht vorbereitet. Die USA haben ihr Handeln mit ihren Verbündeten abgestimmt und die Unterstützung der Vereinten Nationen gesucht und bekommen. Es gibt eine einstimmige Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen.
Wenn zur Kooperation die Konsultation kommt, wenn gemeinsames Handeln auch den Ausgleich von Interessen berücksichtigt, dann sind die Voraussetzungen gut, dass die Weltgemeinschaft dem Terrorismus nicht nur entschlossen, sondern auch dauerhaft gemeinsam entgegentritt und dass sie den Terrorismus erfolgreich bekämpft.
Wenn die Grundwerte unserer politischen und gesellschaftlichen Ordnung durch Gewalt bedroht sind und das habe ich gemeint, als ich am Brandenburger Tor von einem Anschlag auf unsere Zivilisation gesprochen habe, wenn der Dialog verweigert wird, dann müssen wir bereit sein, Gerechtigkeit und Frieden gegebenenfalls auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen - so schwer es vielen fallen mag, einem solchen Schritt zuzustimmen, mir auch.
Der Weg, den die Terroristen wählen, stellt uns vor völlig neuartige Herausforderungen. Zur Durchsetzung ihrer zerstörerischen Ziele bedienen sie sich der vielfältigen, modernen Möglichkeiten einer globalisierten Welt. Wenn dass so ist, dann muss die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus auf vielen Gebieten und mit unterschiedlichen Mitteln erfolgen: Unsere Anstrengungen müssen sich auf die Kommunikationsstränge und die Finanzierung der Täter richten, auf ihre Organisationsstrukturen und ihre Logistik.
In unseren Bemühungen, den Terrorismus zu bekämpfen, dürfen wir uns - in unserem nationalen wie internationalen Handeln - allerdings nicht dazu verleiten lassen, Demokratie und Menschenrechte einzuschränken. Die Beschränkung der Freiheit kann nicht der Preis ihrer Verteidigung sein.
II. Es gibt Menschen, die terroristischem Handeln einen geheimen Sinn unterschieben, ich sehe ihn nicht. Ich glaube nicht, dass es eine Philosophie gibt, die hinter dem Terror steht. Aber wir müssen Antworten auf die Frage finden: Was bewegt jene Menschen, die die terroristischen Angriffe billigen oder sie gar bejubeln? Dafür gibt es nicht die eine Erklärung. Wirtschaftliche Not alleine ist es sicher nicht, die Menschen zu solchen Verzweifelungstaten treibt oder die sie veranlasst, sie gut zu heißen.
Aber die Erfahrung, über das eigene Geschick nicht mehr bestimmen zu können - das ist es, was viele Menschen verzweifeln lässt. Es ist das Gefühl, dass die eigenen Bindungen, Überzeugungen und Werte nichts mehr gelten, dass sie hinweggefegt werden.
Hier setzt unsere Verantwortung an; hier liegt auch die Chance, etwas zu ändern.
Ich habe, anknüpfend an eine Initiative meines Amtsvorgängers, den Dialog zwischen den Kulturen immer für besonders wichtig gehalten und dazu aufgefordert, sich unvoreingenommen mit anderen Kulturen auseinander zusetzen. Er ist einer der zehn Wege zum Frieden, von denen in dem Buch die Rede ist, das Sie soeben genannt haben.
Ein solcher Dialog erfordert klare Grundsätze:
Wir müssen bereit sein, uns mit diesen Fragen auseinander zusetzen und gegebenenfalls Konsequenzen zu ziehen. Nur dann werden wir glaubwürdig bleiben. Wir müssen im Dialog der Kulturen auch darauf bestehen, dass Demokratie und Menschenrechte weltweit gelten, uneingeschränkt gelten und eben nicht Teil westlicher Ideologie sind, wie wir das gelegentlich selber zu sagen oder weiterzugeben scheinen.
Davon dürfen wir nicht ablassen: So unterschiedlich die Traditionen und Überlieferungen, die Überzeugungen und kulturellen Identitäten in einzelnen Regionen, Ländern oder bei einzelnen Völkern auch sein mögen - eines müssen sie doch gewährleisten: dass jeder Einzelne die Chance hat, auf sein Geschick und das seines Landes Einfluss zu nehmen. So unterschiedlich das auch organisiert sein mag. Und jeder Einzelne hat Anspruch auf persönliche Würde und Unversehrtheit.
III. Oft habe ich mich in diesen Tagen an ein Wort erinnert, das in dem Bericht steht, den die Nord-Süd-Kommission 1980 unter Leitung von Willy Brandt erarbeitet hat. Dort heißt es: "Noch nie hat die Menschheit über so vielfältige technische und finanzielle Ressourcen verfügt, um mit Hunger und Armut fertig zu werden. Die gewaltige Aufgabe lässt sich meistern, wenn der notwendige gemeinsame Wille mobilisiert wird." Der Satz ist einundzwanzig Jahre alt. Er ist jünger als der Satz von Albert Einstein: "Wir leben in einer Zeit perfekter Mittel und verwirrter Ziele", aber er hat genau so wenig von seiner Aktualität verloren.
Nächste Woche soll ich zum Welternährungstag vor der FAO in Rom sprechen. Noch immer verhungern täglich vierundzwanzigtausend Menschen, darunter achtzehntausend Kinder unter fünf Jahren.
Zwanzig Jahre später müssen wir feststellen, dass wir diese Ressourcen eben nicht ausreichend genutzt haben. Der Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt unserer Länder hat sich eben nicht auf jene 0,7 % zu bewegt, die wir uns alle, auch wir Deutschen, als Ziel gesetzt haben. In vielen Ländern ist die Tendenz eher rückläufig.
Andererseits: Können wir nicht auch von den reichen Länder des Südens erwarten, dass auch sie mehr als bisher die ärmeren Länder unterstützen?
Müssen wir nicht auch, stärker als bisher, die Regierungen vieler dieser Länder an ihre Verpflichtung erinnern, die sozialen Probleme ihrer Länder auch selber anzupacken? Oft genug stehen ihnen hierfür nicht geringe Mittel zur Verfügung und setzen sie nicht ein.
IV. Entwicklungshilfe ist Friedenspolitik. Durch vorbeugendes Handeln können wir Spannungen abbauen, friedliche Entwicklungen fördern und all diejenigen ermutigen und unterstützen, die dem Frieden verpflichtet sind.
Friede ist immer auch ein dynamischer, zielgerichteter Prozess. Friede ist nur dann dauerhaft, wenn ständig faire Kompromisse geschlossen und unterschiedliche Interessen ausgeglichen werden. Friede entsteht nicht erst dann, wenn Interessen identisch sind.
Als Gustav Heinemann vom "Frieden als dem Ernstfall" sprach, war die Welt in der Konfrontation gewaltiger Machtblöcke und Militärpotentiale erstarrt. Heute zeichnen sich Konturen einer ganz neuen Ordnung jenseits der alten Konfrontationslinien ab, aber ich glaube, dass sein Wort unverändert gilt: Nicht der Krieg ist der Ernstfall, der Friede ist der Ernstfall, in dem wir uns alle zu bewähren haben, weil es hinter dem Frieden keine Existenz mehr gibt."
Ich bin zuversichtlich, dass es uns gelingen wird, gegen den Terrorismus den Anspruch aller Menschen durchzusetzen, in Frieden und Gerechtigkeit zu leben. Das wird uns die Chance geben, sich im Sinne der Worte Gustav Heinemanns zu bewähren: den Frieden zu gestalten.
Das ist eine Gestaltungsaufgabe, zu der man einem langen Atem, viele Verbündete braucht.